Buch 8, Cap. 1--3.) mit tiefer und geistvoller Empirie an dem Gange der bildenden Kunst an Griechenland nachgewiesen und namentlich Lanzi (Notizie della scultura degli antichi e dei vari suoi stili) näher bestimmt hat. Die Begründung desselben in der Natur der Sache leuchtet nach dem bisher Gesagten ganz unmittelbar ein: es ist dasselbe Gesetz einer Aufeinanderfolge verschiedener Mischungsverhältnisse des Subjectiven und Objectiven, das in allen geistigen Sphären (Staat, Religion, Wissenschaft) hervortritt, nur klarer oder dunkler, in verschiedene Breite und Schwierig- keitsgrade der Verwicklung auseinandergezogen, in vervielfältigten Kreisen die Verbindungsformel jener seiner Elemente durcheinanderschiebend, in der Auflösung neues Leben andeutend je nach der verschiedenen Natur dieser Sphären. In aller Entwicklung erscheint der Geist zuerst objectiv bestimmt, sein subjectives Leben verschwindet in der einfachen Strenge des Inhalts; so auch in der Kunst. Nach drei Seiten zeigt sich hier dieß Verschwinden des Subjects: psychologisch im Sinne der substantiellen Versenkung des Künstler- geists in den Gegenstand, dem Naturvorbi[ - 1 Zeichen fehlt]de und dem Materiale gegenüber im Sinne eines Kampfs zwischen Scheue und Streben, das erstere in seiner Lebendigkeit zu erfassen und des ungleichen Ringens mit diesem, gegenüber dem Subject, an das die Mittheilung sich richtet, in der Abweisung jeder Condescendenz, in dem Charakter strenger, auf kein Entgegenkommen sich einlassender Sächlichkeit. Dieß ist der strenge und harte Styl der griechischen Plastik von der Zeit an, wo man von Kunst reden kann, d. h. wo das bloße Handwerk und das bloße Spiel über- wunden ist, bis vor Phidias, der Styl, der in den Aeginetengruppen schon theilweise gemildert und dem Uebergang in den reifen Styl nahe erscheint und besonders belehrend in den drei Fortschrittsstufen der selinuntischen Metopen zu Tage liegt. Das Götterbild, streng, düster, Ehrfurcht fordernd, nicht Liebe weckend, gebunden in Bewegung, behält am längsten die alte Herbigkeit. Die typische Bindung des Bewußtseins, welche dem Phantasie- bilde innerlich nicht gestattet, seine Züge zu mildern, seine Formen zu befreien (vergl. §. 430, [3.]) erscheint nun äußerlich in ihrer technischen Verhärtung. Als Ausfluß einer spezifisch religiösen Bindung (wiewohl in Griechenland keiner förmlichen Priestersatzung) heißt dieser Styl hieratisch. Daß gleichzeitig eine gesuchte, steife Zierlichkeit selbst an den Götterbildern hervortritt, steht mit dem Grundzuge strenger Objectivität nicht in Wider- spruch: es ist die vorzeitig ungeschickte Regung des subjectiven Moments, das nicht abwesend, sondern nur zurückgehalten ist und sich noch in der Weise des Spieles äußert, die Grazie vor der Grazie, und kommt genau ebenso in der byzantinischen Malerei und dem vorgothischen Baustyle zum Vorschein. In der Darstellung des Menschlichen, die sich früher vom Typus befreit, tritt neben dieser steifen Zierlichkeit, die besonders auch in
Buch 8, Cap. 1—3.) mit tiefer und geiſtvoller Empirie an dem Gange der bildenden Kunſt an Griechenland nachgewieſen und namentlich Lanzi (Notizie della scultura degli antichi e dei vari suoi stili) näher beſtimmt hat. Die Begründung deſſelben in der Natur der Sache leuchtet nach dem bisher Geſagten ganz unmittelbar ein: es iſt daſſelbe Geſetz einer Aufeinanderfolge verſchiedener Miſchungsverhältniſſe des Subjectiven und Objectiven, das in allen geiſtigen Sphären (Staat, Religion, Wiſſenſchaft) hervortritt, nur klarer oder dunkler, in verſchiedene Breite und Schwierig- keitsgrade der Verwicklung auseinandergezogen, in vervielfältigten Kreiſen die Verbindungsformel jener ſeiner Elemente durcheinanderſchiebend, in der Auflöſung neues Leben andeutend je nach der verſchiedenen Natur dieſer Sphären. In aller Entwicklung erſcheint der Geiſt zuerſt objectiv beſtimmt, ſein ſubjectives Leben verſchwindet in der einfachen Strenge des Inhalts; ſo auch in der Kunſt. Nach drei Seiten zeigt ſich hier dieß Verſchwinden des Subjects: pſychologiſch im Sinne der ſubſtantiellen Verſenkung des Künſtler- geiſts in den Gegenſtand, dem Naturvorbi[ – 1 Zeichen fehlt]de und dem Materiale gegenüber im Sinne eines Kampfs zwiſchen Scheue und Streben, das erſtere in ſeiner Lebendigkeit zu erfaſſen und des ungleichen Ringens mit dieſem, gegenüber dem Subject, an das die Mittheilung ſich richtet, in der Abweiſung jeder Condeſcendenz, in dem Charakter ſtrenger, auf kein Entgegenkommen ſich einlaſſender Sächlichkeit. Dieß iſt der ſtrenge und harte Styl der griechiſchen Plaſtik von der Zeit an, wo man von Kunſt reden kann, d. h. wo das bloße Handwerk und das bloße Spiel über- wunden iſt, bis vor Phidias, der Styl, der in den Aeginetengruppen ſchon theilweiſe gemildert und dem Uebergang in den reifen Styl nahe erſcheint und beſonders belehrend in den drei Fortſchrittsſtufen der ſelinuntiſchen Metopen zu Tage liegt. Das Götterbild, ſtreng, düſter, Ehrfurcht fordernd, nicht Liebe weckend, gebunden in Bewegung, behält am längſten die alte Herbigkeit. Die typiſche Bindung des Bewußtſeins, welche dem Phantaſie- bilde innerlich nicht geſtattet, ſeine Züge zu mildern, ſeine Formen zu befreien (vergl. §. 430, [3.]) erſcheint nun äußerlich in ihrer techniſchen Verhärtung. Als Ausfluß einer ſpezifiſch religiöſen Bindung (wiewohl in Griechenland keiner förmlichen Prieſterſatzung) heißt dieſer Styl hieratiſch. Daß gleichzeitig eine geſuchte, ſteife Zierlichkeit ſelbſt an den Götterbildern hervortritt, ſteht mit dem Grundzuge ſtrenger Objectivität nicht in Wider- ſpruch: es iſt die vorzeitig ungeſchickte Regung des ſubjectiven Moments, das nicht abweſend, ſondern nur zurückgehalten iſt und ſich noch in der Weiſe des Spieles äußert, die Grazie vor der Grazie, und kommt genau ebenſo in der byzantiniſchen Malerei und dem vorgothiſchen Bauſtyle zum Vorſchein. In der Darſtellung des Menſchlichen, die ſich früher vom Typus befreit, tritt neben dieſer ſteifen Zierlichkeit, die beſonders auch in
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><divn="7"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0147"n="135"/>
Buch 8, Cap. 1—3.) mit tiefer und geiſtvoller Empirie an dem Gange<lb/>
der bildenden Kunſt an Griechenland nachgewieſen und namentlich Lanzi<lb/>
(<hirendition="#aq">Notizie della scultura degli antichi e dei vari suoi stili</hi>) näher beſtimmt<lb/>
hat. Die Begründung deſſelben in der Natur der Sache leuchtet nach<lb/>
dem bisher Geſagten ganz unmittelbar ein: es iſt daſſelbe Geſetz einer<lb/>
Aufeinanderfolge verſchiedener Miſchungsverhältniſſe des Subjectiven und<lb/>
Objectiven, das in allen geiſtigen Sphären (Staat, Religion, Wiſſenſchaft)<lb/>
hervortritt, nur klarer oder dunkler, in verſchiedene Breite und Schwierig-<lb/>
keitsgrade der Verwicklung auseinandergezogen, in vervielfältigten Kreiſen<lb/>
die Verbindungsformel jener ſeiner Elemente durcheinanderſchiebend, in<lb/>
der Auflöſung neues Leben andeutend je nach der verſchiedenen Natur dieſer<lb/>
Sphären. In aller Entwicklung erſcheint der Geiſt zuerſt objectiv beſtimmt,<lb/>ſein ſubjectives Leben verſchwindet in der einfachen Strenge des Inhalts;<lb/>ſo auch in der Kunſt. Nach drei Seiten zeigt ſich hier dieß Verſchwinden des<lb/>
Subjects: pſychologiſch im Sinne der ſubſtantiellen Verſenkung des Künſtler-<lb/>
geiſts in den Gegenſtand, dem Naturvorbi<gapunit="chars"quantity="1"/>de und dem Materiale gegenüber<lb/>
im Sinne eines Kampfs zwiſchen Scheue und Streben, das erſtere in<lb/>ſeiner Lebendigkeit zu erfaſſen und des ungleichen Ringens mit dieſem,<lb/>
gegenüber dem Subject, an das die Mittheilung ſich richtet, in der<lb/>
Abweiſung jeder Condeſcendenz, in dem Charakter ſtrenger, auf kein<lb/>
Entgegenkommen ſich einlaſſender Sächlichkeit. Dieß iſt der ſtrenge und<lb/>
harte Styl der griechiſchen Plaſtik von der Zeit an, wo man von Kunſt<lb/>
reden kann, d. h. wo das bloße Handwerk und das bloße Spiel über-<lb/>
wunden iſt, bis vor Phidias, der Styl, der in den Aeginetengruppen<lb/>ſchon theilweiſe gemildert und dem Uebergang in den reifen Styl nahe<lb/>
erſcheint und beſonders belehrend in den drei Fortſchrittsſtufen der ſelinuntiſchen<lb/>
Metopen zu Tage liegt. Das Götterbild, ſtreng, düſter, Ehrfurcht fordernd,<lb/>
nicht Liebe weckend, gebunden in Bewegung, behält am längſten die alte<lb/>
Herbigkeit. Die typiſche Bindung des Bewußtſeins, welche dem Phantaſie-<lb/>
bilde innerlich nicht geſtattet, ſeine Züge zu mildern, ſeine Formen zu<lb/>
befreien (vergl. §. 430, <supplied>3.</supplied>) erſcheint nun äußerlich in ihrer techniſchen<lb/>
Verhärtung. Als Ausfluß einer ſpezifiſch religiöſen Bindung (wiewohl<lb/>
in Griechenland keiner förmlichen Prieſterſatzung) heißt dieſer Styl hieratiſch.<lb/>
Daß gleichzeitig eine geſuchte, ſteife Zierlichkeit ſelbſt an den Götterbildern<lb/>
hervortritt, ſteht mit dem Grundzuge ſtrenger Objectivität nicht in Wider-<lb/>ſpruch: es iſt die vorzeitig ungeſchickte Regung des ſubjectiven Moments,<lb/>
das nicht abweſend, ſondern nur zurückgehalten iſt und ſich noch in der<lb/>
Weiſe des <hirendition="#g">Spieles</hi> äußert, die Grazie vor der Grazie, und kommt genau<lb/>
ebenſo in der byzantiniſchen Malerei und dem vorgothiſchen Bauſtyle<lb/>
zum Vorſchein. In der Darſtellung des Menſchlichen, die ſich früher vom<lb/>
Typus befreit, tritt neben dieſer ſteifen Zierlichkeit, die beſonders auch in<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[135/0147]
Buch 8, Cap. 1—3.) mit tiefer und geiſtvoller Empirie an dem Gange
der bildenden Kunſt an Griechenland nachgewieſen und namentlich Lanzi
(Notizie della scultura degli antichi e dei vari suoi stili) näher beſtimmt
hat. Die Begründung deſſelben in der Natur der Sache leuchtet nach
dem bisher Geſagten ganz unmittelbar ein: es iſt daſſelbe Geſetz einer
Aufeinanderfolge verſchiedener Miſchungsverhältniſſe des Subjectiven und
Objectiven, das in allen geiſtigen Sphären (Staat, Religion, Wiſſenſchaft)
hervortritt, nur klarer oder dunkler, in verſchiedene Breite und Schwierig-
keitsgrade der Verwicklung auseinandergezogen, in vervielfältigten Kreiſen
die Verbindungsformel jener ſeiner Elemente durcheinanderſchiebend, in
der Auflöſung neues Leben andeutend je nach der verſchiedenen Natur dieſer
Sphären. In aller Entwicklung erſcheint der Geiſt zuerſt objectiv beſtimmt,
ſein ſubjectives Leben verſchwindet in der einfachen Strenge des Inhalts;
ſo auch in der Kunſt. Nach drei Seiten zeigt ſich hier dieß Verſchwinden des
Subjects: pſychologiſch im Sinne der ſubſtantiellen Verſenkung des Künſtler-
geiſts in den Gegenſtand, dem Naturvorbi_de und dem Materiale gegenüber
im Sinne eines Kampfs zwiſchen Scheue und Streben, das erſtere in
ſeiner Lebendigkeit zu erfaſſen und des ungleichen Ringens mit dieſem,
gegenüber dem Subject, an das die Mittheilung ſich richtet, in der
Abweiſung jeder Condeſcendenz, in dem Charakter ſtrenger, auf kein
Entgegenkommen ſich einlaſſender Sächlichkeit. Dieß iſt der ſtrenge und
harte Styl der griechiſchen Plaſtik von der Zeit an, wo man von Kunſt
reden kann, d. h. wo das bloße Handwerk und das bloße Spiel über-
wunden iſt, bis vor Phidias, der Styl, der in den Aeginetengruppen
ſchon theilweiſe gemildert und dem Uebergang in den reifen Styl nahe
erſcheint und beſonders belehrend in den drei Fortſchrittsſtufen der ſelinuntiſchen
Metopen zu Tage liegt. Das Götterbild, ſtreng, düſter, Ehrfurcht fordernd,
nicht Liebe weckend, gebunden in Bewegung, behält am längſten die alte
Herbigkeit. Die typiſche Bindung des Bewußtſeins, welche dem Phantaſie-
bilde innerlich nicht geſtattet, ſeine Züge zu mildern, ſeine Formen zu
befreien (vergl. §. 430, 3.) erſcheint nun äußerlich in ihrer techniſchen
Verhärtung. Als Ausfluß einer ſpezifiſch religiöſen Bindung (wiewohl
in Griechenland keiner förmlichen Prieſterſatzung) heißt dieſer Styl hieratiſch.
Daß gleichzeitig eine geſuchte, ſteife Zierlichkeit ſelbſt an den Götterbildern
hervortritt, ſteht mit dem Grundzuge ſtrenger Objectivität nicht in Wider-
ſpruch: es iſt die vorzeitig ungeſchickte Regung des ſubjectiven Moments,
das nicht abweſend, ſondern nur zurückgehalten iſt und ſich noch in der
Weiſe des Spieles äußert, die Grazie vor der Grazie, und kommt genau
ebenſo in der byzantiniſchen Malerei und dem vorgothiſchen Bauſtyle
zum Vorſchein. In der Darſtellung des Menſchlichen, die ſich früher vom
Typus befreit, tritt neben dieſer ſteifen Zierlichkeit, die beſonders auch in
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/147>, abgerufen am 13.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.