Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

wie das Gesammtkunstwerk mit seinen geschlossenen Formen überhaupt; nicht
die Harmonie der Accorde, die immer etwas Undurchsichtiges hat und gerade
auch hiedurch auflösend und erweichend wirkt, sondern eine ideale Harmonie,
die Harmonie der Reinheit distincter Klänge, die Harmonie der klar durch-
sichtigen, direct symbolischen Stimmungsveranschaulichung, der Haltung und
der Gemessenheit war es, was man wollte; man verschmähte, weil man die
Musik wie die andern Künste plastisch auffaßte, ihr subjectives malerisches
Element, das nun einmal verschlungenere Tonbewegungen und Tonver-
knüpfungen fordert, als der Sinn des Alterthums in der Kunst, wo sie
öffentlich auftrat, es zuließ. Die Musik mußte aber mit diesem directen
Idealismus beginnen, der die Elemente der Tonwelt zuerst klar und scharf
unterschied (vergl. §. 769, 1,) und in ihnen einen unmittelbaren, einfach
schönen Stimmungsausdruck suchte; erst im Gegensatz zu der hiemit gegebenen
typischen Starrheit des unvermittelten Nebeneinanders scharf geschiedener Ton-
geschlechter und zu der Kälte und Leblosigkeit des monotonen Ein- und
Octavenklangs konnte sich der Schmelz, der modulatorische Fluß, die Weich-
heit und Lebendigkeit harmonischer Musik entwickeln.

§. 824.

Die Impulse, welche das Christenthum mit seinem das Gemüth im1.
Innersten erfassenden und aufschließenden Bewußtsein des ebenso tiefen als ewig
zur Versöhnung aufgehobenen Gegensatzes zwischen dem Endlichen und Unend-
lichen der empfindenden Phantasie gegeben hatte, schaffen nicht sogleich eine
wesentlich neue musikalische Kunstform. Die Kirche erhält die höhere Musik
und rettet sie aus dem Alterthum in's Mittelalter herüber, sie stellt den Aus-
druck als allein bestimmendes Prinzip auf, gibt dem Gesang mehr Innigkeit
und Feierlichkeit der Bewegung, aber hält ihn wiederum in typischen Formen
fest. Die Melodie bleibt Sprechgesang, in Noten von gleichem Zeitwerth fort-
schreitend (Cantus planus), einstimmig, die Anfänge zu harmonischer Begleitung
gehen wieder verloren. Allein endlich tritt eine Reaction ein gegen diese2.
Monotonie durch die Ausbildung der Harmonie, welche gegen den Ausgang
des Mittelalters zur Polyphonie fortschreitet. Die hiemit gegebene Möglichkeit
einer vollern und tiefern musikalischen Darstellung realisirt sich nur allmälig,
da die neugewonnene polyphone Harmonie zunächst gegen die Melodie sich ver-
selbständigt, gegen die Rücksicht auf den Stimmungsausdruck sich abschließt und
in eine leere Systematik, in eine abstracte Form ausartet, welche der Geist
zunächst noch nicht überall mit Gefühlsgehalt zu durchdringen vermag, welche
er aber beharrlich festhält und fortbildet, weil in ihr doch das Prinzip belebter
Individualisirung der Stimmführung und gesetzmäßigen Fortschritts der Ton-
folge vertreten ist.


73*

wie das Geſammtkunſtwerk mit ſeinen geſchloſſenen Formen überhaupt; nicht
die Harmonie der Accorde, die immer etwas Undurchſichtiges hat und gerade
auch hiedurch auflöſend und erweichend wirkt, ſondern eine ideale Harmonie,
die Harmonie der Reinheit diſtincter Klänge, die Harmonie der klar durch-
ſichtigen, direct ſymboliſchen Stimmungsveranſchaulichung, der Haltung und
der Gemeſſenheit war es, was man wollte; man verſchmähte, weil man die
Muſik wie die andern Künſte plaſtiſch auffaßte, ihr ſubjectives maleriſches
Element, das nun einmal verſchlungenere Tonbewegungen und Tonver-
knüpfungen fordert, als der Sinn des Alterthums in der Kunſt, wo ſie
öffentlich auftrat, es zuließ. Die Muſik mußte aber mit dieſem directen
Idealiſmus beginnen, der die Elemente der Tonwelt zuerſt klar und ſcharf
unterſchied (vergl. §. 769, 1,) und in ihnen einen unmittelbaren, einfach
ſchönen Stimmungsausdruck ſuchte; erſt im Gegenſatz zu der hiemit gegebenen
typiſchen Starrheit des unvermittelten Nebeneinanders ſcharf geſchiedener Ton-
geſchlechter und zu der Kälte und Lebloſigkeit des monotonen Ein- und
Octavenklangs konnte ſich der Schmelz, der modulatoriſche Fluß, die Weich-
heit und Lebendigkeit harmoniſcher Muſik entwickeln.

§. 824.

Die Impulſe, welche das Chriſtenthum mit ſeinem das Gemüth im1.
Innerſten erfaſſenden und aufſchließenden Bewußtſein des ebenſo tiefen als ewig
zur Verſöhnung aufgehobenen Gegenſatzes zwiſchen dem Endlichen und Unend-
lichen der empfindenden Phantaſie gegeben hatte, ſchaffen nicht ſogleich eine
weſentlich neue muſikaliſche Kunſtform. Die Kirche erhält die höhere Muſik
und rettet ſie aus dem Alterthum in’s Mittelalter herüber, ſie ſtellt den Aus-
druck als allein beſtimmendes Prinzip auf, gibt dem Geſang mehr Innigkeit
und Feierlichkeit der Bewegung, aber hält ihn wiederum in typiſchen Formen
feſt. Die Melodie bleibt Sprechgeſang, in Noten von gleichem Zeitwerth fort-
ſchreitend (Cantus planus), einſtimmig, die Anfänge zu harmoniſcher Begleitung
gehen wieder verloren. Allein endlich tritt eine Reaction ein gegen dieſe2.
Monotonie durch die Ausbildung der Harmonie, welche gegen den Ausgang
des Mittelalters zur Polyphonie fortſchreitet. Die hiemit gegebene Möglichkeit
einer vollern und tiefern muſikaliſchen Darſtellung realiſirt ſich nur allmälig,
da die neugewonnene polyphone Harmonie zunächſt gegen die Melodie ſich ver-
ſelbſtändigt, gegen die Rückſicht auf den Stimmungsausdruck ſich abſchließt und
in eine leere Syſtematik, in eine abſtracte Form ausartet, welche der Geiſt
zunächſt noch nicht überall mit Gefühlsgehalt zu durchdringen vermag, welche
er aber beharrlich feſthält und fortbildet, weil in ihr doch das Prinzip belebter
Individualiſirung der Stimmführung und geſetzmäßigen Fortſchritts der Ton-
folge vertreten iſt.


73*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0367" n="1129"/>
wie das Ge&#x017F;ammtkun&#x017F;twerk mit &#x017F;einen ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Formen überhaupt; nicht<lb/>
die Harmonie der Accorde, die immer etwas Undurch&#x017F;ichtiges hat und gerade<lb/>
auch hiedurch auflö&#x017F;end und erweichend wirkt, &#x017F;ondern eine ideale Harmonie,<lb/>
die Harmonie der Reinheit di&#x017F;tincter Klänge, die Harmonie der klar durch-<lb/>
&#x017F;ichtigen, direct &#x017F;ymboli&#x017F;chen Stimmungsveran&#x017F;chaulichung, der Haltung und<lb/>
der Geme&#x017F;&#x017F;enheit war es, was man wollte; man ver&#x017F;chmähte, weil man die<lb/>
Mu&#x017F;ik wie die andern Kün&#x017F;te pla&#x017F;ti&#x017F;ch auffaßte, ihr &#x017F;ubjectives maleri&#x017F;ches<lb/>
Element, das nun einmal ver&#x017F;chlungenere Tonbewegungen und Tonver-<lb/>
knüpfungen fordert, als der Sinn des Alterthums in der Kun&#x017F;t, wo &#x017F;ie<lb/>
öffentlich auftrat, es zuließ. Die Mu&#x017F;ik mußte aber mit die&#x017F;em directen<lb/>
Ideali&#x017F;mus beginnen, der die Elemente der Tonwelt zuer&#x017F;t klar und &#x017F;charf<lb/>
unter&#x017F;chied (vergl. §. 769, <hi rendition="#sub">1,</hi>) und in ihnen einen unmittelbaren, einfach<lb/>
&#x017F;chönen Stimmungsausdruck &#x017F;uchte; er&#x017F;t im Gegen&#x017F;atz zu der hiemit gegebenen<lb/>
typi&#x017F;chen Starrheit des unvermittelten Nebeneinanders &#x017F;charf ge&#x017F;chiedener Ton-<lb/>
ge&#x017F;chlechter und zu der Kälte und Leblo&#x017F;igkeit des monotonen Ein- und<lb/>
Octavenklangs konnte &#x017F;ich der Schmelz, der modulatori&#x017F;che Fluß, die Weich-<lb/>
heit und Lebendigkeit harmoni&#x017F;cher Mu&#x017F;ik entwickeln.</hi> </p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 824.</head><lb/>
            <p> <hi rendition="#fr">Die Impul&#x017F;e, welche das <hi rendition="#g">Chri&#x017F;tenthum</hi> mit &#x017F;einem das Gemüth im<note place="right">1.</note><lb/>
Inner&#x017F;ten erfa&#x017F;&#x017F;enden und auf&#x017F;chließenden Bewußt&#x017F;ein des eben&#x017F;o tiefen als ewig<lb/>
zur Ver&#x017F;öhnung aufgehobenen Gegen&#x017F;atzes zwi&#x017F;chen dem Endlichen und Unend-<lb/>
lichen der empfindenden Phanta&#x017F;ie gegeben hatte, &#x017F;chaffen nicht &#x017F;ogleich eine<lb/>
we&#x017F;entlich neue mu&#x017F;ikali&#x017F;che Kun&#x017F;tform. Die Kirche erhält die höhere Mu&#x017F;ik<lb/>
und rettet &#x017F;ie aus dem Alterthum in&#x2019;s Mittelalter herüber, &#x017F;ie &#x017F;tellt den Aus-<lb/>
druck als allein be&#x017F;timmendes Prinzip auf, gibt dem Ge&#x017F;ang mehr Innigkeit<lb/>
und Feierlichkeit der Bewegung, aber hält ihn wiederum in typi&#x017F;chen Formen<lb/>
fe&#x017F;t. Die Melodie bleibt Sprechge&#x017F;ang, in Noten von gleichem Zeitwerth fort-<lb/>
&#x017F;chreitend <hi rendition="#aq">(Cantus planus),</hi> ein&#x017F;timmig, die Anfänge zu harmoni&#x017F;cher Begleitung<lb/>
gehen wieder verloren. Allein endlich tritt eine Reaction ein gegen die&#x017F;e<note place="right">2.</note><lb/>
Monotonie durch die Ausbildung der <hi rendition="#g">Harmonie</hi>, welche gegen den Ausgang<lb/>
des Mittelalters zur <hi rendition="#g">Polyphonie</hi> fort&#x017F;chreitet. Die hiemit gegebene Möglichkeit<lb/>
einer vollern und tiefern mu&#x017F;ikali&#x017F;chen Dar&#x017F;tellung reali&#x017F;irt &#x017F;ich nur allmälig,<lb/>
da die neugewonnene polyphone Harmonie zunäch&#x017F;t gegen die Melodie &#x017F;ich ver-<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;tändigt, gegen die Rück&#x017F;icht auf den Stimmungsausdruck &#x017F;ich ab&#x017F;chließt und<lb/>
in eine leere Sy&#x017F;tematik, in eine ab&#x017F;tracte Form ausartet, welche der Gei&#x017F;t<lb/>
zunäch&#x017F;t noch nicht überall mit Gefühlsgehalt zu durchdringen vermag, welche<lb/>
er aber beharrlich fe&#x017F;thält und fortbildet, weil in ihr doch das Prinzip belebter<lb/>
Individuali&#x017F;irung der Stimmführung und ge&#x017F;etzmäßigen Fort&#x017F;chritts der Ton-<lb/>
folge vertreten i&#x017F;t.</hi> </p><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">73*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1129/0367] wie das Geſammtkunſtwerk mit ſeinen geſchloſſenen Formen überhaupt; nicht die Harmonie der Accorde, die immer etwas Undurchſichtiges hat und gerade auch hiedurch auflöſend und erweichend wirkt, ſondern eine ideale Harmonie, die Harmonie der Reinheit diſtincter Klänge, die Harmonie der klar durch- ſichtigen, direct ſymboliſchen Stimmungsveranſchaulichung, der Haltung und der Gemeſſenheit war es, was man wollte; man verſchmähte, weil man die Muſik wie die andern Künſte plaſtiſch auffaßte, ihr ſubjectives maleriſches Element, das nun einmal verſchlungenere Tonbewegungen und Tonver- knüpfungen fordert, als der Sinn des Alterthums in der Kunſt, wo ſie öffentlich auftrat, es zuließ. Die Muſik mußte aber mit dieſem directen Idealiſmus beginnen, der die Elemente der Tonwelt zuerſt klar und ſcharf unterſchied (vergl. §. 769, 1,) und in ihnen einen unmittelbaren, einfach ſchönen Stimmungsausdruck ſuchte; erſt im Gegenſatz zu der hiemit gegebenen typiſchen Starrheit des unvermittelten Nebeneinanders ſcharf geſchiedener Ton- geſchlechter und zu der Kälte und Lebloſigkeit des monotonen Ein- und Octavenklangs konnte ſich der Schmelz, der modulatoriſche Fluß, die Weich- heit und Lebendigkeit harmoniſcher Muſik entwickeln. §. 824. Die Impulſe, welche das Chriſtenthum mit ſeinem das Gemüth im Innerſten erfaſſenden und aufſchließenden Bewußtſein des ebenſo tiefen als ewig zur Verſöhnung aufgehobenen Gegenſatzes zwiſchen dem Endlichen und Unend- lichen der empfindenden Phantaſie gegeben hatte, ſchaffen nicht ſogleich eine weſentlich neue muſikaliſche Kunſtform. Die Kirche erhält die höhere Muſik und rettet ſie aus dem Alterthum in’s Mittelalter herüber, ſie ſtellt den Aus- druck als allein beſtimmendes Prinzip auf, gibt dem Geſang mehr Innigkeit und Feierlichkeit der Bewegung, aber hält ihn wiederum in typiſchen Formen feſt. Die Melodie bleibt Sprechgeſang, in Noten von gleichem Zeitwerth fort- ſchreitend (Cantus planus), einſtimmig, die Anfänge zu harmoniſcher Begleitung gehen wieder verloren. Allein endlich tritt eine Reaction ein gegen dieſe Monotonie durch die Ausbildung der Harmonie, welche gegen den Ausgang des Mittelalters zur Polyphonie fortſchreitet. Die hiemit gegebene Möglichkeit einer vollern und tiefern muſikaliſchen Darſtellung realiſirt ſich nur allmälig, da die neugewonnene polyphone Harmonie zunächſt gegen die Melodie ſich ver- ſelbſtändigt, gegen die Rückſicht auf den Stimmungsausdruck ſich abſchließt und in eine leere Syſtematik, in eine abſtracte Form ausartet, welche der Geiſt zunächſt noch nicht überall mit Gefühlsgehalt zu durchdringen vermag, welche er aber beharrlich feſthält und fortbildet, weil in ihr doch das Prinzip belebter Individualiſirung der Stimmführung und geſetzmäßigen Fortſchritts der Ton- folge vertreten iſt. 73*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/367
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/367>, abgerufen am 31.10.2024.