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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
volle Neigung, die Geschäfte an der falschen Stelle anzufassen; in bester
Absicht verwirrte und verwickelte er die Frage also, daß beide Theile
zugleich Recht und Unrecht hatten. Die Mehrzahl der Minister be-
trachtete die ständische Gesetzgebung der Monarchie als endgiltig abge-
schlossen und verwarf jede Neuerung. Rochow vornehmlich, der vor acht-
zehn Jahren den Verhandlungen der Notabeln über die Errichtung der
Provinzialstände beigewohnt*), versicherte in einer Denkschrift zuversichtlich,
damals hätte "man allseitig die allgemeine Verfassungsfrage für abgethan
gehalten". In ähnlichem Sinne äußerte sich Gerlach; der nachdrücklich
hervor hob, daß die zur Huldigung einberufenen Stände sich unmöglich
für befugt halten könnten eine so wichtige Angelegenheit alsbald zu ent-
scheiden.**) Vor diesem allgemeinen Widerspruche verlor der König den
Muth. Er legte sich nicht die Frage vor, ob es nicht rathsam sei, statt
der geplanten bedenklichen Halbheit vielmehr eine ganze Gewährung zu
wagen und den Preußen sogleich bei der Huldigung die Einberufung eines
wirklichen, mit allen verheißenen Rechten ausgestatteten Reichstags anzu-
kündigen. Für solche Pläne konnte er an Radowitz oder Canitz freudige
Helfer finden. Da er aber durchaus selbst regieren wollte und in seinen
Räthen immer nur gleichgiltige Werkzeuge sah, so kostete es ihn auch
wenig Ueberwindung, sich vorderhand noch mit Ministern zu behelfen,
welche seinen reichsständischen Absichten widerstrebten. Schon halb ent-
schlossen die unbequemen Pläne vorerst zu vertagen, besuchte er den be-
freundeten sächsischen Hof und traf dort in Pillnitz, am 13. August mit
dem Fürsten Metternich zusammen. Er besprach sich mit ihm über die
gemeinsamen Rüstungen gegen Frankreich, über die nothwendige Reform
der Bundesverfassung, nebenbei auch über die preußische Verfassungsfrage;
und da der Oesterreicher, wie zu erwarten stand, den Bedenken der preu-
ßischen Minister lebhaft beipflichtete, so ließ der König für jetzt von seinen
Vorsätzen ab. Also versäumte er zum ersten male eine wunderbar günstige
Stunde; und oft genug hat er späterhin bitterlich geklagt: "ich beweine
eine neue verlorene Gelegenheit, wie deren so viele!!! seit Jahren
verloren sind."***) Auch jetzt schon war er keineswegs mit sich zufrieden,
sondern sagte traurig: "man wird sehen, welche üblen Folgen das haben
wird."

Der Testamentsentwurf des alten Königs blieb also unausgeführt
und wurde auf Befehl des Nachfolgers fortan streng geheim gehalten.
Nunmehr faßte Friedrich Wilhelm den Plan, die Befugnisse der Pro-
vinzialstände Schritt für Schritt zu erweitern und dergestalt durch die
belobte organische Entwicklung die dereinstige Berufung der Reichsstände

*) S. o. III. 237.
**) Rochow's Denkschrift, 27. Juli; eine andere Denkschrift ohne Unterschrift, offen-
bar von Gerlach, 4. Aug. 1840.
***) König Friedrich Wilhelm an Thile, 10. Juni 1847.

V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
volle Neigung, die Geſchäfte an der falſchen Stelle anzufaſſen; in beſter
Abſicht verwirrte und verwickelte er die Frage alſo, daß beide Theile
zugleich Recht und Unrecht hatten. Die Mehrzahl der Miniſter be-
trachtete die ſtändiſche Geſetzgebung der Monarchie als endgiltig abge-
ſchloſſen und verwarf jede Neuerung. Rochow vornehmlich, der vor acht-
zehn Jahren den Verhandlungen der Notabeln über die Errichtung der
Provinzialſtände beigewohnt*), verſicherte in einer Denkſchrift zuverſichtlich,
damals hätte „man allſeitig die allgemeine Verfaſſungsfrage für abgethan
gehalten“. In ähnlichem Sinne äußerte ſich Gerlach; der nachdrücklich
hervor hob, daß die zur Huldigung einberufenen Stände ſich unmöglich
für befugt halten könnten eine ſo wichtige Angelegenheit alsbald zu ent-
ſcheiden.**) Vor dieſem allgemeinen Widerſpruche verlor der König den
Muth. Er legte ſich nicht die Frage vor, ob es nicht rathſam ſei, ſtatt
der geplanten bedenklichen Halbheit vielmehr eine ganze Gewährung zu
wagen und den Preußen ſogleich bei der Huldigung die Einberufung eines
wirklichen, mit allen verheißenen Rechten ausgeſtatteten Reichstags anzu-
kündigen. Für ſolche Pläne konnte er an Radowitz oder Canitz freudige
Helfer finden. Da er aber durchaus ſelbſt regieren wollte und in ſeinen
Räthen immer nur gleichgiltige Werkzeuge ſah, ſo koſtete es ihn auch
wenig Ueberwindung, ſich vorderhand noch mit Miniſtern zu behelfen,
welche ſeinen reichsſtändiſchen Abſichten widerſtrebten. Schon halb ent-
ſchloſſen die unbequemen Pläne vorerſt zu vertagen, beſuchte er den be-
freundeten ſächſiſchen Hof und traf dort in Pillnitz, am 13. Auguſt mit
dem Fürſten Metternich zuſammen. Er beſprach ſich mit ihm über die
gemeinſamen Rüſtungen gegen Frankreich, über die nothwendige Reform
der Bundesverfaſſung, nebenbei auch über die preußiſche Verfaſſungsfrage;
und da der Oeſterreicher, wie zu erwarten ſtand, den Bedenken der preu-
ßiſchen Miniſter lebhaft beipflichtete, ſo ließ der König für jetzt von ſeinen
Vorſätzen ab. Alſo verſäumte er zum erſten male eine wunderbar günſtige
Stunde; und oft genug hat er ſpäterhin bitterlich geklagt: „ich beweine
eine neue verlorene Gelegenheit, wie deren ſo viele!!! ſeit Jahren
verloren ſind.“***) Auch jetzt ſchon war er keineswegs mit ſich zufrieden,
ſondern ſagte traurig: „man wird ſehen, welche üblen Folgen das haben
wird.“

Der Teſtamentsentwurf des alten Königs blieb alſo unausgeführt
und wurde auf Befehl des Nachfolgers fortan ſtreng geheim gehalten.
Nunmehr faßte Friedrich Wilhelm den Plan, die Befugniſſe der Pro-
vinzialſtände Schritt für Schritt zu erweitern und dergeſtalt durch die
belobte organiſche Entwicklung die dereinſtige Berufung der Reichsſtände

*) S. o. III. 237.
**) Rochow’s Denkſchrift, 27. Juli; eine andere Denkſchrift ohne Unterſchrift, offen-
bar von Gerlach, 4. Aug. 1840.
***) König Friedrich Wilhelm an Thile, 10. Juni 1847.
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[36/0050] V. 1. Die frohen Tage der Erwartung. volle Neigung, die Geſchäfte an der falſchen Stelle anzufaſſen; in beſter Abſicht verwirrte und verwickelte er die Frage alſo, daß beide Theile zugleich Recht und Unrecht hatten. Die Mehrzahl der Miniſter be- trachtete die ſtändiſche Geſetzgebung der Monarchie als endgiltig abge- ſchloſſen und verwarf jede Neuerung. Rochow vornehmlich, der vor acht- zehn Jahren den Verhandlungen der Notabeln über die Errichtung der Provinzialſtände beigewohnt *), verſicherte in einer Denkſchrift zuverſichtlich, damals hätte „man allſeitig die allgemeine Verfaſſungsfrage für abgethan gehalten“. In ähnlichem Sinne äußerte ſich Gerlach; der nachdrücklich hervor hob, daß die zur Huldigung einberufenen Stände ſich unmöglich für befugt halten könnten eine ſo wichtige Angelegenheit alsbald zu ent- ſcheiden. **) Vor dieſem allgemeinen Widerſpruche verlor der König den Muth. Er legte ſich nicht die Frage vor, ob es nicht rathſam ſei, ſtatt der geplanten bedenklichen Halbheit vielmehr eine ganze Gewährung zu wagen und den Preußen ſogleich bei der Huldigung die Einberufung eines wirklichen, mit allen verheißenen Rechten ausgeſtatteten Reichstags anzu- kündigen. Für ſolche Pläne konnte er an Radowitz oder Canitz freudige Helfer finden. Da er aber durchaus ſelbſt regieren wollte und in ſeinen Räthen immer nur gleichgiltige Werkzeuge ſah, ſo koſtete es ihn auch wenig Ueberwindung, ſich vorderhand noch mit Miniſtern zu behelfen, welche ſeinen reichsſtändiſchen Abſichten widerſtrebten. Schon halb ent- ſchloſſen die unbequemen Pläne vorerſt zu vertagen, beſuchte er den be- freundeten ſächſiſchen Hof und traf dort in Pillnitz, am 13. Auguſt mit dem Fürſten Metternich zuſammen. Er beſprach ſich mit ihm über die gemeinſamen Rüſtungen gegen Frankreich, über die nothwendige Reform der Bundesverfaſſung, nebenbei auch über die preußiſche Verfaſſungsfrage; und da der Oeſterreicher, wie zu erwarten ſtand, den Bedenken der preu- ßiſchen Miniſter lebhaft beipflichtete, ſo ließ der König für jetzt von ſeinen Vorſätzen ab. Alſo verſäumte er zum erſten male eine wunderbar günſtige Stunde; und oft genug hat er ſpäterhin bitterlich geklagt: „ich beweine eine neue verlorene Gelegenheit, wie deren ſo viele!!! ſeit Jahren verloren ſind.“ ***) Auch jetzt ſchon war er keineswegs mit ſich zufrieden, ſondern ſagte traurig: „man wird ſehen, welche üblen Folgen das haben wird.“ Der Teſtamentsentwurf des alten Königs blieb alſo unausgeführt und wurde auf Befehl des Nachfolgers fortan ſtreng geheim gehalten. Nunmehr faßte Friedrich Wilhelm den Plan, die Befugniſſe der Pro- vinzialſtände Schritt für Schritt zu erweitern und dergeſtalt durch die belobte organiſche Entwicklung die dereinſtige Berufung der Reichsſtände *) S. o. III. 237. **) Rochow’s Denkſchrift, 27. Juli; eine andere Denkſchrift ohne Unterſchrift, offen- bar von Gerlach, 4. Aug. 1840. ***) König Friedrich Wilhelm an Thile, 10. Juni 1847.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/50>, abgerufen am 10.11.2024.