Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

neinungen. Alles Leben und Wollen ist Selbst-Bejahung,
daher Bejahung oder Verneinung des Anderen, je nach
der Beziehung, in der es zum Selbst (als der Einheit von
Seele und Leib) stehen mag; wie es gefühlt und voraus-
gefühlt (d. i. begehrt oder verabscheut) wird, als gut oder
übel, freundlich oder feindlich, und in dem Maasse, in welchem
solches der Fall ist. Der ganze Inhalt aber unserer beson-
deren Natur oder unseres eigenthümlichen Selbst kann be-
stimmt werden als das, was wir können oder wessen wir
fähig sind -- als unsere reale Kraft, d. i., was wir gewollt
haben, und als Gewolltes haben, der ganze Zusammen-
hang unserer Instincte, Gewohnheiten und Gedächtnisse.
Und dieses gibt sich im einzelnen Wollen insbesondere
kund a) durch die unmittelbare (instinctive, vegetative)
Aeusserung der Gefühle, welche von ihnen nicht ver-
schieden ist: als Contraction oder Expansion der Leibes-
masse, wodurch das Individuelle am wenigsten zur Geltung
kommt, b) durch den Uebergang und die Verbreitung der
Gefühle in (Ausdrucks-)Bewegungen, Tönen, c) durch
ihre Erhöhung und Abklärung zu Urtheilen, als gesprochenen
oder nach Art von gesprochenen vorgestellten (gedachten)
Sätzen, wodurch das Individuelle am bedeutendsten sich
ausdrückt. Ferner aber offenbart sich Kraft und Natur
eines Menschen in dem, was objective seine Leistung ist:
die Realitäten davon sein Dasein und Wirken als Ursache
gedacht wird, d. i. sein Einfluss, seine Thaten und seine
Werke. D) Aus allen solchen Aeusserungen versucht man
das Innere oder das Wesen des Menschen zu erkennen.
Wenn dieses an und für sich, in seiner ihm nothwendigen
Action, nichts als blinder Trieb und Drang ist, so mani-
festirt sich derselbe doch anders im vegetativen, anders im
animalischen und mentalen Leben. Wenn in bedeutenden
und tiefen Zügen ausgeprägt, so nennen wir ihn dort
Leidenschaft, als den Drang zum Genusse, allgemeinen
"Lebensdrang", welcher seine grösste Energie als Zeugungs-
drang oder Wollust offenbart; so aber können wir ihn ferner,
als "Thatendrang" oder Lust zur Bethätigung animalischer
Kraft, Muth nennen, und definiren endlich den mentalen
"Schaffensdrang" oder die Lust, das in Gedächtniss oder

neinungen. Alles Leben und Wollen ist Selbst-Bejahung,
daher Bejahung oder Verneinung des Anderen, je nach
der Beziehung, in der es zum Selbst (als der Einheit von
Seele und Leib) stehen mag; wie es gefühlt und voraus-
gefühlt (d. i. begehrt oder verabscheut) wird, als gut oder
übel, freundlich oder feindlich, und in dem Maasse, in welchem
solches der Fall ist. Der ganze Inhalt aber unserer beson-
deren Natur oder unseres eigenthümlichen Selbst kann be-
stimmt werden als das, was wir können oder wessen wir
fähig sind — als unsere reale Kraft, d. i., was wir gewollt
haben, und als Gewolltes haben, der ganze Zusammen-
hang unserer Instincte, Gewohnheiten und Gedächtnisse.
Und dieses gibt sich im einzelnen Wollen insbesondere
kund a) durch die unmittelbare (instinctive, vegetative)
Aeusserung der Gefühle, welche von ihnen nicht ver-
schieden ist: als Contraction oder Expansion der Leibes-
masse, wodurch das Individuelle am wenigsten zur Geltung
kommt, b) durch den Uebergang und die Verbreitung der
Gefühle in (Ausdrucks-)Bewegungen, Tönen, c) durch
ihre Erhöhung und Abklärung zu Urtheilen, als gesprochenen
oder nach Art von gesprochenen vorgestellten (gedachten)
Sätzen, wodurch das Individuelle am bedeutendsten sich
ausdrückt. Ferner aber offenbart sich Kraft und Natur
eines Menschen in dem, was objective seine Leistung ist:
die Realitäten davon sein Dasein und Wirken als Ursache
gedacht wird, d. i. sein Einfluss, seine Thaten und seine
Werke. D) Aus allen solchen Aeusserungen versucht man
das Innere oder das Wesen des Menschen zu erkennen.
Wenn dieses an und für sich, in seiner ihm nothwendigen
Action, nichts als blinder Trieb und Drang ist, so mani-
festirt sich derselbe doch anders im vegetativen, anders im
animalischen und mentalen Leben. Wenn in bedeutenden
und tiefen Zügen ausgeprägt, so nennen wir ihn dort
Leidenschaft, als den Drang zum Genusse, allgemeinen
»Lebensdrang«, welcher seine grösste Energie als Zeugungs-
drang oder Wollust offenbart; so aber können wir ihn ferner,
als »Thatendrang« oder Lust zur Bethätigung animalischer
Kraft, Muth nennen, und definiren endlich den mentalen
»Schaffensdrang« oder die Lust, das in Gedächtniss oder

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0154" n="118"/>
neinungen. Alles Leben und Wollen ist Selbst-Bejahung,<lb/>
daher Bejahung oder Verneinung des Anderen, je nach<lb/>
der Beziehung, in der es zum Selbst (als der Einheit von<lb/>
Seele und Leib) stehen mag; wie es gefühlt und voraus-<lb/>
gefühlt (d. i. begehrt oder verabscheut) wird, als gut oder<lb/>
übel, freundlich oder feindlich, und in dem Maasse, in welchem<lb/>
solches der Fall ist. Der ganze Inhalt aber unserer beson-<lb/>
deren Natur oder unseres eigenthümlichen Selbst kann be-<lb/>
stimmt werden als das, was wir <hi rendition="#g">können</hi> oder wessen wir<lb/>
fähig sind &#x2014; als unsere reale Kraft, d. i., was wir gewollt<lb/><hi rendition="#g">haben</hi>, und <hi rendition="#g">als</hi> Gewolltes haben, der ganze Zusammen-<lb/>
hang unserer Instincte, Gewohnheiten und Gedächtnisse.<lb/>
Und dieses gibt sich im einzelnen Wollen insbesondere<lb/>
kund a) durch die unmittelbare (instinctive, vegetative)<lb/>
Aeusserung der Gefühle, welche von ihnen nicht ver-<lb/>
schieden ist: als Contraction oder Expansion der Leibes-<lb/>
masse, wodurch das Individuelle am wenigsten zur Geltung<lb/>
kommt, b) durch den Uebergang und die Verbreitung der<lb/>
Gefühle in (Ausdrucks-)Bewegungen, Tönen, c) durch<lb/>
ihre Erhöhung und Abklärung zu Urtheilen, als gesprochenen<lb/>
oder nach Art von gesprochenen vorgestellten (gedachten)<lb/>
Sätzen, wodurch das Individuelle am bedeutendsten sich<lb/>
ausdrückt. Ferner aber offenbart sich Kraft und Natur<lb/>
eines Menschen in dem, was objective seine Leistung ist:<lb/>
die Realitäten davon sein Dasein und Wirken als Ursache<lb/>
gedacht wird, d. i. sein Einfluss, seine Thaten und seine<lb/>
Werke. D) Aus allen solchen Aeusserungen versucht man<lb/>
das Innere oder das Wesen des Menschen zu erkennen.<lb/>
Wenn dieses an und für sich, in seiner ihm nothwendigen<lb/>
Action, nichts als blinder Trieb und Drang ist, so mani-<lb/>
festirt sich derselbe doch anders im vegetativen, anders im<lb/>
animalischen und mentalen Leben. Wenn in bedeutenden<lb/>
und tiefen Zügen ausgeprägt, so nennen wir ihn dort<lb/><hi rendition="#g">Leidenschaft</hi>, als den Drang zum Genusse, allgemeinen<lb/>
»Lebensdrang«, welcher seine grösste Energie als Zeugungs-<lb/>
drang oder Wollust offenbart; so aber können wir ihn ferner,<lb/>
als »Thatendrang« oder Lust zur Bethätigung animalischer<lb/>
Kraft, <hi rendition="#g">Muth</hi> nennen, und definiren endlich den mentalen<lb/>
»Schaffensdrang« oder die Lust, das in Gedächtniss oder<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[118/0154] neinungen. Alles Leben und Wollen ist Selbst-Bejahung, daher Bejahung oder Verneinung des Anderen, je nach der Beziehung, in der es zum Selbst (als der Einheit von Seele und Leib) stehen mag; wie es gefühlt und voraus- gefühlt (d. i. begehrt oder verabscheut) wird, als gut oder übel, freundlich oder feindlich, und in dem Maasse, in welchem solches der Fall ist. Der ganze Inhalt aber unserer beson- deren Natur oder unseres eigenthümlichen Selbst kann be- stimmt werden als das, was wir können oder wessen wir fähig sind — als unsere reale Kraft, d. i., was wir gewollt haben, und als Gewolltes haben, der ganze Zusammen- hang unserer Instincte, Gewohnheiten und Gedächtnisse. Und dieses gibt sich im einzelnen Wollen insbesondere kund a) durch die unmittelbare (instinctive, vegetative) Aeusserung der Gefühle, welche von ihnen nicht ver- schieden ist: als Contraction oder Expansion der Leibes- masse, wodurch das Individuelle am wenigsten zur Geltung kommt, b) durch den Uebergang und die Verbreitung der Gefühle in (Ausdrucks-)Bewegungen, Tönen, c) durch ihre Erhöhung und Abklärung zu Urtheilen, als gesprochenen oder nach Art von gesprochenen vorgestellten (gedachten) Sätzen, wodurch das Individuelle am bedeutendsten sich ausdrückt. Ferner aber offenbart sich Kraft und Natur eines Menschen in dem, was objective seine Leistung ist: die Realitäten davon sein Dasein und Wirken als Ursache gedacht wird, d. i. sein Einfluss, seine Thaten und seine Werke. D) Aus allen solchen Aeusserungen versucht man das Innere oder das Wesen des Menschen zu erkennen. Wenn dieses an und für sich, in seiner ihm nothwendigen Action, nichts als blinder Trieb und Drang ist, so mani- festirt sich derselbe doch anders im vegetativen, anders im animalischen und mentalen Leben. Wenn in bedeutenden und tiefen Zügen ausgeprägt, so nennen wir ihn dort Leidenschaft, als den Drang zum Genusse, allgemeinen »Lebensdrang«, welcher seine grösste Energie als Zeugungs- drang oder Wollust offenbart; so aber können wir ihn ferner, als »Thatendrang« oder Lust zur Bethätigung animalischer Kraft, Muth nennen, und definiren endlich den mentalen »Schaffensdrang« oder die Lust, das in Gedächtniss oder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/154
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/154>, abgerufen am 31.10.2024.