Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

d. h. die in Handlung gesetzte Porträtdarstellung, wird von dem Mythischen auf
einen schmalen Spielraum gedrängt, aber auch stellvertretend ersetzt und die Art
dieses Ersatzes bewirkt zugleich, daß der Gegensatz zwischen dem allgemein
Menschlichen und Geschichtlichen flüssig wird.

1. Wir beginnen die weitern Theilungen mit derjenigen, die ihren Grund
hat in den Unterschieden der Phantasie, wie sie im Ganzen und Großen
auf eines der Hauptgebiete der ursprünglichen Stoffwelt bezogen sind.
Zuerst tritt das Landschaftliche auf; §. 599 hat die technischen Gründe
gezeigt, warum es aus der Sculptur wegfällt; nun aber handelt es sich
nicht mehr von technischen Hindernissen, sondern von einem positiven in-
nern Grund, und zu diesem führt das, was zu §. 612 von andeutenden
Hülfen zur Bezeichnung der Landschaft gesagt ist. In der That aber ist
derselbe schon zu §. 437, 1. ausgesprochen: "Der Gott sog die Landschaft
in sich auf" u. s. w., und dann in der letzten, tiefsten Bestimmung über
das Wesen der Persönlichkeit in der bildnerischen Darstellung §. 606.
Die technischen Hindernisse sind die frei gesetzten Schranken einer Kunst,
die keine Landschaft braucht, weil sie dieselbe als Seele des Gottes schon
hat. Drücken wir denselben Satz psychologisch aus, so erhellt, daß eine
auf naive Einheit des Geistes und der Natur gewiesene Phantasie nicht
die sentimentale Beziehung zu der landschaftlichen Schönheit haben kann,
welche eine gegensätzliche Spannung zwischen jenen beiden Welten und
einen daraus fließenden Reiz voraussetzt; ebendiese Form des Geistes
sieht aber die gesammte Natur im Menschenbilde zusammengefaßt und das
ideale Menschenbild ist der Gott.

2. Die Fabelwesen, worin Thier und Mensch, Thier und Thier
zusammengesetzt war, Centauren, Meer- und Flußgötter, Faunen, Greife
u. s. w., sind Ueberreste symbolischer Bildungen in der höhern Stufe des
Mythus. Diese Ueberreste sind aber ein großer Vortheil für eine Kunst,
welche für alles Ungefüge, Wilde, Unheimliche, furchtbar oder komisch
Häßliche eine eigene Ablagerungsstelle bedarf, wo es, aus dem rei-
nen Kreise des geläuterten Menschlichen ausgeschieden, eine Art besonde-
rer Idealität für sich entwickeln kann. Den einmal ergriffenen Stoff gilt
es denn ebenso auf die Schönheitslinie zurückzuführen, wie jene schwächern
Ueberbleibsel der Symbolik: die Hörner-Reste des Bacchus u. s. w. Alle
Verbindung fremdartig organischer Formen ist eigentlich unschön; die
Griechen haben aber die Verbindungsstellen, z. B. den Punct, wo Men-
schenleib und Thierleib in einander übergeht, in so schön geschwungenen
Linien behandelt, daß man das Unnatürliche vergißt, ja in die Täuschung
einer wirklichen Erweiterung der Naturreiche versetzt wird. Es ist jedoch
nicht blos von den Alten die Rede; die Bildnerkunst wird für alle Zeit

d. h. die in Handlung geſetzte Porträtdarſtellung, wird von dem Mythiſchen auf
einen ſchmalen Spielraum gedrängt, aber auch ſtellvertretend erſetzt und die Art
dieſes Erſatzes bewirkt zugleich, daß der Gegenſatz zwiſchen dem allgemein
Menſchlichen und Geſchichtlichen flüſſig wird.

1. Wir beginnen die weitern Theilungen mit derjenigen, die ihren Grund
hat in den Unterſchieden der Phantaſie, wie ſie im Ganzen und Großen
auf eines der Hauptgebiete der urſprünglichen Stoffwelt bezogen ſind.
Zuerſt tritt das Landſchaftliche auf; §. 599 hat die techniſchen Gründe
gezeigt, warum es aus der Sculptur wegfällt; nun aber handelt es ſich
nicht mehr von techniſchen Hinderniſſen, ſondern von einem poſitiven in-
nern Grund, und zu dieſem führt das, was zu §. 612 von andeutenden
Hülfen zur Bezeichnung der Landſchaft geſagt iſt. In der That aber iſt
derſelbe ſchon zu §. 437, 1. ausgeſprochen: „Der Gott ſog die Landſchaft
in ſich auf“ u. ſ. w., und dann in der letzten, tiefſten Beſtimmung über
das Weſen der Perſönlichkeit in der bildneriſchen Darſtellung §. 606.
Die techniſchen Hinderniſſe ſind die frei geſetzten Schranken einer Kunſt,
die keine Landſchaft braucht, weil ſie dieſelbe als Seele des Gottes ſchon
hat. Drücken wir denſelben Satz pſychologiſch aus, ſo erhellt, daß eine
auf naive Einheit des Geiſtes und der Natur gewieſene Phantaſie nicht
die ſentimentale Beziehung zu der landſchaftlichen Schönheit haben kann,
welche eine gegenſätzliche Spannung zwiſchen jenen beiden Welten und
einen daraus fließenden Reiz vorausſetzt; ebendieſe Form des Geiſtes
ſieht aber die geſammte Natur im Menſchenbilde zuſammengefaßt und das
ideale Menſchenbild iſt der Gott.

2. Die Fabelweſen, worin Thier und Menſch, Thier und Thier
zuſammengeſetzt war, Centauren, Meer- und Flußgötter, Faunen, Greife
u. ſ. w., ſind Ueberreſte ſymboliſcher Bildungen in der höhern Stufe des
Mythus. Dieſe Ueberreſte ſind aber ein großer Vortheil für eine Kunſt,
welche für alles Ungefüge, Wilde, Unheimliche, furchtbar oder komiſch
Häßliche eine eigene Ablagerungsſtelle bedarf, wo es, aus dem rei-
nen Kreiſe des geläuterten Menſchlichen ausgeſchieden, eine Art beſonde-
rer Idealität für ſich entwickeln kann. Den einmal ergriffenen Stoff gilt
es denn ebenſo auf die Schönheitslinie zurückzuführen, wie jene ſchwächern
Ueberbleibſel der Symbolik: die Hörner-Reſte des Bacchus u. ſ. w. Alle
Verbindung fremdartig organiſcher Formen iſt eigentlich unſchön; die
Griechen haben aber die Verbindungsſtellen, z. B. den Punct, wo Men-
ſchenleib und Thierleib in einander übergeht, in ſo ſchön geſchwungenen
Linien behandelt, daß man das Unnatürliche vergißt, ja in die Täuſchung
einer wirklichen Erweiterung der Naturreiche verſetzt wird. Es iſt jedoch
nicht blos von den Alten die Rede; die Bildnerkunſt wird für alle Zeit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0130" n="456"/>
d. h. die in Handlung ge&#x017F;etzte Porträtdar&#x017F;tellung, wird von dem Mythi&#x017F;chen auf<lb/>
einen &#x017F;chmalen Spielraum gedrängt, aber auch &#x017F;tellvertretend er&#x017F;etzt und die Art<lb/>
die&#x017F;es Er&#x017F;atzes bewirkt zugleich, daß der Gegen&#x017F;atz zwi&#x017F;chen dem allgemein<lb/>
Men&#x017F;chlichen und Ge&#x017F;chichtlichen flü&#x017F;&#x017F;ig wird.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">1. Wir beginnen die weitern Theilungen mit derjenigen, die ihren Grund<lb/>
hat in den Unter&#x017F;chieden der Phanta&#x017F;ie, wie &#x017F;ie im Ganzen und Großen<lb/>
auf eines der Hauptgebiete der ur&#x017F;prünglichen Stoffwelt bezogen &#x017F;ind.<lb/>
Zuer&#x017F;t tritt das <hi rendition="#g">Land&#x017F;chaftliche</hi> auf; §. 599 hat die techni&#x017F;chen Gründe<lb/>
gezeigt, warum es aus der Sculptur wegfällt; nun aber handelt es &#x017F;ich<lb/>
nicht mehr von techni&#x017F;chen Hinderni&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ondern von einem po&#x017F;itiven in-<lb/>
nern Grund, und zu die&#x017F;em führt das, was zu §. 612 von andeutenden<lb/>
Hülfen zur Bezeichnung der Land&#x017F;chaft ge&#x017F;agt i&#x017F;t. In der That aber i&#x017F;t<lb/>
der&#x017F;elbe &#x017F;chon zu §. 437, <hi rendition="#sub">1.</hi> ausge&#x017F;prochen: &#x201E;Der Gott &#x017F;og die Land&#x017F;chaft<lb/>
in &#x017F;ich auf&#x201C; u. &#x017F;. w., und dann in der letzten, tief&#x017F;ten Be&#x017F;timmung über<lb/>
das We&#x017F;en der Per&#x017F;önlichkeit in der bildneri&#x017F;chen Dar&#x017F;tellung §. 606.<lb/>
Die techni&#x017F;chen Hinderni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ind die frei ge&#x017F;etzten Schranken einer Kun&#x017F;t,<lb/>
die keine Land&#x017F;chaft braucht, weil &#x017F;ie die&#x017F;elbe als Seele des Gottes &#x017F;chon<lb/>
hat. Drücken wir den&#x017F;elben Satz p&#x017F;ychologi&#x017F;ch aus, &#x017F;o erhellt, daß eine<lb/>
auf naive Einheit des Gei&#x017F;tes und der Natur gewie&#x017F;ene Phanta&#x017F;ie nicht<lb/>
die &#x017F;entimentale Beziehung zu der land&#x017F;chaftlichen Schönheit haben kann,<lb/>
welche eine gegen&#x017F;ätzliche Spannung zwi&#x017F;chen jenen beiden Welten und<lb/>
einen daraus fließenden Reiz voraus&#x017F;etzt; ebendie&#x017F;e Form des Gei&#x017F;tes<lb/>
&#x017F;ieht aber die ge&#x017F;ammte Natur im Men&#x017F;chenbilde zu&#x017F;ammengefaßt und das<lb/>
ideale Men&#x017F;chenbild i&#x017F;t der Gott.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">2. Die Fabelwe&#x017F;en, worin Thier und Men&#x017F;ch, Thier und Thier<lb/>
zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzt war, Centauren, Meer- und Flußgötter, Faunen, Greife<lb/>
u. &#x017F;. w., &#x017F;ind Ueberre&#x017F;te &#x017F;ymboli&#x017F;cher Bildungen in der höhern Stufe des<lb/>
Mythus. Die&#x017F;e Ueberre&#x017F;te &#x017F;ind aber ein großer Vortheil für eine Kun&#x017F;t,<lb/>
welche für alles Ungefüge, Wilde, Unheimliche, furchtbar oder komi&#x017F;ch<lb/>
Häßliche eine eigene Ablagerungs&#x017F;telle bedarf, wo es, aus dem rei-<lb/>
nen Krei&#x017F;e des geläuterten Men&#x017F;chlichen ausge&#x017F;chieden, eine Art be&#x017F;onde-<lb/>
rer Idealität für &#x017F;ich entwickeln kann. Den einmal ergriffenen Stoff gilt<lb/>
es denn eben&#x017F;o auf die Schönheitslinie zurückzuführen, wie jene &#x017F;chwächern<lb/>
Ueberbleib&#x017F;el der Symbolik: die Hörner-Re&#x017F;te des Bacchus u. &#x017F;. w. Alle<lb/>
Verbindung fremdartig organi&#x017F;cher Formen i&#x017F;t eigentlich un&#x017F;chön; die<lb/>
Griechen haben aber die Verbindungs&#x017F;tellen, z. B. den Punct, wo Men-<lb/>
&#x017F;chenleib und Thierleib in einander übergeht, in &#x017F;o &#x017F;chön ge&#x017F;chwungenen<lb/>
Linien behandelt, daß man das Unnatürliche vergißt, ja in die Täu&#x017F;chung<lb/>
einer wirklichen Erweiterung der Naturreiche ver&#x017F;etzt wird. Es i&#x017F;t jedoch<lb/>
nicht blos von den Alten die Rede; die Bildnerkun&#x017F;t wird für alle Zeit<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[456/0130] d. h. die in Handlung geſetzte Porträtdarſtellung, wird von dem Mythiſchen auf einen ſchmalen Spielraum gedrängt, aber auch ſtellvertretend erſetzt und die Art dieſes Erſatzes bewirkt zugleich, daß der Gegenſatz zwiſchen dem allgemein Menſchlichen und Geſchichtlichen flüſſig wird. 1. Wir beginnen die weitern Theilungen mit derjenigen, die ihren Grund hat in den Unterſchieden der Phantaſie, wie ſie im Ganzen und Großen auf eines der Hauptgebiete der urſprünglichen Stoffwelt bezogen ſind. Zuerſt tritt das Landſchaftliche auf; §. 599 hat die techniſchen Gründe gezeigt, warum es aus der Sculptur wegfällt; nun aber handelt es ſich nicht mehr von techniſchen Hinderniſſen, ſondern von einem poſitiven in- nern Grund, und zu dieſem führt das, was zu §. 612 von andeutenden Hülfen zur Bezeichnung der Landſchaft geſagt iſt. In der That aber iſt derſelbe ſchon zu §. 437, 1. ausgeſprochen: „Der Gott ſog die Landſchaft in ſich auf“ u. ſ. w., und dann in der letzten, tiefſten Beſtimmung über das Weſen der Perſönlichkeit in der bildneriſchen Darſtellung §. 606. Die techniſchen Hinderniſſe ſind die frei geſetzten Schranken einer Kunſt, die keine Landſchaft braucht, weil ſie dieſelbe als Seele des Gottes ſchon hat. Drücken wir denſelben Satz pſychologiſch aus, ſo erhellt, daß eine auf naive Einheit des Geiſtes und der Natur gewieſene Phantaſie nicht die ſentimentale Beziehung zu der landſchaftlichen Schönheit haben kann, welche eine gegenſätzliche Spannung zwiſchen jenen beiden Welten und einen daraus fließenden Reiz vorausſetzt; ebendieſe Form des Geiſtes ſieht aber die geſammte Natur im Menſchenbilde zuſammengefaßt und das ideale Menſchenbild iſt der Gott. 2. Die Fabelweſen, worin Thier und Menſch, Thier und Thier zuſammengeſetzt war, Centauren, Meer- und Flußgötter, Faunen, Greife u. ſ. w., ſind Ueberreſte ſymboliſcher Bildungen in der höhern Stufe des Mythus. Dieſe Ueberreſte ſind aber ein großer Vortheil für eine Kunſt, welche für alles Ungefüge, Wilde, Unheimliche, furchtbar oder komiſch Häßliche eine eigene Ablagerungsſtelle bedarf, wo es, aus dem rei- nen Kreiſe des geläuterten Menſchlichen ausgeſchieden, eine Art beſonde- rer Idealität für ſich entwickeln kann. Den einmal ergriffenen Stoff gilt es denn ebenſo auf die Schönheitslinie zurückzuführen, wie jene ſchwächern Ueberbleibſel der Symbolik: die Hörner-Reſte des Bacchus u. ſ. w. Alle Verbindung fremdartig organiſcher Formen iſt eigentlich unſchön; die Griechen haben aber die Verbindungsſtellen, z. B. den Punct, wo Men- ſchenleib und Thierleib in einander übergeht, in ſo ſchön geſchwungenen Linien behandelt, daß man das Unnatürliche vergißt, ja in die Täuſchung einer wirklichen Erweiterung der Naturreiche verſetzt wird. Es iſt jedoch nicht blos von den Alten die Rede; die Bildnerkunſt wird für alle Zeit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/130
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/130>, abgerufen am 31.10.2024.