Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

strenge Kirchenmusik und die formenreiche Instrumentalmusik zu
seinen Hauptgebieten nimmt, bildet Händel vor Allem das Oratorium in
mustergültiger Vollendung aus.

Die Musik ist wie eine moderne so insbesondere eine wesentlich ger-
manische Kunst, da sie erst mit dem germanischen Element der Harmonie
selbständige Kunst und Kunst vollen Gefühls- und Gemüthsausdrucks wird.
Es ist daher natürlich, daß auch in Deutschland die flandrische Polyphonie
Vertreter erhält, die sie, wie Palestrina's Zeitgenosse Handl, nach der
Seite des Ausdrucks fortbilden. Abweichend aber ist die deutsche Entwick-
lung von der italienischen schon darin, daß die Behandlung der polyphonen
Musik schon im sechszehenten Jahrhundert einen lebhafter rhythmisch be-
wegten Charakter zeigt; die Kunstmusik, sofern unter ihr vorzugsweise
Polyphonie verstanden wird, ist zwar ein deutsches Geistesproduct, aber
ihre Zurückführung zu der einfachern Form der Figuralmusik, wie sie in
Italien sich vollzieht, kann in Deutschland sich nicht auf die Dauer be-
haupten, die deutsche Musik sprengt immer wieder die Fesseln der abstracten
Form, sie ist naturalistisch lebendig, volksthümlich frisch und kräftig; nicht
Sprechgesang, sondern Melodie, nicht ideale Hoheit, welche die eigentlich
musikalische Bewegtheit niederhält und nie recht zum Durchbruch kommen
läßt, sondern der Realismus eines ungebundenen Heraustretens der Em-
pfindung, einer sich selbst nie genug thuenden, immer zu neuen Figuren
und Tonverknüpfungen greifenden, die Combinationen stets mehrenden und
steigernden poetischerregten Phantasie ist auch in der Musik das spezifisch
Deutsche, zu dem der Naturalismus italienischer Componisten, wie er sich
in der Vollchörigkeit und Stimmenhäufung eines Benevoli und Lotti dar-
stellt, sich doch immer nur verhält, wie der Gestalten- und Farbenreichthum
venetianischer Malerei zu der realistischen Fülle und Mannigfaltigkeit der
deutschniederländischen, und ebendarum ist in Deutschland auch die Ent-
wicklung der Instrumentalmusik, sobald sie begonnen hat, gleich von weit
größerer Bedeutung als in Italien. Vor Allem aber ist das volksthümliche
religiöse Lied, der Choral, eine ächt deutsche Kunstform, wiewohl er zu-
erst bei den Hussiten mit charakteristischer Bedeutung auftritt; in ihm, der
ebendeßwegen auch aus dem Volksliede zu schöpfen nicht verschmäht, ist
das Ernste und Tiefe des Religiösen vereinigt mit der subjectiven Innigkeit
und Gefühlslebendigkeit, die sich nicht in idealer Feierlichkeit selbst wieder
die Schranke hoher Gemessenheit anlegt, sondern in freiem und vollem
Herzenserguß sich äußern will; der Choral erst ist vollkommen Gemeinde-
gesang, Gesang nicht einer idealen Gemeinde, die wieder zwischen die reale
und den Gegenstand ihrer Anbetung hineintritt und diese Anbetung an
ihrer Stelle in objectiv typischer, kunstvoll geregelter Weise vollzieht, sondern

ſtrenge Kirchenmuſik und die formenreiche Inſtrumentalmuſik zu
ſeinen Hauptgebieten nimmt, bildet Händel vor Allem das Oratorium in
muſtergültiger Vollendung aus.

Die Muſik iſt wie eine moderne ſo insbeſondere eine weſentlich ger-
maniſche Kunſt, da ſie erſt mit dem germaniſchen Element der Harmonie
ſelbſtändige Kunſt und Kunſt vollen Gefühls- und Gemüthsausdrucks wird.
Es iſt daher natürlich, daß auch in Deutſchland die flandriſche Polyphonie
Vertreter erhält, die ſie, wie Paleſtrina’s Zeitgenoſſe Handl, nach der
Seite des Ausdrucks fortbilden. Abweichend aber iſt die deutſche Entwick-
lung von der italieniſchen ſchon darin, daß die Behandlung der polyphonen
Muſik ſchon im ſechszehenten Jahrhundert einen lebhafter rhythmiſch be-
wegten Charakter zeigt; die Kunſtmuſik, ſofern unter ihr vorzugsweiſe
Polyphonie verſtanden wird, iſt zwar ein deutſches Geiſtesproduct, aber
ihre Zurückführung zu der einfachern Form der Figuralmuſik, wie ſie in
Italien ſich vollzieht, kann in Deutſchland ſich nicht auf die Dauer be-
haupten, die deutſche Muſik ſprengt immer wieder die Feſſeln der abſtracten
Form, ſie iſt naturaliſtiſch lebendig, volksthümlich friſch und kräftig; nicht
Sprechgeſang, ſondern Melodie, nicht ideale Hoheit, welche die eigentlich
muſikaliſche Bewegtheit niederhält und nie recht zum Durchbruch kommen
läßt, ſondern der Realismus eines ungebundenen Heraustretens der Em-
pfindung, einer ſich ſelbſt nie genug thuenden, immer zu neuen Figuren
und Tonverknüpfungen greifenden, die Combinationen ſtets mehrenden und
ſteigernden poetiſcherregten Phantaſie iſt auch in der Muſik das ſpezifiſch
Deutſche, zu dem der Naturalismus italieniſcher Componiſten, wie er ſich
in der Vollchörigkeit und Stimmenhäufung eines Benevoli und Lotti dar-
ſtellt, ſich doch immer nur verhält, wie der Geſtalten- und Farbenreichthum
venetianiſcher Malerei zu der realiſtiſchen Fülle und Mannigfaltigkeit der
deutſchniederländiſchen, und ebendarum iſt in Deutſchland auch die Ent-
wicklung der Inſtrumentalmuſik, ſobald ſie begonnen hat, gleich von weit
größerer Bedeutung als in Italien. Vor Allem aber iſt das volksthümliche
religiöſe Lied, der Choral, eine ächt deutſche Kunſtform, wiewohl er zu-
erſt bei den Huſſiten mit charakteriſtiſcher Bedeutung auftritt; in ihm, der
ebendeßwegen auch aus dem Volksliede zu ſchöpfen nicht verſchmäht, iſt
das Ernſte und Tiefe des Religiöſen vereinigt mit der ſubjectiven Innigkeit
und Gefühlslebendigkeit, die ſich nicht in idealer Feierlichkeit ſelbſt wieder
die Schranke hoher Gemeſſenheit anlegt, ſondern in freiem und vollem
Herzenserguß ſich äußern will; der Choral erſt iſt vollkommen Gemeinde-
geſang, Geſang nicht einer idealen Gemeinde, die wieder zwiſchen die reale
und den Gegenſtand ihrer Anbetung hineintritt und dieſe Anbetung an
ihrer Stelle in objectiv typiſcher, kunſtvoll geregelter Weiſe vollzieht, ſondern

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0378" n="1140"/>
&#x017F;trenge <hi rendition="#g">Kirchenmu&#x017F;ik</hi> und die formenreiche <hi rendition="#g">In&#x017F;trumentalmu&#x017F;ik</hi> zu<lb/>
&#x017F;einen Hauptgebieten nimmt, bildet Händel vor Allem das <hi rendition="#g">Oratorium</hi> in<lb/>
mu&#x017F;tergültiger Vollendung aus.</hi> </p><lb/>
            <p> <hi rendition="#et">Die Mu&#x017F;ik i&#x017F;t wie eine moderne &#x017F;o insbe&#x017F;ondere eine we&#x017F;entlich ger-<lb/>
mani&#x017F;che Kun&#x017F;t, da &#x017F;ie er&#x017F;t mit dem germani&#x017F;chen Element der Harmonie<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;tändige Kun&#x017F;t und Kun&#x017F;t vollen Gefühls- und Gemüthsausdrucks wird.<lb/>
Es i&#x017F;t daher natürlich, daß auch in Deut&#x017F;chland die flandri&#x017F;che Polyphonie<lb/>
Vertreter erhält, die &#x017F;ie, wie Pale&#x017F;trina&#x2019;s Zeitgeno&#x017F;&#x017F;e Handl, nach der<lb/>
Seite des Ausdrucks fortbilden. Abweichend aber i&#x017F;t die deut&#x017F;che Entwick-<lb/>
lung von der italieni&#x017F;chen &#x017F;chon darin, daß die Behandlung der polyphonen<lb/>
Mu&#x017F;ik &#x017F;chon im &#x017F;echszehenten Jahrhundert einen lebhafter rhythmi&#x017F;ch be-<lb/>
wegten Charakter zeigt; die Kun&#x017F;tmu&#x017F;ik, &#x017F;ofern unter ihr vorzugswei&#x017F;e<lb/>
Polyphonie ver&#x017F;tanden wird, i&#x017F;t zwar ein deut&#x017F;ches Gei&#x017F;tesproduct, aber<lb/>
ihre Zurückführung zu der einfachern Form der Figuralmu&#x017F;ik, wie &#x017F;ie in<lb/>
Italien &#x017F;ich vollzieht, kann in Deut&#x017F;chland &#x017F;ich nicht auf die Dauer be-<lb/>
haupten, die deut&#x017F;che Mu&#x017F;ik &#x017F;prengt immer wieder die Fe&#x017F;&#x017F;eln der ab&#x017F;tracten<lb/>
Form, &#x017F;ie i&#x017F;t naturali&#x017F;ti&#x017F;ch lebendig, volksthümlich fri&#x017F;ch und kräftig; nicht<lb/>
Sprechge&#x017F;ang, &#x017F;ondern Melodie, nicht ideale Hoheit, welche die eigentlich<lb/>
mu&#x017F;ikali&#x017F;che Bewegtheit niederhält und nie recht zum Durchbruch kommen<lb/>
läßt, &#x017F;ondern der Realismus eines ungebundenen Heraustretens der Em-<lb/>
pfindung, einer &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t nie genug thuenden, immer zu neuen Figuren<lb/>
und Tonverknüpfungen greifenden, die Combinationen &#x017F;tets mehrenden und<lb/>
&#x017F;teigernden poeti&#x017F;cherregten Phanta&#x017F;ie i&#x017F;t auch in der Mu&#x017F;ik das &#x017F;pezifi&#x017F;ch<lb/>
Deut&#x017F;che, zu dem der Naturalismus italieni&#x017F;cher Componi&#x017F;ten, wie er &#x017F;ich<lb/>
in der Vollchörigkeit und Stimmenhäufung eines Benevoli und Lotti dar-<lb/>
&#x017F;tellt, &#x017F;ich doch immer nur verhält, wie der Ge&#x017F;talten- und Farbenreichthum<lb/>
venetiani&#x017F;cher Malerei zu der reali&#x017F;ti&#x017F;chen Fülle und Mannigfaltigkeit der<lb/>
deut&#x017F;chniederländi&#x017F;chen, und ebendarum i&#x017F;t in Deut&#x017F;chland auch die Ent-<lb/>
wicklung der In&#x017F;trumentalmu&#x017F;ik, &#x017F;obald &#x017F;ie begonnen hat, gleich von weit<lb/>
größerer Bedeutung als in Italien. Vor Allem aber i&#x017F;t das volksthümliche<lb/>
religiö&#x017F;e Lied, der <hi rendition="#g">Choral</hi>, eine ächt deut&#x017F;che Kun&#x017F;tform, wiewohl er zu-<lb/>
er&#x017F;t bei den Hu&#x017F;&#x017F;iten mit charakteri&#x017F;ti&#x017F;cher Bedeutung auftritt; in ihm, der<lb/>
ebendeßwegen auch aus dem Volksliede zu &#x017F;chöpfen nicht ver&#x017F;chmäht, i&#x017F;t<lb/>
das Ern&#x017F;te und Tiefe des Religiö&#x017F;en vereinigt mit der &#x017F;ubjectiven Innigkeit<lb/>
und Gefühlslebendigkeit, die &#x017F;ich nicht in idealer Feierlichkeit &#x017F;elb&#x017F;t wieder<lb/>
die Schranke hoher Geme&#x017F;&#x017F;enheit anlegt, &#x017F;ondern in freiem und vollem<lb/>
Herzenserguß &#x017F;ich äußern will; der Choral er&#x017F;t i&#x017F;t vollkommen Gemeinde-<lb/>
ge&#x017F;ang, Ge&#x017F;ang nicht einer idealen Gemeinde, die wieder zwi&#x017F;chen die reale<lb/>
und den Gegen&#x017F;tand ihrer Anbetung hineintritt und die&#x017F;e Anbetung an<lb/>
ihrer Stelle in objectiv typi&#x017F;cher, kun&#x017F;tvoll geregelter Wei&#x017F;e vollzieht, &#x017F;ondern<lb/></hi> </p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1140/0378] ſtrenge Kirchenmuſik und die formenreiche Inſtrumentalmuſik zu ſeinen Hauptgebieten nimmt, bildet Händel vor Allem das Oratorium in muſtergültiger Vollendung aus. Die Muſik iſt wie eine moderne ſo insbeſondere eine weſentlich ger- maniſche Kunſt, da ſie erſt mit dem germaniſchen Element der Harmonie ſelbſtändige Kunſt und Kunſt vollen Gefühls- und Gemüthsausdrucks wird. Es iſt daher natürlich, daß auch in Deutſchland die flandriſche Polyphonie Vertreter erhält, die ſie, wie Paleſtrina’s Zeitgenoſſe Handl, nach der Seite des Ausdrucks fortbilden. Abweichend aber iſt die deutſche Entwick- lung von der italieniſchen ſchon darin, daß die Behandlung der polyphonen Muſik ſchon im ſechszehenten Jahrhundert einen lebhafter rhythmiſch be- wegten Charakter zeigt; die Kunſtmuſik, ſofern unter ihr vorzugsweiſe Polyphonie verſtanden wird, iſt zwar ein deutſches Geiſtesproduct, aber ihre Zurückführung zu der einfachern Form der Figuralmuſik, wie ſie in Italien ſich vollzieht, kann in Deutſchland ſich nicht auf die Dauer be- haupten, die deutſche Muſik ſprengt immer wieder die Feſſeln der abſtracten Form, ſie iſt naturaliſtiſch lebendig, volksthümlich friſch und kräftig; nicht Sprechgeſang, ſondern Melodie, nicht ideale Hoheit, welche die eigentlich muſikaliſche Bewegtheit niederhält und nie recht zum Durchbruch kommen läßt, ſondern der Realismus eines ungebundenen Heraustretens der Em- pfindung, einer ſich ſelbſt nie genug thuenden, immer zu neuen Figuren und Tonverknüpfungen greifenden, die Combinationen ſtets mehrenden und ſteigernden poetiſcherregten Phantaſie iſt auch in der Muſik das ſpezifiſch Deutſche, zu dem der Naturalismus italieniſcher Componiſten, wie er ſich in der Vollchörigkeit und Stimmenhäufung eines Benevoli und Lotti dar- ſtellt, ſich doch immer nur verhält, wie der Geſtalten- und Farbenreichthum venetianiſcher Malerei zu der realiſtiſchen Fülle und Mannigfaltigkeit der deutſchniederländiſchen, und ebendarum iſt in Deutſchland auch die Ent- wicklung der Inſtrumentalmuſik, ſobald ſie begonnen hat, gleich von weit größerer Bedeutung als in Italien. Vor Allem aber iſt das volksthümliche religiöſe Lied, der Choral, eine ächt deutſche Kunſtform, wiewohl er zu- erſt bei den Huſſiten mit charakteriſtiſcher Bedeutung auftritt; in ihm, der ebendeßwegen auch aus dem Volksliede zu ſchöpfen nicht verſchmäht, iſt das Ernſte und Tiefe des Religiöſen vereinigt mit der ſubjectiven Innigkeit und Gefühlslebendigkeit, die ſich nicht in idealer Feierlichkeit ſelbſt wieder die Schranke hoher Gemeſſenheit anlegt, ſondern in freiem und vollem Herzenserguß ſich äußern will; der Choral erſt iſt vollkommen Gemeinde- geſang, Geſang nicht einer idealen Gemeinde, die wieder zwiſchen die reale und den Gegenſtand ihrer Anbetung hineintritt und dieſe Anbetung an ihrer Stelle in objectiv typiſcher, kunſtvoll geregelter Weiſe vollzieht, ſondern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/378
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/378>, abgerufen am 31.10.2024.