Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Zweiter Abschnitt. als der über den See einherschreitende Jesus sich zu er-kennen giebt, ihn um die Erlaubniss bittet, zu ihm über das Wasser hingehen zu dürfen: so wirft er sich hier, sobald der am Ufer stehende Jesus erkannt ist, in das Wasser, um auf dem kürzesten Wege schwimmend zu ihm zu gelangen. Da auf diese Weise, was in jener früheren Erzählung ein wunderbares Wandeln auf dem Meere, in der vorliegenden in Bezug auf Jesum ein wunderloses Ste- hen am Ufer, in Bezug auf den Petrus aber ein natürli- ches Schwimmen ist, somit die leztere Geschichte fast wie eine rationalistische Paraphrase der ersteren lautet: so hat es nicht an solchen gefehlt, welche wenigstens von der pe- trinischen Anekdote im ersten Evangelium behaupteten, dass sie eine traditionelle Umbildung des Zugs Joh. 21, 7. in's Wunderhafte sei 22). Diese Vermuthung auch auf das Meerwandeln Jesu auszudehnen, wird die jetzige Kritik dadurch abgehalten, dass diesen Zug das als apostolisch vorausgesezte vierte Evangelium selbst in der früheren Er- zählung hat; wogegen wir auf unserem Standpunkt es gar wohl möglich finden werden, dass demselben vierten Evangelisten dieselbe Geschichte in zwiefacher Form zu Ohren gekommen, und von ihm an verschiedenen Orten seiner Erzählung einverleibt worden sei. Indessen, wenn beide Geschichten verglichen werden sollen, so dürfen wir nicht schon zum Voraus die eine, Joh. 21., als die ur- sprüngliche, die andere, Matth. 14. parall., als die abge- leitete setzen, sondern müssen erst fragen, welche von bei- den sich eher zum Einen oder Andern eigne? Allerdings nun, wenn wir dem bewährten Kanon folgen, dass die wunderhaftere Erzählung die spätere sei, so erscheint die von Joh. 21. in Bezug auf die Art, wie Jesus in die Nähe der Jünger, und Petrus zu ihm gelangt, als die ursprüng- liche. Aber aufs Engste hängt mit jenem Kanon der an- 22) Schneckenburger, über den Urspr. S. 68.
Zweiter Abschnitt. als der über den See einherschreitende Jesus sich zu er-kennen giebt, ihn um die Erlaubniſs bittet, zu ihm über das Wasser hingehen zu dürfen: so wirft er sich hier, sobald der am Ufer stehende Jesus erkannt ist, in das Wasser, um auf dem kürzesten Wege schwimmend zu ihm zu gelangen. Da auf diese Weise, was in jener früheren Erzählung ein wunderbares Wandeln auf dem Meere, in der vorliegenden in Bezug auf Jesum ein wunderloses Ste- hen am Ufer, in Bezug auf den Petrus aber ein natürli- ches Schwimmen ist, somit die leztere Geschichte fast wie eine rationalistische Paraphrase der ersteren lautet: so hat es nicht an solchen gefehlt, welche wenigstens von der pe- trinischen Anekdote im ersten Evangelium behaupteten, daſs sie eine traditionelle Umbildung des Zugs Joh. 21, 7. in's Wunderhafte sei 22). Diese Vermuthung auch auf das Meerwandeln Jesu auszudehnen, wird die jetzige Kritik dadurch abgehalten, daſs diesen Zug das als apostolisch vorausgesezte vierte Evangelium selbst in der früheren Er- zählung hat; wogegen wir auf unserem Standpunkt es gar wohl möglich finden werden, daſs demselben vierten Evangelisten dieselbe Geschichte in zwiefacher Form zu Ohren gekommen, und von ihm an verschiedenen Orten seiner Erzählung einverleibt worden sei. Indessen, wenn beide Geschichten verglichen werden sollen, so dürfen wir nicht schon zum Voraus die eine, Joh. 21., als die ur- sprüngliche, die andere, Matth. 14. parall., als die abge- leitete setzen, sondern müssen erst fragen, welche von bei- den sich eher zum Einen oder Andern eigne? Allerdings nun, wenn wir dem bewährten Kanon folgen, daſs die wunderhaftere Erzählung die spätere sei, so erscheint die von Joh. 21. in Bezug auf die Art, wie Jesus in die Nähe der Jünger, und Petrus zu ihm gelangt, als die ursprüng- liche. Aber aufs Engste hängt mit jenem Kanon der an- 22) Schneckenburger, über den Urspr. S. 68.
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Zweiter Abschnitt.
als der über den See einherschreitende Jesus sich zu er-
kennen giebt, ihn um die Erlaubniſs bittet, zu ihm über
das Wasser hingehen zu dürfen: so wirft er sich hier,
sobald der am Ufer stehende Jesus erkannt ist, in das
Wasser, um auf dem kürzesten Wege schwimmend zu ihm
zu gelangen. Da auf diese Weise, was in jener früheren
Erzählung ein wunderbares Wandeln auf dem Meere, in
der vorliegenden in Bezug auf Jesum ein wunderloses Ste-
hen am Ufer, in Bezug auf den Petrus aber ein natürli-
ches Schwimmen ist, somit die leztere Geschichte fast wie
eine rationalistische Paraphrase der ersteren lautet: so hat
es nicht an solchen gefehlt, welche wenigstens von der pe-
trinischen Anekdote im ersten Evangelium behaupteten, daſs
sie eine traditionelle Umbildung des Zugs Joh. 21, 7. in's
Wunderhafte sei 22). Diese Vermuthung auch auf das
Meerwandeln Jesu auszudehnen, wird die jetzige Kritik
dadurch abgehalten, daſs diesen Zug das als apostolisch
vorausgesezte vierte Evangelium selbst in der früheren Er-
zählung hat; wogegen wir auf unserem Standpunkt es
gar wohl möglich finden werden, daſs demselben vierten
Evangelisten dieselbe Geschichte in zwiefacher Form zu
Ohren gekommen, und von ihm an verschiedenen Orten
seiner Erzählung einverleibt worden sei. Indessen, wenn
beide Geschichten verglichen werden sollen, so dürfen wir
nicht schon zum Voraus die eine, Joh. 21., als die ur-
sprüngliche, die andere, Matth. 14. parall., als die abge-
leitete setzen, sondern müssen erst fragen, welche von bei-
den sich eher zum Einen oder Andern eigne? Allerdings
nun, wenn wir dem bewährten Kanon folgen, daſs die
wunderhaftere Erzählung die spätere sei, so erscheint die
von Joh. 21. in Bezug auf die Art, wie Jesus in die Nähe
der Jünger, und Petrus zu ihm gelangt, als die ursprüng-
liche. Aber aufs Engste hängt mit jenem Kanon der an-
22) Schneckenburger, über den Urspr. S. 68.
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