Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung.
sten, was kaum viele Worte zuläßt, haben wir
mit Kunst einen Götzen der vollständigsten Thor-
heit geschnitzt, und es im ausgeführten System
so weit gebracht, daß wir durch Beobachtung,
Philosophie und Natur uns von allem Mensch-
lichen und Natürlichen auf unendliche Weite ent-
fernt haben. Nicht genug, daß man die Kin-
der fast von der Geburt mit Eitelkeit verdirbt,
man ruinirt auch die wenigen Schulen, die etwa
noch im alten Sinn eingerichtet waren; man
zwingt die Kinder im siebenten Jahr, zu lernen,
wie sie Scheintodte zum Leben erwecken sollen,
man verschreibt Erzieher aus den Gegenden, in
welchen diese Produkte am besten gerathen; ja
die Staaten selbst verbieten das Buchstabiren,
und machen es zur Gewissenssache, das Lesen
anders als auf die neue Weise zu erlernen, und
fast alle Menschen, selbst die bessern Köpfe nicht
ausgenommen, drehen sich im Schwindel nach
diesem Orient, um von hier den Messias und
das Heil der Welt baldigst ankommen zu sehn;
aber gewiß, nach zwanzig Jahren verspotten wir
aus einer neuen Thorheit heraus diese jetzige.
Dies sind auch nur Schildwachen, die sich ablö-
sen, und so viel neue Figuren auch kommen, so
bleiben sie doch immer auf derselben Stelle wan-
deln. Jeder Mensch hat etwas, das seinen Zorn
erregt, und ich gestehe, ich bin meist so schwach,
daß die Pädagogik den meinigen in Bewegung
setzt.


Einleitung.
ſten, was kaum viele Worte zulaͤßt, haben wir
mit Kunſt einen Goͤtzen der vollſtaͤndigſten Thor-
heit geſchnitzt, und es im ausgefuͤhrten Syſtem
ſo weit gebracht, daß wir durch Beobachtung,
Philoſophie und Natur uns von allem Menſch-
lichen und Natuͤrlichen auf unendliche Weite ent-
fernt haben. Nicht genug, daß man die Kin-
der faſt von der Geburt mit Eitelkeit verdirbt,
man ruinirt auch die wenigen Schulen, die etwa
noch im alten Sinn eingerichtet waren; man
zwingt die Kinder im ſiebenten Jahr, zu lernen,
wie ſie Scheintodte zum Leben erwecken ſollen,
man verſchreibt Erzieher aus den Gegenden, in
welchen dieſe Produkte am beſten gerathen; ja
die Staaten ſelbſt verbieten das Buchſtabiren,
und machen es zur Gewiſſensſache, das Leſen
anders als auf die neue Weiſe zu erlernen, und
faſt alle Menſchen, ſelbſt die beſſern Koͤpfe nicht
ausgenommen, drehen ſich im Schwindel nach
dieſem Orient, um von hier den Meſſias und
das Heil der Welt baldigſt ankommen zu ſehn;
aber gewiß, nach zwanzig Jahren verſpotten wir
aus einer neuen Thorheit heraus dieſe jetzige.
Dies ſind auch nur Schildwachen, die ſich abloͤ-
ſen, und ſo viel neue Figuren auch kommen, ſo
bleiben ſie doch immer auf derſelben Stelle wan-
deln. Jeder Menſch hat etwas, das ſeinen Zorn
erregt, und ich geſtehe, ich bin meiſt ſo ſchwach,
daß die Paͤdagogik den meinigen in Bewegung
ſetzt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0055" n="44"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einleitung</hi>.</fw><lb/>
&#x017F;ten, was kaum viele Worte zula&#x0364;ßt, haben wir<lb/>
mit Kun&#x017F;t einen Go&#x0364;tzen der voll&#x017F;ta&#x0364;ndig&#x017F;ten Thor-<lb/>
heit ge&#x017F;chnitzt, und es im ausgefu&#x0364;hrten Sy&#x017F;tem<lb/>
&#x017F;o weit gebracht, daß wir durch Beobachtung,<lb/>
Philo&#x017F;ophie und Natur uns von allem Men&#x017F;ch-<lb/>
lichen und Natu&#x0364;rlichen auf unendliche Weite ent-<lb/>
fernt haben. Nicht genug, daß man die Kin-<lb/>
der fa&#x017F;t von der Geburt mit Eitelkeit verdirbt,<lb/>
man ruinirt auch die wenigen Schulen, die etwa<lb/>
noch im alten Sinn eingerichtet waren; man<lb/>
zwingt die Kinder im &#x017F;iebenten Jahr, zu lernen,<lb/>
wie &#x017F;ie Scheintodte zum Leben erwecken &#x017F;ollen,<lb/>
man ver&#x017F;chreibt Erzieher aus den Gegenden, in<lb/>
welchen die&#x017F;e Produkte am be&#x017F;ten gerathen; ja<lb/>
die Staaten &#x017F;elb&#x017F;t verbieten das Buch&#x017F;tabiren,<lb/>
und machen es zur Gewi&#x017F;&#x017F;ens&#x017F;ache, das Le&#x017F;en<lb/>
anders als auf die neue Wei&#x017F;e zu erlernen, und<lb/>
fa&#x017F;t alle Men&#x017F;chen, &#x017F;elb&#x017F;t die be&#x017F;&#x017F;ern Ko&#x0364;pfe nicht<lb/>
ausgenommen, drehen &#x017F;ich im Schwindel nach<lb/>
die&#x017F;em Orient, um von hier den Me&#x017F;&#x017F;ias und<lb/>
das Heil der Welt baldig&#x017F;t ankommen zu &#x017F;ehn;<lb/>
aber gewiß, nach zwanzig Jahren ver&#x017F;potten wir<lb/>
aus einer neuen Thorheit heraus die&#x017F;e jetzige.<lb/>
Dies &#x017F;ind auch nur Schildwachen, die &#x017F;ich ablo&#x0364;-<lb/>
&#x017F;en, und &#x017F;o viel neue Figuren auch kommen, &#x017F;o<lb/>
bleiben &#x017F;ie doch immer auf der&#x017F;elben Stelle wan-<lb/>
deln. Jeder Men&#x017F;ch hat etwas, das &#x017F;einen Zorn<lb/>
erregt, und ich ge&#x017F;tehe, ich bin mei&#x017F;t &#x017F;o &#x017F;chwach,<lb/>
daß die Pa&#x0364;dagogik den meinigen in Bewegung<lb/>
&#x017F;etzt.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[44/0055] Einleitung. ſten, was kaum viele Worte zulaͤßt, haben wir mit Kunſt einen Goͤtzen der vollſtaͤndigſten Thor- heit geſchnitzt, und es im ausgefuͤhrten Syſtem ſo weit gebracht, daß wir durch Beobachtung, Philoſophie und Natur uns von allem Menſch- lichen und Natuͤrlichen auf unendliche Weite ent- fernt haben. Nicht genug, daß man die Kin- der faſt von der Geburt mit Eitelkeit verdirbt, man ruinirt auch die wenigen Schulen, die etwa noch im alten Sinn eingerichtet waren; man zwingt die Kinder im ſiebenten Jahr, zu lernen, wie ſie Scheintodte zum Leben erwecken ſollen, man verſchreibt Erzieher aus den Gegenden, in welchen dieſe Produkte am beſten gerathen; ja die Staaten ſelbſt verbieten das Buchſtabiren, und machen es zur Gewiſſensſache, das Leſen anders als auf die neue Weiſe zu erlernen, und faſt alle Menſchen, ſelbſt die beſſern Koͤpfe nicht ausgenommen, drehen ſich im Schwindel nach dieſem Orient, um von hier den Meſſias und das Heil der Welt baldigſt ankommen zu ſehn; aber gewiß, nach zwanzig Jahren verſpotten wir aus einer neuen Thorheit heraus dieſe jetzige. Dies ſind auch nur Schildwachen, die ſich abloͤ- ſen, und ſo viel neue Figuren auch kommen, ſo bleiben ſie doch immer auf derſelben Stelle wan- deln. Jeder Menſch hat etwas, das ſeinen Zorn erregt, und ich geſtehe, ich bin meiſt ſo ſchwach, daß die Paͤdagogik den meinigen in Bewegung ſetzt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/55
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/55>, abgerufen am 02.06.2024.