Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

schroffer. Es ergibt sich so rücksichtlich der Anwendung dieser Accord-
gattungen ein Unterschied zwischen einer strengern und weichern Schreibart,
deren erstere sich möglichst auf die Dreiklänge beschränkt, die zweite mit
Vorliebe der Septimen- und chromatischen Accorde sich bedient; es ist dieß
nichts Anderes als ein Unterschied zwischen directem und indirectem Idea-
lismus in der Harmonie, auf den der folgende §. noch näher eingehen wird.

§. 775.

1.

Während die entweder stetig gerade fortlaufende oder in verschiedenen
Tonlagen und Intervallen hinundhergehende Bewegung auf der Tonleiter in der
Musik das Moment des Linearen, des Umrisses vertritt, das Moment, aus
welchem die Melodie sich bildet, vertritt die Harmonie das malerische Moment;
sie entspricht dem, was in der Malerei Licht- und Schattengebung, Helldunkel,
Färbung ist; sie erhöht die Bestimmtheit und den Ausdruck der Tonbewegung,
und sie ist dazu da, Fülle und Wärme, sowie strenge Einheit, continuirliche
2.Verknüpfung, Verschmelzung und Weichheit in sie zu bringen. An das Melo-
dische knüpft sich in der Musik vorzugsweise, jedoch keineswegs in ausschließender
3.Weise, der directe Idealismus an, an die Harmonie der indirecte, wie sie auch
dasjenige Element der Musik ist, das durch die mit ihr gegebene Möglichkeit
selbständiger Stimmenführung dem Prinzip der Individualisirung Rechnung trägt.

1. Als Hauptelemente des Tonmaterials haben sich bis jetzt ergeben
die Bewegung auf den Einzeltönen der Scala und die Vereinigung der
Töne zu Zusammenklängen und Accorden; es ist nun zunächst anzugeben,
wie sich diese beiden Elemente zu einander verhalten, und welche Bedeutung
insbesondere dem zweiten, der Harmonie, zukomme. Die Bewegung auf
der Scala durch Ganz- oder Halbtöne, durch größere oder kleinere Inter-
valle ist das, wovon alle Musik ausgeht. Es ist natürlich, daß der Mensch,
der seiner Stimmung in Tönen Luft macht, oder den ein musikalisches In-
strument, eine Syrinx, Flöte u. s. w., zum Spiel einladet, zunächst an gar
nichts Anderes denkt, als an dieses Auf- und Abgehen in Tönen, an diesen
Wechsel der Hebung, Senkung, der abermaligen Hebung u. s. w., sei es
nun daß er damit direct eine Empfindung, die ihn gerade bewegt, aus-
drücken, jauchzen, klagen, oder daß er zunächst nur spielen, eine in sich
mannigfaltige Tonreihe hervorbringen will, deren Wendungen sein Gehör
und seine Phantasie, letztere bildend und nachbildend zugleich, so lange
folgen, bis ein Abschluß, ein Genughaben eintritt; sowohl die directe, sub-
jective Empfindungs- als die freiere objectivere spielende Musik ist zunächst
eben Tonwechsel, Tonreihe, Scalenbewegung, sei es nun continuirlich in
geradem Tongange oder Lauf, oder discontinuirlich zwischen größern Inter-

ſchroffer. Es ergibt ſich ſo rückſichtlich der Anwendung dieſer Accord-
gattungen ein Unterſchied zwiſchen einer ſtrengern und weichern Schreibart,
deren erſtere ſich möglichſt auf die Dreiklänge beſchränkt, die zweite mit
Vorliebe der Septimen- und chromatiſchen Accorde ſich bedient; es iſt dieß
nichts Anderes als ein Unterſchied zwiſchen directem und indirectem Idea-
liſmus in der Harmonie, auf den der folgende §. noch näher eingehen wird.

§. 775.

1.

Während die entweder ſtetig gerade fortlaufende oder in verſchiedenen
Tonlagen und Intervallen hinundhergehende Bewegung auf der Tonleiter in der
Muſik das Moment des Linearen, des Umriſſes vertritt, das Moment, aus
welchem die Melodie ſich bildet, vertritt die Harmonie das maleriſche Moment;
ſie entſpricht dem, was in der Malerei Licht- und Schattengebung, Helldunkel,
Färbung iſt; ſie erhöht die Beſtimmtheit und den Ausdruck der Tonbewegung,
und ſie iſt dazu da, Fülle und Wärme, ſowie ſtrenge Einheit, continuirliche
2.Verknüpfung, Verſchmelzung und Weichheit in ſie zu bringen. An das Melo-
diſche knüpft ſich in der Muſik vorzugsweiſe, jedoch keineswegs in ausſchließender
3.Weiſe, der directe Idealiſmus an, an die Harmonie der indirecte, wie ſie auch
dasjenige Element der Muſik iſt, das durch die mit ihr gegebene Möglichkeit
ſelbſtändiger Stimmenführung dem Prinzip der Individualiſirung Rechnung trägt.

1. Als Hauptelemente des Tonmaterials haben ſich bis jetzt ergeben
die Bewegung auf den Einzeltönen der Scala und die Vereinigung der
Töne zu Zuſammenklängen und Accorden; es iſt nun zunächſt anzugeben,
wie ſich dieſe beiden Elemente zu einander verhalten, und welche Bedeutung
insbeſondere dem zweiten, der Harmonie, zukomme. Die Bewegung auf
der Scala durch Ganz- oder Halbtöne, durch größere oder kleinere Inter-
valle iſt das, wovon alle Muſik ausgeht. Es iſt natürlich, daß der Menſch,
der ſeiner Stimmung in Tönen Luft macht, oder den ein muſikaliſches In-
ſtrument, eine Syrinx, Flöte u. ſ. w., zum Spiel einladet, zunächſt an gar
nichts Anderes denkt, als an dieſes Auf- und Abgehen in Tönen, an dieſen
Wechſel der Hebung, Senkung, der abermaligen Hebung u. ſ. w., ſei es
nun daß er damit direct eine Empfindung, die ihn gerade bewegt, aus-
drücken, jauchzen, klagen, oder daß er zunächſt nur ſpielen, eine in ſich
mannigfaltige Tonreihe hervorbringen will, deren Wendungen ſein Gehör
und ſeine Phantaſie, letztere bildend und nachbildend zugleich, ſo lange
folgen, bis ein Abſchluß, ein Genughaben eintritt; ſowohl die directe, ſub-
jective Empfindungs- als die freiere objectivere ſpielende Muſik iſt zunächſt
eben Tonwechſel, Tonreihe, Scalenbewegung, ſei es nun continuirlich in
geradem Tongange oder Lauf, oder discontinuirlich zwiſchen größern Inter-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0130" n="892"/>
&#x017F;chroffer. Es ergibt &#x017F;ich &#x017F;o rück&#x017F;ichtlich der Anwendung die&#x017F;er Accord-<lb/>
gattungen ein Unter&#x017F;chied zwi&#x017F;chen einer &#x017F;trengern und weichern Schreibart,<lb/>
deren er&#x017F;tere &#x017F;ich möglich&#x017F;t auf die Dreiklänge be&#x017F;chränkt, die zweite mit<lb/>
Vorliebe der Septimen- und chromati&#x017F;chen Accorde &#x017F;ich bedient; es i&#x017F;t dieß<lb/>
nichts Anderes als ein Unter&#x017F;chied zwi&#x017F;chen directem und indirectem Idea-<lb/>
li&#x017F;mus in der Harmonie, auf den der folgende §. noch näher eingehen wird.</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 775.</head><lb/>
              <note place="left"> <hi rendition="#fr">1.</hi> </note>
              <p> <hi rendition="#fr">Während die entweder &#x017F;tetig gerade fortlaufende oder in ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Tonlagen und Intervallen hinundhergehende Bewegung auf der Tonleiter in der<lb/>
Mu&#x017F;ik das Moment des Linearen, des Umri&#x017F;&#x017F;es vertritt, das Moment, aus<lb/>
welchem die Melodie &#x017F;ich bildet, vertritt die Harmonie das maleri&#x017F;che Moment;<lb/>
&#x017F;ie ent&#x017F;pricht dem, was in der Malerei Licht- und Schattengebung, Helldunkel,<lb/>
Färbung i&#x017F;t; &#x017F;ie erhöht die Be&#x017F;timmtheit und den Ausdruck der Tonbewegung,<lb/>
und &#x017F;ie i&#x017F;t dazu da, Fülle und Wärme, &#x017F;owie &#x017F;trenge Einheit, continuirliche<lb/><note place="left">2.</note>Verknüpfung, Ver&#x017F;chmelzung und Weichheit in &#x017F;ie zu bringen. An das Melo-<lb/>
di&#x017F;che knüpft &#x017F;ich in der Mu&#x017F;ik vorzugswei&#x017F;e, jedoch keineswegs in aus&#x017F;chließender<lb/><note place="left">3.</note>Wei&#x017F;e, der directe Ideali&#x017F;mus an, an die Harmonie der indirecte, wie &#x017F;ie auch<lb/>
dasjenige Element der Mu&#x017F;ik i&#x017F;t, das durch die mit ihr gegebene Möglichkeit<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;tändiger Stimmenführung dem Prinzip der Individuali&#x017F;irung Rechnung trägt.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">1. Als Hauptelemente des Tonmaterials haben &#x017F;ich bis jetzt ergeben<lb/>
die Bewegung auf den Einzeltönen der Scala und die Vereinigung der<lb/>
Töne zu Zu&#x017F;ammenklängen und Accorden; es i&#x017F;t nun zunäch&#x017F;t anzugeben,<lb/>
wie &#x017F;ich die&#x017F;e beiden Elemente zu einander verhalten, und welche Bedeutung<lb/>
insbe&#x017F;ondere dem zweiten, der Harmonie, zukomme. Die Bewegung auf<lb/>
der Scala durch Ganz- oder Halbtöne, durch größere oder kleinere Inter-<lb/>
valle i&#x017F;t das, wovon alle Mu&#x017F;ik ausgeht. Es i&#x017F;t natürlich, daß der Men&#x017F;ch,<lb/>
der &#x017F;einer Stimmung in Tönen Luft macht, oder den ein mu&#x017F;ikali&#x017F;ches In-<lb/>
&#x017F;trument, eine Syrinx, Flöte u. &#x017F;. w., zum Spiel einladet, zunäch&#x017F;t an gar<lb/>
nichts Anderes denkt, als an die&#x017F;es Auf- und Abgehen in Tönen, an die&#x017F;en<lb/>
Wech&#x017F;el der Hebung, Senkung, der abermaligen Hebung u. &#x017F;. w., &#x017F;ei es<lb/>
nun daß er damit direct eine Empfindung, die ihn gerade bewegt, aus-<lb/>
drücken, jauchzen, klagen, oder daß er zunäch&#x017F;t nur &#x017F;pielen, eine in &#x017F;ich<lb/>
mannigfaltige Tonreihe hervorbringen will, deren Wendungen &#x017F;ein Gehör<lb/>
und &#x017F;eine Phanta&#x017F;ie, letztere bildend und nachbildend zugleich, &#x017F;o lange<lb/>
folgen, bis ein Ab&#x017F;chluß, ein Genughaben eintritt; &#x017F;owohl die directe, &#x017F;ub-<lb/>
jective Empfindungs- als die freiere objectivere &#x017F;pielende Mu&#x017F;ik i&#x017F;t zunäch&#x017F;t<lb/>
eben Tonwech&#x017F;el, Tonreihe, Scalenbewegung, &#x017F;ei es nun continuirlich in<lb/>
geradem Tongange oder Lauf, oder discontinuirlich zwi&#x017F;chen größern Inter-<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[892/0130] ſchroffer. Es ergibt ſich ſo rückſichtlich der Anwendung dieſer Accord- gattungen ein Unterſchied zwiſchen einer ſtrengern und weichern Schreibart, deren erſtere ſich möglichſt auf die Dreiklänge beſchränkt, die zweite mit Vorliebe der Septimen- und chromatiſchen Accorde ſich bedient; es iſt dieß nichts Anderes als ein Unterſchied zwiſchen directem und indirectem Idea- liſmus in der Harmonie, auf den der folgende §. noch näher eingehen wird. §. 775. Während die entweder ſtetig gerade fortlaufende oder in verſchiedenen Tonlagen und Intervallen hinundhergehende Bewegung auf der Tonleiter in der Muſik das Moment des Linearen, des Umriſſes vertritt, das Moment, aus welchem die Melodie ſich bildet, vertritt die Harmonie das maleriſche Moment; ſie entſpricht dem, was in der Malerei Licht- und Schattengebung, Helldunkel, Färbung iſt; ſie erhöht die Beſtimmtheit und den Ausdruck der Tonbewegung, und ſie iſt dazu da, Fülle und Wärme, ſowie ſtrenge Einheit, continuirliche Verknüpfung, Verſchmelzung und Weichheit in ſie zu bringen. An das Melo- diſche knüpft ſich in der Muſik vorzugsweiſe, jedoch keineswegs in ausſchließender Weiſe, der directe Idealiſmus an, an die Harmonie der indirecte, wie ſie auch dasjenige Element der Muſik iſt, das durch die mit ihr gegebene Möglichkeit ſelbſtändiger Stimmenführung dem Prinzip der Individualiſirung Rechnung trägt. 1. Als Hauptelemente des Tonmaterials haben ſich bis jetzt ergeben die Bewegung auf den Einzeltönen der Scala und die Vereinigung der Töne zu Zuſammenklängen und Accorden; es iſt nun zunächſt anzugeben, wie ſich dieſe beiden Elemente zu einander verhalten, und welche Bedeutung insbeſondere dem zweiten, der Harmonie, zukomme. Die Bewegung auf der Scala durch Ganz- oder Halbtöne, durch größere oder kleinere Inter- valle iſt das, wovon alle Muſik ausgeht. Es iſt natürlich, daß der Menſch, der ſeiner Stimmung in Tönen Luft macht, oder den ein muſikaliſches In- ſtrument, eine Syrinx, Flöte u. ſ. w., zum Spiel einladet, zunächſt an gar nichts Anderes denkt, als an dieſes Auf- und Abgehen in Tönen, an dieſen Wechſel der Hebung, Senkung, der abermaligen Hebung u. ſ. w., ſei es nun daß er damit direct eine Empfindung, die ihn gerade bewegt, aus- drücken, jauchzen, klagen, oder daß er zunächſt nur ſpielen, eine in ſich mannigfaltige Tonreihe hervorbringen will, deren Wendungen ſein Gehör und ſeine Phantaſie, letztere bildend und nachbildend zugleich, ſo lange folgen, bis ein Abſchluß, ein Genughaben eintritt; ſowohl die directe, ſub- jective Empfindungs- als die freiere objectivere ſpielende Muſik iſt zunächſt eben Tonwechſel, Tonreihe, Scalenbewegung, ſei es nun continuirlich in geradem Tongange oder Lauf, oder discontinuirlich zwiſchen größern Inter-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/130
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 892. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/130>, abgerufen am 31.10.2024.