Tongeschlecht, während Moll in Folge seines gedämpften, gedrückten Charakters den Typus abstracter, rein in sich und in ihre Zustände versenkter Subjectivität repräsentirt und ebendarum selbst eine individuellere, beschränktere Form ist.
Der Unterschied von Dur und Moll erstreckt sich natürlich nicht blos auf die Leiter und nicht blos auf die Hauptintervalle in ihrem Nacheinander, sondern auch auf sie in ihrem Zugleich oder auf die Accorde; Moll hat vor Allem, was hier vorausgenommen werden muß, den Grundaccord aller Harmonie, den Dreiklang auf den Grundton der Leiter (135), deßgleichen den Dreiklang auf der Quart mit der kleinen Terz, so daß schon hiedurch auch der Harmonie des Moll das Gepräge des Zurückgehaltenen, Gedämpften, Herabgestimmten, obwohl damit auch einer gewissen Bedeutsamkeit aufgedrückt wird, die eben in der Verschiebung der Harmonie, in der Abweichung von dem gewöhnlichen und natürlichen Stimmungsausdruck unmittelbar gegeben ist. Dur und Moll sind daher völlig verschiedene Tongeschlechter, so ver- schieden wie Licht und Dämmerung, frohe Kraft und gedrückte Weichheit oder Wehmuth, worüber schon in §. 753 das Genauere ausgesprochen ist. In dem dort Gesagten ist bereits angedeutet, daß Moll nicht gerade blos das Traurige, Weiche, sondern überhaupt das "Verhüllte" der Stimmung ist, das Versenktsein des Subjects in eine Stimmung, der es sich nicht zu entwinden vermag, durch die es gebunden, an einfach freiem und kräftigem Heraustreten aus sich gehindert ist. Moll repräsentirt das durch irgend etwas in sich zurückgeworfene, nicht frei in die Welt schauende, in sich gekehrte, mit etwas kämpfende Subject; es ist ebendamit abstract subjectiv, es ist nicht das der Objectivität geöffnete, sondern unfrei in sich reflectirte, zurückgedrängte Gefühl, es ist das Gefühl in einseitiger Subjectivität. In Dur klingt nicht von vornherein eine besondere Stimmung an, es ist Gefühl, Erregung überhaupt, die ihren bestimmtern Inhalt erst durch den Charakter des einzelnen Tonwerks erhält; aus Moll aber tönt gleich mit dem ersten Klange dieß Subjective der Stimmung heraus, es sagt uns alsbald, daß wir das Subject vor uns haben als von einer besondern Stimmung befangen, beherrscht, gepreßt, und so tritt denn zugleich über- haupt das Subjective, das Empfinden als solches in Moll spezifisch hervor. Hierin liegt nun sowohl seine Berechtigung als seine untergeordnete Stellung. Die Musik wäre nicht Musik, nicht Kunst der Empfindung, wenn sie nicht auch Mittel hätte, die Empfindung in ihrer Macht über das Ich, das Subject als rein in sich selbst und sein Fühlen versenkt darzustellen; bloßes Dur wäre, wie alles einfach Schöne, zu farblos, zu klar; die helle Färbung fordert als Complement die dunkle, wenn sie nicht eintönig und fade werden will; kurz es muß auch Darstellungen geben, in welchen der einfach leichte, freie Gang der Musik, wie ihn Dur repräsentirt, verstellt, verschoben,
Tongeſchlecht, während Moll in Folge ſeines gedämpften, gedrückten Charakters den Typus abſtracter, rein in ſich und in ihre Zuſtände verſenkter Subjectivität repräſentirt und ebendarum ſelbſt eine individuellere, beſchränktere Form iſt.
Der Unterſchied von Dur und Moll erſtreckt ſich natürlich nicht blos auf die Leiter und nicht blos auf die Hauptintervalle in ihrem Nacheinander, ſondern auch auf ſie in ihrem Zugleich oder auf die Accorde; Moll hat vor Allem, was hier vorausgenommen werden muß, den Grundaccord aller Harmonie, den Dreiklang auf den Grundton der Leiter (135), deßgleichen den Dreiklang auf der Quart mit der kleinen Terz, ſo daß ſchon hiedurch auch der Harmonie des Moll das Gepräge des Zurückgehaltenen, Gedämpften, Herabgeſtimmten, obwohl damit auch einer gewiſſen Bedeutſamkeit aufgedrückt wird, die eben in der Verſchiebung der Harmonie, in der Abweichung von dem gewöhnlichen und natürlichen Stimmungsausdruck unmittelbar gegeben iſt. Dur und Moll ſind daher völlig verſchiedene Tongeſchlechter, ſo ver- ſchieden wie Licht und Dämmerung, frohe Kraft und gedrückte Weichheit oder Wehmuth, worüber ſchon in §. 753 das Genauere ausgeſprochen iſt. In dem dort Geſagten iſt bereits angedeutet, daß Moll nicht gerade blos das Traurige, Weiche, ſondern überhaupt das „Verhüllte“ der Stimmung iſt, das Verſenktſein des Subjects in eine Stimmung, der es ſich nicht zu entwinden vermag, durch die es gebunden, an einfach freiem und kräftigem Heraustreten aus ſich gehindert iſt. Moll repräſentirt das durch irgend etwas in ſich zurückgeworfene, nicht frei in die Welt ſchauende, in ſich gekehrte, mit etwas kämpfende Subject; es iſt ebendamit abſtract ſubjectiv, es iſt nicht das der Objectivität geöffnete, ſondern unfrei in ſich reflectirte, zurückgedrängte Gefühl, es iſt das Gefühl in einſeitiger Subjectivität. In Dur klingt nicht von vornherein eine beſondere Stimmung an, es iſt Gefühl, Erregung überhaupt, die ihren beſtimmtern Inhalt erſt durch den Charakter des einzelnen Tonwerks erhält; aus Moll aber tönt gleich mit dem erſten Klange dieß Subjective der Stimmung heraus, es ſagt uns alsbald, daß wir das Subject vor uns haben als von einer beſondern Stimmung befangen, beherrſcht, gepreßt, und ſo tritt denn zugleich über- haupt das Subjective, das Empfinden als ſolches in Moll ſpezifiſch hervor. Hierin liegt nun ſowohl ſeine Berechtigung als ſeine untergeordnete Stellung. Die Muſik wäre nicht Muſik, nicht Kunſt der Empfindung, wenn ſie nicht auch Mittel hätte, die Empfindung in ihrer Macht über das Ich, das Subject als rein in ſich ſelbſt und ſein Fühlen verſenkt darzuſtellen; bloßes Dur wäre, wie alles einfach Schöne, zu farblos, zu klar; die helle Färbung fordert als Complement die dunkle, wenn ſie nicht eintönig und fade werden will; kurz es muß auch Darſtellungen geben, in welchen der einfach leichte, freie Gang der Muſik, wie ihn Dur repräſentirt, verſtellt, verſchoben,
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Tongeſchlecht, während Moll in Folge ſeines gedämpften, gedrückten Charakters
den Typus abſtracter, rein in ſich und in ihre Zuſtände verſenkter Subjectivität
repräſentirt und ebendarum ſelbſt eine individuellere, beſchränktere Form iſt.
Der Unterſchied von Dur und Moll erſtreckt ſich natürlich nicht blos
auf die Leiter und nicht blos auf die Hauptintervalle in ihrem Nacheinander,
ſondern auch auf ſie in ihrem Zugleich oder auf die Accorde; Moll hat vor
Allem, was hier vorausgenommen werden muß, den Grundaccord aller
Harmonie, den Dreiklang auf den Grundton der Leiter (135), deßgleichen
den Dreiklang auf der Quart mit der kleinen Terz, ſo daß ſchon hiedurch auch
der Harmonie des Moll das Gepräge des Zurückgehaltenen, Gedämpften,
Herabgeſtimmten, obwohl damit auch einer gewiſſen Bedeutſamkeit aufgedrückt
wird, die eben in der Verſchiebung der Harmonie, in der Abweichung von
dem gewöhnlichen und natürlichen Stimmungsausdruck unmittelbar gegeben
iſt. Dur und Moll ſind daher völlig verſchiedene Tongeſchlechter, ſo ver-
ſchieden wie Licht und Dämmerung, frohe Kraft und gedrückte Weichheit
oder Wehmuth, worüber ſchon in §. 753 das Genauere ausgeſprochen iſt.
In dem dort Geſagten iſt bereits angedeutet, daß Moll nicht gerade blos
das Traurige, Weiche, ſondern überhaupt das „Verhüllte“ der Stimmung
iſt, das Verſenktſein des Subjects in eine Stimmung, der es ſich nicht zu
entwinden vermag, durch die es gebunden, an einfach freiem und kräftigem
Heraustreten aus ſich gehindert iſt. Moll repräſentirt das durch irgend
etwas in ſich zurückgeworfene, nicht frei in die Welt ſchauende, in ſich
gekehrte, mit etwas kämpfende Subject; es iſt ebendamit abſtract ſubjectiv,
es iſt nicht das der Objectivität geöffnete, ſondern unfrei in ſich reflectirte,
zurückgedrängte Gefühl, es iſt das Gefühl in einſeitiger Subjectivität. In
Dur klingt nicht von vornherein eine beſondere Stimmung an, es iſt
Gefühl, Erregung überhaupt, die ihren beſtimmtern Inhalt erſt durch den
Charakter des einzelnen Tonwerks erhält; aus Moll aber tönt gleich mit
dem erſten Klange dieß Subjective der Stimmung heraus, es ſagt uns
alsbald, daß wir das Subject vor uns haben als von einer beſondern
Stimmung befangen, beherrſcht, gepreßt, und ſo tritt denn zugleich über-
haupt das Subjective, das Empfinden als ſolches in Moll ſpezifiſch hervor.
Hierin liegt nun ſowohl ſeine Berechtigung als ſeine untergeordnete Stellung.
Die Muſik wäre nicht Muſik, nicht Kunſt der Empfindung, wenn ſie nicht
auch Mittel hätte, die Empfindung in ihrer Macht über das Ich, das
Subject als rein in ſich ſelbſt und ſein Fühlen verſenkt darzuſtellen; bloßes
Dur wäre, wie alles einfach Schöne, zu farblos, zu klar; die helle Färbung
fordert als Complement die dunkle, wenn ſie nicht eintönig und fade werden
will; kurz es muß auch Darſtellungen geben, in welchen der einfach leichte,
freie Gang der Muſik, wie ihn Dur repräſentirt, verſtellt, verſchoben,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 870. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/108>, abgerufen am 01.11.2024.
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