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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Individuen, endlich zwischen Scenen activen, vorherrschend thätigen, die
Handlung weiterführenden Charakters und hinwiederum solchen, welche mehr
abschließender Natur sind, indem in ihnen Resultate, durch die Actionen
motivirte Erfolge, Begebenheiten nebst lebendigem Ausdruck der durch sie
erregten passiven Stimmungen zu Tage treten. Daß somit an der bis-
herigen Form der Oper mit ihrem Wechsel von Ensemblestücken (besonders
stark bewegten, alle Kräfte zusammenführenden, große Abschnitte oder Ab-
schlüsse der Handlung darstellenden Finale's) und ein- oder mehrstimmigen
Solostücken nichts Wesentliches geändert werden, daß man aus der Oper
weder ein in einseitiger Erregtheit vorüberrauschendes Finale oder Massen-
drama, noch ein ohne reichern Scenenwechsel sich fortziehendes, mehr episches
als dramatisches Gewebe von unmelodisch recitativischen Dialogen kommender
und gehender Stimmen, wie man neuerdings will, machen kann, liegt am
Tage; selbst das blos musikbegleitete, der antiken Tragödie verwandte Drama
(§. 802), in welchem die musikalische Gedankenentwicklung der poetischen
untergeordnet und ihr nur zur Erhöhung des lyrischen Eindrucks beigegeben
wäre, könnte ohne Wechsel ein- und vielstimmiger Musikformen und ohne
geordnete scenische Disposition nicht bestehen.

In Betreff der Wahl der Stoffe für die Oper ergibt sich aus der
Forderung, daß der Gefühlsgehalt überwiege und überall heraustrete, vor
Allem das Negative, daß aus ihr Handlungen, die zum Gesungenwerden
untauglich sind, und Personen, denen ihrer ganzen Natur nach das Singen,
das gemüthbewegte Aufgehen in musikalischen Gefühlserguß nicht beigelegt
werden kann, steife Charaktere, prosaische Rechner, reisende Engländer mit
Regenschirm und Shawl, betrogene Betrüger, falsche Propheten, bei denen
singender Herzenserguß nur noch eine Lüge weiter ist, überallhin, nur nicht
in die Oper, gehören. Gefühlerwärmte Handlung und gefühlwarme Personen
können hier allein auftreten; wie alle Musik Bild des Lebens ist, so muß
vor Allem in der Oper der frische Pulsschlag wirklichen Lebens herrschen,
wenn sie nicht eine widersprechende und widerliche Fiction, eine bemalte
Statue, eine geschminkte Kokette sein soll. Es ist in ihr wahrlich schon
Fiction genug, da sie den natürlichen Wortausdruck in einen erhöhten
Stimmungsausdruck umsetzt; diese Fiction ist nur dann nicht unwahr, wenn
in den Personen ein so erregtes und bewegtes Leben ist, daß der erhöhte
Stimmungsausdruck für sie als der natürliche, d. h. als ein Ausdruck
erscheint, der deßwegen an die Stelle des gewöhnlichen trete, weil das leb-
hafter wogende Gefühl zu einer stärkeren, die Schranken der Gewohnheit
und Convention, die Nüchternheit der Reflexion durchbrechenden Aeußerungs-
weise dränge. In dieser Beziehung ist schon die komische Oper weit
beschränkter als das komische Drama; die reflectirtere Komik des Verstandes,
des Witzes, der Intrigue ist von ihr ausgeschlossen, ihre Sphäre ist die

Individuen, endlich zwiſchen Scenen activen, vorherrſchend thätigen, die
Handlung weiterführenden Charakters und hinwiederum ſolchen, welche mehr
abſchließender Natur ſind, indem in ihnen Reſultate, durch die Actionen
motivirte Erfolge, Begebenheiten nebſt lebendigem Ausdruck der durch ſie
erregten paſſiven Stimmungen zu Tage treten. Daß ſomit an der bis-
herigen Form der Oper mit ihrem Wechſel von Enſembleſtücken (beſonders
ſtark bewegten, alle Kräfte zuſammenführenden, große Abſchnitte oder Ab-
ſchlüſſe der Handlung darſtellenden Finale’s) und ein- oder mehrſtimmigen
Soloſtücken nichts Weſentliches geändert werden, daß man aus der Oper
weder ein in einſeitiger Erregtheit vorüberrauſchendes Finale oder Maſſen-
drama, noch ein ohne reichern Scenenwechſel ſich fortziehendes, mehr epiſches
als dramatiſches Gewebe von unmelodiſch recitativiſchen Dialogen kommender
und gehender Stimmen, wie man neuerdings will, machen kann, liegt am
Tage; ſelbſt das blos muſikbegleitete, der antiken Tragödie verwandte Drama
(§. 802), in welchem die muſikaliſche Gedankenentwicklung der poetiſchen
untergeordnet und ihr nur zur Erhöhung des lyriſchen Eindrucks beigegeben
wäre, könnte ohne Wechſel ein- und vielſtimmiger Muſikformen und ohne
geordnete ſceniſche Dispoſition nicht beſtehen.

In Betreff der Wahl der Stoffe für die Oper ergibt ſich aus der
Forderung, daß der Gefühlsgehalt überwiege und überall heraustrete, vor
Allem das Negative, daß aus ihr Handlungen, die zum Geſungenwerden
untauglich ſind, und Perſonen, denen ihrer ganzen Natur nach das Singen,
das gemüthbewegte Aufgehen in muſikaliſchen Gefühlserguß nicht beigelegt
werden kann, ſteife Charaktere, proſaiſche Rechner, reiſende Engländer mit
Regenſchirm und Shawl, betrogene Betrüger, falſche Propheten, bei denen
ſingender Herzenserguß nur noch eine Lüge weiter iſt, überallhin, nur nicht
in die Oper, gehören. Gefühlerwärmte Handlung und gefühlwarme Perſonen
können hier allein auftreten; wie alle Muſik Bild des Lebens iſt, ſo muß
vor Allem in der Oper der friſche Pulsſchlag wirklichen Lebens herrſchen,
wenn ſie nicht eine widerſprechende und widerliche Fiction, eine bemalte
Statue, eine geſchminkte Kokette ſein ſoll. Es iſt in ihr wahrlich ſchon
Fiction genug, da ſie den natürlichen Wortausdruck in einen erhöhten
Stimmungsausdruck umſetzt; dieſe Fiction iſt nur dann nicht unwahr, wenn
in den Perſonen ein ſo erregtes und bewegtes Leben iſt, daß der erhöhte
Stimmungsausdruck für ſie als der natürliche, d. h. als ein Ausdruck
erſcheint, der deßwegen an die Stelle des gewöhnlichen trete, weil das leb-
hafter wogende Gefühl zu einer ſtärkeren, die Schranken der Gewohnheit
und Convention, die Nüchternheit der Reflexion durchbrechenden Aeußerungs-
weiſe dränge. In dieſer Beziehung iſt ſchon die komiſche Oper weit
beſchränkter als das komiſche Drama; die reflectirtere Komik des Verſtandes,
des Witzes, der Intrigue iſt von ihr ausgeſchloſſen, ihre Sphäre iſt die

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[1116/0354] Individuen, endlich zwiſchen Scenen activen, vorherrſchend thätigen, die Handlung weiterführenden Charakters und hinwiederum ſolchen, welche mehr abſchließender Natur ſind, indem in ihnen Reſultate, durch die Actionen motivirte Erfolge, Begebenheiten nebſt lebendigem Ausdruck der durch ſie erregten paſſiven Stimmungen zu Tage treten. Daß ſomit an der bis- herigen Form der Oper mit ihrem Wechſel von Enſembleſtücken (beſonders ſtark bewegten, alle Kräfte zuſammenführenden, große Abſchnitte oder Ab- ſchlüſſe der Handlung darſtellenden Finale’s) und ein- oder mehrſtimmigen Soloſtücken nichts Weſentliches geändert werden, daß man aus der Oper weder ein in einſeitiger Erregtheit vorüberrauſchendes Finale oder Maſſen- drama, noch ein ohne reichern Scenenwechſel ſich fortziehendes, mehr epiſches als dramatiſches Gewebe von unmelodiſch recitativiſchen Dialogen kommender und gehender Stimmen, wie man neuerdings will, machen kann, liegt am Tage; ſelbſt das blos muſikbegleitete, der antiken Tragödie verwandte Drama (§. 802), in welchem die muſikaliſche Gedankenentwicklung der poetiſchen untergeordnet und ihr nur zur Erhöhung des lyriſchen Eindrucks beigegeben wäre, könnte ohne Wechſel ein- und vielſtimmiger Muſikformen und ohne geordnete ſceniſche Dispoſition nicht beſtehen. In Betreff der Wahl der Stoffe für die Oper ergibt ſich aus der Forderung, daß der Gefühlsgehalt überwiege und überall heraustrete, vor Allem das Negative, daß aus ihr Handlungen, die zum Geſungenwerden untauglich ſind, und Perſonen, denen ihrer ganzen Natur nach das Singen, das gemüthbewegte Aufgehen in muſikaliſchen Gefühlserguß nicht beigelegt werden kann, ſteife Charaktere, proſaiſche Rechner, reiſende Engländer mit Regenſchirm und Shawl, betrogene Betrüger, falſche Propheten, bei denen ſingender Herzenserguß nur noch eine Lüge weiter iſt, überallhin, nur nicht in die Oper, gehören. Gefühlerwärmte Handlung und gefühlwarme Perſonen können hier allein auftreten; wie alle Muſik Bild des Lebens iſt, ſo muß vor Allem in der Oper der friſche Pulsſchlag wirklichen Lebens herrſchen, wenn ſie nicht eine widerſprechende und widerliche Fiction, eine bemalte Statue, eine geſchminkte Kokette ſein ſoll. Es iſt in ihr wahrlich ſchon Fiction genug, da ſie den natürlichen Wortausdruck in einen erhöhten Stimmungsausdruck umſetzt; dieſe Fiction iſt nur dann nicht unwahr, wenn in den Perſonen ein ſo erregtes und bewegtes Leben iſt, daß der erhöhte Stimmungsausdruck für ſie als der natürliche, d. h. als ein Ausdruck erſcheint, der deßwegen an die Stelle des gewöhnlichen trete, weil das leb- hafter wogende Gefühl zu einer ſtärkeren, die Schranken der Gewohnheit und Convention, die Nüchternheit der Reflexion durchbrechenden Aeußerungs- weiſe dränge. In dieſer Beziehung iſt ſchon die komiſche Oper weit beſchränkter als das komiſche Drama; die reflectirtere Komik des Verſtandes, des Witzes, der Intrigue iſt von ihr ausgeſchloſſen, ihre Sphäre iſt die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/354>, abgerufen am 31.10.2024.