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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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und wir müssen auf diesen Abschnitt zurückverweisen, da es sich an dieser
Stelle wesentlich nur um eine weitere Anwendung unseres Stylgesetzes
handelt. Die zwei Momente: Auflösung in das Fließende, Weiche und
scharfe Bestimmung, Theilung müssen jetzt mehr im Großen wirken.
Es macht sich nun zuerst das zweite dieser Momente geltend: jede
Form des Daseins soll in ihren wesentlichen Zügen fest und markig
ausgesprochen werden; die Idealität, wie sie im Wesen der Plastik mit
so besonderer Ausdrücklichkeit liegt, ist keine Verschwemmung, keine Flach-
heit; Kind soll Kind, Mann Mann, Weib soll Weib u. s. w. bleiben;
der Künstler hat sich z. B. wohl gehütet, dem Dornausziehenden Knaben
und dem Astragalenspielenden Mädchen die rührende Herbigkeit der noch
unausgefüllten Formen oder das eifrig Bedachte, ausschließend Vertiefte
ihres Thuns, ihres Spiels zu nehmen. Und dennoch fordert jene Idealität,
daß eine unmerkliche, feine Welle die Schärfe des Unterschieds ebensosehr
flüssig mildere und am Bande der reinen, in ewiger Heiterkeit webenden Schön-
heit halte. Der schlangenwürgende Herkules in Neapel ist ganz Kind
und doch wie rund und voll schon der künftige Mann mit dem Stierhalse
und den mächtigen Muskeln ausgesprochen! Der vaticanische Apollo ist
ganz Mann und doch treten die einzelnen Schönheiten der übrigen Götter
hier in Gemeinschaft zusammen: "eine Stirne des Jupiter, die mit der
Göttinn der Weisheit schwanger ist, und Augenbrauen, die durch ihr
Winken ihren Willen erklären; Augen der Königinn der Göttinnen mit
Großheit gewölbet und ein Mund, welcher denjenigen bildet, der dem
geliebten Branchus die Wollüste eingeflößet" u. s. w. (Winkelmann a. a.
O.). Auch Feuerbach (a. a. O. S. 128 -- 130) zeigt, wie dieser Apollo
etwas Mädchenhaftes hat, ohne weibisch zu sein, wie er weder Kind,
noch Jüngling oder Mann, wohl aber Alles zugleich, Kind ohne die
Schwächen der Kindheit und Jüngling in der Kraft und Sicherheit des
Mannes ist. Falsche Einigung der Gegensätze, das Erzeugniß einer auf
lüsternen Reiz arbeitenden, weichlichen Kunst ist die Hermaphroditenbil-
dung. So verhält es sich nun auch mit dem besondern Gepräge, das
Stand, Beschäftigung aufdrückt. Im griechischen Leben war es nament-
lich die, auch auf das weibliche Geschlecht ausgedehnte, Gymnastik, die
schon in dem als Stoff gegebenen Menschenstamme das Gattungsmäßige
so entwickelte, daß selbst Thätigkeiten, die sonst zur Ertödtung des vollen
Sinnenlebens und seiner Erscheinung führen, denjenigen Stempel der
Besonderheit dem Einzelnen nicht aufdrückten, der zum plastisch
Häßlichen abführt; ebensosehr war aber die griechische Erziehung bedacht,
durch Kunst, Dichtung, Beredtsamkeit, Spiel den Einzelnen auch geistig
flüssig zu erhalten, zur schönen Persönlichkeit innerlich auszurunden, und
die Kunst vollendete, was das Leben vorgearbeitet. Der Naturalist und

und wir müſſen auf dieſen Abſchnitt zurückverweiſen, da es ſich an dieſer
Stelle weſentlich nur um eine weitere Anwendung unſeres Stylgeſetzes
handelt. Die zwei Momente: Auflöſung in das Fließende, Weiche und
ſcharfe Beſtimmung, Theilung müſſen jetzt mehr im Großen wirken.
Es macht ſich nun zuerſt das zweite dieſer Momente geltend: jede
Form des Daſeins ſoll in ihren weſentlichen Zügen feſt und markig
ausgeſprochen werden; die Idealität, wie ſie im Weſen der Plaſtik mit
ſo beſonderer Ausdrücklichkeit liegt, iſt keine Verſchwemmung, keine Flach-
heit; Kind ſoll Kind, Mann Mann, Weib ſoll Weib u. ſ. w. bleiben;
der Künſtler hat ſich z. B. wohl gehütet, dem Dornausziehenden Knaben
und dem Aſtragalenſpielenden Mädchen die rührende Herbigkeit der noch
unausgefüllten Formen oder das eifrig Bedachte, ausſchließend Vertiefte
ihres Thuns, ihres Spiels zu nehmen. Und dennoch fordert jene Idealität,
daß eine unmerkliche, feine Welle die Schärfe des Unterſchieds ebenſoſehr
flüſſig mildere und am Bande der reinen, in ewiger Heiterkeit webenden Schön-
heit halte. Der ſchlangenwürgende Herkules in Neapel iſt ganz Kind
und doch wie rund und voll ſchon der künftige Mann mit dem Stierhalſe
und den mächtigen Muſkeln ausgeſprochen! Der vaticaniſche Apollo iſt
ganz Mann und doch treten die einzelnen Schönheiten der übrigen Götter
hier in Gemeinſchaft zuſammen: „eine Stirne des Jupiter, die mit der
Göttinn der Weisheit ſchwanger iſt, und Augenbrauen, die durch ihr
Winken ihren Willen erklären; Augen der Königinn der Göttinnen mit
Großheit gewölbet und ein Mund, welcher denjenigen bildet, der dem
geliebten Branchus die Wollüſte eingeflößet“ u. ſ. w. (Winkelmann a. a.
O.). Auch Feuerbach (a. a. O. S. 128 — 130) zeigt, wie dieſer Apollo
etwas Mädchenhaftes hat, ohne weibiſch zu ſein, wie er weder Kind,
noch Jüngling oder Mann, wohl aber Alles zugleich, Kind ohne die
Schwächen der Kindheit und Jüngling in der Kraft und Sicherheit des
Mannes iſt. Falſche Einigung der Gegenſätze, das Erzeugniß einer auf
lüſternen Reiz arbeitenden, weichlichen Kunſt iſt die Hermaphroditenbil-
dung. So verhält es ſich nun auch mit dem beſondern Gepräge, das
Stand, Beſchäftigung aufdrückt. Im griechiſchen Leben war es nament-
lich die, auch auf das weibliche Geſchlecht ausgedehnte, Gymnaſtik, die
ſchon in dem als Stoff gegebenen Menſchenſtamme das Gattungsmäßige
ſo entwickelte, daß ſelbſt Thätigkeiten, die ſonſt zur Ertödtung des vollen
Sinnenlebens und ſeiner Erſcheinung führen, denjenigen Stempel der
Beſonderheit dem Einzelnen nicht aufdrückten, der zum plaſtiſch
Häßlichen abführt; ebenſoſehr war aber die griechiſche Erziehung bedacht,
durch Kunſt, Dichtung, Beredtſamkeit, Spiel den Einzelnen auch geiſtig
flüſſig zu erhalten, zur ſchönen Perſönlichkeit innerlich auszurunden, und
die Kunſt vollendete, was das Leben vorgearbeitet. Der Naturaliſt und

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[427/0101] und wir müſſen auf dieſen Abſchnitt zurückverweiſen, da es ſich an dieſer Stelle weſentlich nur um eine weitere Anwendung unſeres Stylgeſetzes handelt. Die zwei Momente: Auflöſung in das Fließende, Weiche und ſcharfe Beſtimmung, Theilung müſſen jetzt mehr im Großen wirken. Es macht ſich nun zuerſt das zweite dieſer Momente geltend: jede Form des Daſeins ſoll in ihren weſentlichen Zügen feſt und markig ausgeſprochen werden; die Idealität, wie ſie im Weſen der Plaſtik mit ſo beſonderer Ausdrücklichkeit liegt, iſt keine Verſchwemmung, keine Flach- heit; Kind ſoll Kind, Mann Mann, Weib ſoll Weib u. ſ. w. bleiben; der Künſtler hat ſich z. B. wohl gehütet, dem Dornausziehenden Knaben und dem Aſtragalenſpielenden Mädchen die rührende Herbigkeit der noch unausgefüllten Formen oder das eifrig Bedachte, ausſchließend Vertiefte ihres Thuns, ihres Spiels zu nehmen. Und dennoch fordert jene Idealität, daß eine unmerkliche, feine Welle die Schärfe des Unterſchieds ebenſoſehr flüſſig mildere und am Bande der reinen, in ewiger Heiterkeit webenden Schön- heit halte. Der ſchlangenwürgende Herkules in Neapel iſt ganz Kind und doch wie rund und voll ſchon der künftige Mann mit dem Stierhalſe und den mächtigen Muſkeln ausgeſprochen! Der vaticaniſche Apollo iſt ganz Mann und doch treten die einzelnen Schönheiten der übrigen Götter hier in Gemeinſchaft zuſammen: „eine Stirne des Jupiter, die mit der Göttinn der Weisheit ſchwanger iſt, und Augenbrauen, die durch ihr Winken ihren Willen erklären; Augen der Königinn der Göttinnen mit Großheit gewölbet und ein Mund, welcher denjenigen bildet, der dem geliebten Branchus die Wollüſte eingeflößet“ u. ſ. w. (Winkelmann a. a. O.). Auch Feuerbach (a. a. O. S. 128 — 130) zeigt, wie dieſer Apollo etwas Mädchenhaftes hat, ohne weibiſch zu ſein, wie er weder Kind, noch Jüngling oder Mann, wohl aber Alles zugleich, Kind ohne die Schwächen der Kindheit und Jüngling in der Kraft und Sicherheit des Mannes iſt. Falſche Einigung der Gegenſätze, das Erzeugniß einer auf lüſternen Reiz arbeitenden, weichlichen Kunſt iſt die Hermaphroditenbil- dung. So verhält es ſich nun auch mit dem beſondern Gepräge, das Stand, Beſchäftigung aufdrückt. Im griechiſchen Leben war es nament- lich die, auch auf das weibliche Geſchlecht ausgedehnte, Gymnaſtik, die ſchon in dem als Stoff gegebenen Menſchenſtamme das Gattungsmäßige ſo entwickelte, daß ſelbſt Thätigkeiten, die ſonſt zur Ertödtung des vollen Sinnenlebens und ſeiner Erſcheinung führen, denjenigen Stempel der Beſonderheit dem Einzelnen nicht aufdrückten, der zum plaſtiſch Häßlichen abführt; ebenſoſehr war aber die griechiſche Erziehung bedacht, durch Kunſt, Dichtung, Beredtſamkeit, Spiel den Einzelnen auch geiſtig flüſſig zu erhalten, zur ſchönen Perſönlichkeit innerlich auszurunden, und die Kunſt vollendete, was das Leben vorgearbeitet. Der Naturaliſt und

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/101>, abgerufen am 01.11.2024.