Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

Orlandus Lassus im sechszehnten Jahrhundert diese Kunstform zu der
Großartigkeit des Ausdrucks erhebt, der sie fähig ist. Zu derselben Zeit wird
die harmonisch polyphone Musik in Italien von Palestrina auf eine Stufe
der Ausbildung erhoben, welche zugleich Grundlage eines neuen Styles wird.
Der religiöse Ausdruck und die Klarheit werden Hauptgesetz; die Polyphonie
wird mit ausdrucksvoller Weichheit des in einander Ueberfließens der Stimmen
und mit ebenso durchsichtiger Auseinanderhaltung derselben behandelt; das
melodische Prinzip der altkirchlichen Musik wird wieder aufgenommen und durch
die Harmonie erwärmt und beseelt, zugleich aber durch die lichte Einfachheit
dieser Harmonie, durch ruhigen Rhythmus, durch beschränkte Anwendung der
Figurirung dem Element des Ausdrucks eine strenge Formschönheit und eine
Hohheit und Großheit beigegeben, durch welche das die Grundlage bildende
indirect idealistische Prinzip der Klangfülle und Stimmenindividualisirung in
erhabenster Plastik wieder zur reinen Idealität verklärt ist.

Die bedeutendsten niederländischen Meister, Dufay, Ockenheim, Josquin
de Pres führen in ernster, jedoch noch trockener Weise, zum Theil in An-
lehnung an kirchliche oder Volksmelodieen, welche sie mit contrapunctisch
geführten, theils unter, theils über der Hauptstimme herlaufenden Neben-
stimmen umgeben, die Polyphonie in die Vocalmusik, insbesondere in die
kirchliche, ein; am freiesten verfährt hierin Josquin, dessen Charakterisirung
durch Luther, daß ihm es die Noten machen müssen, wie er es wolle, die
Andern aber, wie die Noten es haben wollen, zugleich zeigt, wie wenig es
bis zum sechszehnten Jahrhundert im Ganzen gelungen ist die spröden Kunst-
formen zu beherrschen, ihnen Leben und Geist einzuhauchen. Mit dem
höhern geistigen Aufschwung des letztgenannten Jahrhunderts erreicht die
niederländische Schule ihren Höhepunct in den Werken des O. Lassus,
welche eine reiche Stimmenfülle mit unverkennbarer Tendenz auf Großartig-
keit vereinigen, aber mit dem formalistischen Prinzip nicht in so ausge-
sprochener Weise zu brechen die Absicht haben, wie dieß in Italien geschieht.
Hier, in Rom, tritt der Bruch ein zwischen dem abstracten Formalismus
und der Forderung des Ausdrucks, der Klarheit und der Würde für die
kirchliche Musik. Palestrina gibt der polyphonen Figuralmusik zurück,
was ihr in dieser Beziehung fehlt; er verwendet aber zugleich auch für die
einfache melodische Musik des gregorianischen Sprechgesangs die Harmonie
in wirksamster, großartigster Weise. Die Melodie erhält an der Harmonie
eine tragende Basis und damit festere Haltung und größere Kraft; die
Melodie wird in ihrer alten Einfachheit belassen, aber eben auf Grundlage
dieser Einfachheit wird sie mit der Harmonie, d. h. sowohl mit bloßen
Accorden als mit selbständiger sich bewegenden, antwortenden, ausfüllenden,
einzelne Wendungen ausführenden Nebenstimmen dergestalt verschmolzen,

Orlandus Laſſus im ſechszehnten Jahrhundert dieſe Kunſtform zu der
Großartigkeit des Ausdrucks erhebt, der ſie fähig iſt. Zu derſelben Zeit wird
die harmoniſch polyphone Muſik in Italien von Paleſtrina auf eine Stufe
der Ausbildung erhoben, welche zugleich Grundlage eines neuen Styles wird.
Der religiöſe Ausdruck und die Klarheit werden Hauptgeſetz; die Polyphonie
wird mit ausdrucksvoller Weichheit des in einander Ueberfließens der Stimmen
und mit ebenſo durchſichtiger Auseinanderhaltung derſelben behandelt; das
melodiſche Prinzip der altkirchlichen Muſik wird wieder aufgenommen und durch
die Harmonie erwärmt und beſeelt, zugleich aber durch die lichte Einfachheit
dieſer Harmonie, durch ruhigen Rhythmus, durch beſchränkte Anwendung der
Figurirung dem Element des Ausdrucks eine ſtrenge Formſchönheit und eine
Hohheit und Großheit beigegeben, durch welche das die Grundlage bildende
indirect idealiſtiſche Prinzip der Klangfülle und Stimmenindividualiſirung in
erhabenſter Plaſtik wieder zur reinen Idealität verklärt iſt.

Die bedeutendſten niederländiſchen Meiſter, Dufay, Ockenheim, Josquin
de Prés führen in ernſter, jedoch noch trockener Weiſe, zum Theil in An-
lehnung an kirchliche oder Volksmelodieen, welche ſie mit contrapunctiſch
geführten, theils unter, theils über der Hauptſtimme herlaufenden Neben-
ſtimmen umgeben, die Polyphonie in die Vocalmuſik, insbeſondere in die
kirchliche, ein; am freieſten verfährt hierin Josquin, deſſen Charakteriſirung
durch Luther, daß ihm es die Noten machen müſſen, wie er es wolle, die
Andern aber, wie die Noten es haben wollen, zugleich zeigt, wie wenig es
bis zum ſechszehnten Jahrhundert im Ganzen gelungen iſt die ſpröden Kunſt-
formen zu beherrſchen, ihnen Leben und Geiſt einzuhauchen. Mit dem
höhern geiſtigen Aufſchwung des letztgenannten Jahrhunderts erreicht die
niederländiſche Schule ihren Höhepunct in den Werken des O. Laſſus,
welche eine reiche Stimmenfülle mit unverkennbarer Tendenz auf Großartig-
keit vereinigen, aber mit dem formaliſtiſchen Prinzip nicht in ſo ausge-
ſprochener Weiſe zu brechen die Abſicht haben, wie dieß in Italien geſchieht.
Hier, in Rom, tritt der Bruch ein zwiſchen dem abſtracten Formalismus
und der Forderung des Ausdrucks, der Klarheit und der Würde für die
kirchliche Muſik. Paleſtrina gibt der polyphonen Figuralmuſik zurück,
was ihr in dieſer Beziehung fehlt; er verwendet aber zugleich auch für die
einfache melodiſche Muſik des gregorianiſchen Sprechgeſangs die Harmonie
in wirkſamſter, großartigſter Weiſe. Die Melodie erhält an der Harmonie
eine tragende Baſis und damit feſtere Haltung und größere Kraft; die
Melodie wird in ihrer alten Einfachheit belaſſen, aber eben auf Grundlage
dieſer Einfachheit wird ſie mit der Harmonie, d. h. ſowohl mit bloßen
Accorden als mit ſelbſtändiger ſich bewegenden, antwortenden, ausfüllenden,
einzelne Wendungen ausführenden Nebenſtimmen dergeſtalt verſchmolzen,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0372" n="1134"/><hi rendition="#g">Orlandus La&#x017F;&#x017F;us</hi> im &#x017F;echszehnten Jahrhundert die&#x017F;e Kun&#x017F;tform zu der<lb/>
Großartigkeit des Ausdrucks erhebt, der &#x017F;ie fähig i&#x017F;t. Zu der&#x017F;elben Zeit wird<lb/>
die harmoni&#x017F;ch polyphone Mu&#x017F;ik <hi rendition="#g">in Italien</hi> von <hi rendition="#g">Pale&#x017F;trina</hi> auf eine Stufe<lb/>
der Ausbildung erhoben, welche zugleich Grundlage eines neuen Styles wird.<lb/>
Der religiö&#x017F;e Ausdruck und die Klarheit werden Hauptge&#x017F;etz; die Polyphonie<lb/>
wird mit ausdrucksvoller Weichheit des in einander Ueberfließens der Stimmen<lb/>
und mit eben&#x017F;o durch&#x017F;ichtiger Auseinanderhaltung der&#x017F;elben behandelt; das<lb/>
melodi&#x017F;che Prinzip der altkirchlichen Mu&#x017F;ik wird wieder aufgenommen und durch<lb/>
die Harmonie erwärmt und be&#x017F;eelt, zugleich aber durch die lichte Einfachheit<lb/>
die&#x017F;er Harmonie, durch ruhigen Rhythmus, durch be&#x017F;chränkte Anwendung der<lb/>
Figurirung dem Element des Ausdrucks eine &#x017F;trenge Form&#x017F;chönheit und eine<lb/>
Hohheit und Großheit beigegeben, durch welche das die Grundlage bildende<lb/>
indirect ideali&#x017F;ti&#x017F;che Prinzip der Klangfülle und Stimmenindividuali&#x017F;irung in<lb/>
erhaben&#x017F;ter Pla&#x017F;tik wieder zur reinen Idealität verklärt i&#x017F;t.</hi> </p><lb/>
            <p> <hi rendition="#et">Die bedeutend&#x017F;ten niederländi&#x017F;chen Mei&#x017F;ter, Dufay, Ockenheim, Josquin<lb/>
de Pr<hi rendition="#aq">é</hi>s führen in ern&#x017F;ter, jedoch noch trockener Wei&#x017F;e, zum Theil in An-<lb/>
lehnung an kirchliche oder Volksmelodieen, welche &#x017F;ie mit contrapuncti&#x017F;ch<lb/>
geführten, theils unter, theils über der Haupt&#x017F;timme herlaufenden Neben-<lb/>
&#x017F;timmen umgeben, die Polyphonie in die Vocalmu&#x017F;ik, insbe&#x017F;ondere in die<lb/>
kirchliche, ein; am freie&#x017F;ten verfährt hierin Josquin, de&#x017F;&#x017F;en Charakteri&#x017F;irung<lb/>
durch Luther, daß ihm es die Noten machen mü&#x017F;&#x017F;en, wie er es wolle, die<lb/>
Andern aber, wie die Noten es haben wollen, zugleich zeigt, wie wenig es<lb/>
bis zum &#x017F;echszehnten Jahrhundert im Ganzen gelungen i&#x017F;t die &#x017F;pröden Kun&#x017F;t-<lb/>
formen zu beherr&#x017F;chen, ihnen Leben und Gei&#x017F;t einzuhauchen. Mit dem<lb/>
höhern gei&#x017F;tigen Auf&#x017F;chwung des letztgenannten Jahrhunderts erreicht die<lb/>
niederländi&#x017F;che Schule ihren Höhepunct in den Werken des O. La&#x017F;&#x017F;us,<lb/>
welche eine reiche Stimmenfülle mit unverkennbarer Tendenz auf Großartig-<lb/>
keit vereinigen, aber mit dem formali&#x017F;ti&#x017F;chen Prinzip nicht in &#x017F;o ausge-<lb/>
&#x017F;prochener Wei&#x017F;e zu brechen die Ab&#x017F;icht haben, wie dieß in Italien ge&#x017F;chieht.<lb/>
Hier, in Rom, tritt der Bruch ein zwi&#x017F;chen dem ab&#x017F;tracten Formalismus<lb/>
und der Forderung des Ausdrucks, der Klarheit und der Würde für die<lb/>
kirchliche Mu&#x017F;ik. <hi rendition="#g">Pale&#x017F;trina</hi> gibt der polyphonen Figuralmu&#x017F;ik zurück,<lb/>
was ihr in die&#x017F;er Beziehung fehlt; er verwendet aber zugleich auch für die<lb/>
einfache melodi&#x017F;che Mu&#x017F;ik des gregoriani&#x017F;chen Sprechge&#x017F;angs die Harmonie<lb/>
in wirk&#x017F;am&#x017F;ter, großartig&#x017F;ter Wei&#x017F;e. Die Melodie erhält an der Harmonie<lb/>
eine tragende Ba&#x017F;is und damit fe&#x017F;tere Haltung und größere Kraft; die<lb/>
Melodie wird in ihrer alten Einfachheit bela&#x017F;&#x017F;en, aber eben auf Grundlage<lb/>
die&#x017F;er Einfachheit wird &#x017F;ie mit der Harmonie, d. h. &#x017F;owohl mit bloßen<lb/>
Accorden als mit &#x017F;elb&#x017F;tändiger &#x017F;ich bewegenden, antwortenden, ausfüllenden,<lb/>
einzelne Wendungen ausführenden Neben&#x017F;timmen derge&#x017F;talt ver&#x017F;chmolzen,<lb/></hi> </p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1134/0372] Orlandus Laſſus im ſechszehnten Jahrhundert dieſe Kunſtform zu der Großartigkeit des Ausdrucks erhebt, der ſie fähig iſt. Zu derſelben Zeit wird die harmoniſch polyphone Muſik in Italien von Paleſtrina auf eine Stufe der Ausbildung erhoben, welche zugleich Grundlage eines neuen Styles wird. Der religiöſe Ausdruck und die Klarheit werden Hauptgeſetz; die Polyphonie wird mit ausdrucksvoller Weichheit des in einander Ueberfließens der Stimmen und mit ebenſo durchſichtiger Auseinanderhaltung derſelben behandelt; das melodiſche Prinzip der altkirchlichen Muſik wird wieder aufgenommen und durch die Harmonie erwärmt und beſeelt, zugleich aber durch die lichte Einfachheit dieſer Harmonie, durch ruhigen Rhythmus, durch beſchränkte Anwendung der Figurirung dem Element des Ausdrucks eine ſtrenge Formſchönheit und eine Hohheit und Großheit beigegeben, durch welche das die Grundlage bildende indirect idealiſtiſche Prinzip der Klangfülle und Stimmenindividualiſirung in erhabenſter Plaſtik wieder zur reinen Idealität verklärt iſt. Die bedeutendſten niederländiſchen Meiſter, Dufay, Ockenheim, Josquin de Prés führen in ernſter, jedoch noch trockener Weiſe, zum Theil in An- lehnung an kirchliche oder Volksmelodieen, welche ſie mit contrapunctiſch geführten, theils unter, theils über der Hauptſtimme herlaufenden Neben- ſtimmen umgeben, die Polyphonie in die Vocalmuſik, insbeſondere in die kirchliche, ein; am freieſten verfährt hierin Josquin, deſſen Charakteriſirung durch Luther, daß ihm es die Noten machen müſſen, wie er es wolle, die Andern aber, wie die Noten es haben wollen, zugleich zeigt, wie wenig es bis zum ſechszehnten Jahrhundert im Ganzen gelungen iſt die ſpröden Kunſt- formen zu beherrſchen, ihnen Leben und Geiſt einzuhauchen. Mit dem höhern geiſtigen Aufſchwung des letztgenannten Jahrhunderts erreicht die niederländiſche Schule ihren Höhepunct in den Werken des O. Laſſus, welche eine reiche Stimmenfülle mit unverkennbarer Tendenz auf Großartig- keit vereinigen, aber mit dem formaliſtiſchen Prinzip nicht in ſo ausge- ſprochener Weiſe zu brechen die Abſicht haben, wie dieß in Italien geſchieht. Hier, in Rom, tritt der Bruch ein zwiſchen dem abſtracten Formalismus und der Forderung des Ausdrucks, der Klarheit und der Würde für die kirchliche Muſik. Paleſtrina gibt der polyphonen Figuralmuſik zurück, was ihr in dieſer Beziehung fehlt; er verwendet aber zugleich auch für die einfache melodiſche Muſik des gregorianiſchen Sprechgeſangs die Harmonie in wirkſamſter, großartigſter Weiſe. Die Melodie erhält an der Harmonie eine tragende Baſis und damit feſtere Haltung und größere Kraft; die Melodie wird in ihrer alten Einfachheit belaſſen, aber eben auf Grundlage dieſer Einfachheit wird ſie mit der Harmonie, d. h. ſowohl mit bloßen Accorden als mit ſelbſtändiger ſich bewegenden, antwortenden, ausfüllenden, einzelne Wendungen ausführenden Nebenſtimmen dergeſtalt verſchmolzen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/372
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/372>, abgerufen am 31.10.2024.