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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Sprechens, sie überschreitet sie nicht, aber ihr Schritt zur Offenbarung des
Innersten im Ton ist ein unendlicher.

§. 760.

Im Tone verräth der Körper sein Kraftmaaß und seine innersten Quali-
tätsverhältnisse, die sich in seiner Form niederschlagen, und er entspricht schon
dadurch dem Gefühle, welches objectlos und doch durch den Gehalt der Objecte
bewegt ist. Um ihn jedoch zum Ausdruck des Gefühls in dieser und jeder
Bedeutung des Wortes zu bilden, bedarf es einer Thätigkeit, welche ihn zu-
nächst von seinem Ursprung völlig getrennt behandelt und welcher kein Na-
turvorbild
im strengen Sinne des Wortes zu Grunde liegt.

Die Musik würde in abstracter Lostrennung zwischen die übrigen Künste
hingestellt, wenn der tiefe Zusammenhang des Tons mit dem Körper ver-
kannt würde. Das Auge, das die Form des Körpers erfaßt, bewegt sich,
beschreibt eine Linie. Dieß ist zunächst nur die Bewegung des anschauenden
Organs, aber der Körper ist geworden, hat sich gebaut und dieß war wirk-
liche Bewegung, Bewegung der ihn bauenden Kraft. Im Tone drücken
sich nun zunächst die innersten Texturverhältnisse des Körpers aus, sie sind
das Werk dieser Kraft, und seine Gestalt ist der Ausfluß dieser innersten
Formation. Der Ton ist so die freigewordene Linie der Form, "die zeitliche
Linie" (vergl. Solger Vorl. üb. d. Aesth. S. 340), er verräth den Kraft-
kern, woraus die Form geworden, er kann die nackte, blosgelegte Seele
des Körpers genannt werden. Die Musik hat buchstäblich und direct nichts
mit der äußern Gestalt der Körper zu schaffen, aber es ist wesentlich, daß
die innere Structur derselben, die sie zu ihrem Zwecke verwendet, an sich
von dieser nicht zu trennen ist, und wir werden sehen, welche tiefe Beziehung
zwischen der Musik und allen andern Künsten sich darauf gründet; zunächst
ist dieser Satz nur eine Erweiterung, Vertiefung des früheren, der als
wesentliches Moment hervorhob, daß zum Tone der Körper immer voraus-
gesetzt bleibt, und ihm entspricht auf der subjectiven Seite die mehr besprochene
Objectnähe im Gefühl. Es versteht sich nun aber, daß diese höhere Be-
deutung des Tons sich erst auf einem Wege entwickeln kann, auf dem sie
uns vielmehr ganz verloren zu gehen scheint. Das Klangleben der un-
organischen und der Pflanzenwelt erregt uns wohl eine dunkle Ahnung
der Gestaltungen dieser Gebiete auch ohne die Hülfe des Auges, der Thier-
und Menschenstimme fühlen wir an, daß sie nur Ausdruck des Sichselbst-
vernehmens des höheren und höchsten Organismus sein kann. Allein unser
Satz will auf mehr, als dieß, hindeuten: er will sagen, daß der Ton die
höheren, die bereits ästhetisch ideal gedachten Rhythmen der Körperwelt

Sprechens, ſie überſchreitet ſie nicht, aber ihr Schritt zur Offenbarung des
Innerſten im Ton iſt ein unendlicher.

§. 760.

Im Tone verräth der Körper ſein Kraftmaaß und ſeine innerſten Quali-
tätsverhältniſſe, die ſich in ſeiner Form niederſchlagen, und er entſpricht ſchon
dadurch dem Gefühle, welches objectlos und doch durch den Gehalt der Objecte
bewegt iſt. Um ihn jedoch zum Ausdruck des Gefühls in dieſer und jeder
Bedeutung des Wortes zu bilden, bedarf es einer Thätigkeit, welche ihn zu-
nächſt von ſeinem Urſprung völlig getrennt behandelt und welcher kein Na-
turvorbild
im ſtrengen Sinne des Wortes zu Grunde liegt.

Die Muſik würde in abſtracter Lostrennung zwiſchen die übrigen Künſte
hingeſtellt, wenn der tiefe Zuſammenhang des Tons mit dem Körper ver-
kannt würde. Das Auge, das die Form des Körpers erfaßt, bewegt ſich,
beſchreibt eine Linie. Dieß iſt zunächſt nur die Bewegung des anſchauenden
Organs, aber der Körper iſt geworden, hat ſich gebaut und dieß war wirk-
liche Bewegung, Bewegung der ihn bauenden Kraft. Im Tone drücken
ſich nun zunächſt die innerſten Texturverhältniſſe des Körpers aus, ſie ſind
das Werk dieſer Kraft, und ſeine Geſtalt iſt der Ausfluß dieſer innerſten
Formation. Der Ton iſt ſo die freigewordene Linie der Form, „die zeitliche
Linie“ (vergl. Solger Vorl. üb. d. Aeſth. S. 340), er verräth den Kraft-
kern, woraus die Form geworden, er kann die nackte, blosgelegte Seele
des Körpers genannt werden. Die Muſik hat buchſtäblich und direct nichts
mit der äußern Geſtalt der Körper zu ſchaffen, aber es iſt weſentlich, daß
die innere Structur derſelben, die ſie zu ihrem Zwecke verwendet, an ſich
von dieſer nicht zu trennen iſt, und wir werden ſehen, welche tiefe Beziehung
zwiſchen der Muſik und allen andern Künſten ſich darauf gründet; zunächſt
iſt dieſer Satz nur eine Erweiterung, Vertiefung des früheren, der als
weſentliches Moment hervorhob, daß zum Tone der Körper immer voraus-
geſetzt bleibt, und ihm entſpricht auf der ſubjectiven Seite die mehr beſprochene
Objectnähe im Gefühl. Es verſteht ſich nun aber, daß dieſe höhere Be-
deutung des Tons ſich erſt auf einem Wege entwickeln kann, auf dem ſie
uns vielmehr ganz verloren zu gehen ſcheint. Das Klangleben der un-
organiſchen und der Pflanzenwelt erregt uns wohl eine dunkle Ahnung
der Geſtaltungen dieſer Gebiete auch ohne die Hülfe des Auges, der Thier-
und Menſchenſtimme fühlen wir an, daß ſie nur Ausdruck des Sichſelbſt-
vernehmens des höheren und höchſten Organiſmus ſein kann. Allein unſer
Satz will auf mehr, als dieß, hindeuten: er will ſagen, daß der Ton die
höheren, die bereits äſthetiſch ideal gedachten Rhythmen der Körperwelt

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[813/0051] Sprechens, ſie überſchreitet ſie nicht, aber ihr Schritt zur Offenbarung des Innerſten im Ton iſt ein unendlicher. §. 760. Im Tone verräth der Körper ſein Kraftmaaß und ſeine innerſten Quali- tätsverhältniſſe, die ſich in ſeiner Form niederſchlagen, und er entſpricht ſchon dadurch dem Gefühle, welches objectlos und doch durch den Gehalt der Objecte bewegt iſt. Um ihn jedoch zum Ausdruck des Gefühls in dieſer und jeder Bedeutung des Wortes zu bilden, bedarf es einer Thätigkeit, welche ihn zu- nächſt von ſeinem Urſprung völlig getrennt behandelt und welcher kein Na- turvorbild im ſtrengen Sinne des Wortes zu Grunde liegt. Die Muſik würde in abſtracter Lostrennung zwiſchen die übrigen Künſte hingeſtellt, wenn der tiefe Zuſammenhang des Tons mit dem Körper ver- kannt würde. Das Auge, das die Form des Körpers erfaßt, bewegt ſich, beſchreibt eine Linie. Dieß iſt zunächſt nur die Bewegung des anſchauenden Organs, aber der Körper iſt geworden, hat ſich gebaut und dieß war wirk- liche Bewegung, Bewegung der ihn bauenden Kraft. Im Tone drücken ſich nun zunächſt die innerſten Texturverhältniſſe des Körpers aus, ſie ſind das Werk dieſer Kraft, und ſeine Geſtalt iſt der Ausfluß dieſer innerſten Formation. Der Ton iſt ſo die freigewordene Linie der Form, „die zeitliche Linie“ (vergl. Solger Vorl. üb. d. Aeſth. S. 340), er verräth den Kraft- kern, woraus die Form geworden, er kann die nackte, blosgelegte Seele des Körpers genannt werden. Die Muſik hat buchſtäblich und direct nichts mit der äußern Geſtalt der Körper zu ſchaffen, aber es iſt weſentlich, daß die innere Structur derſelben, die ſie zu ihrem Zwecke verwendet, an ſich von dieſer nicht zu trennen iſt, und wir werden ſehen, welche tiefe Beziehung zwiſchen der Muſik und allen andern Künſten ſich darauf gründet; zunächſt iſt dieſer Satz nur eine Erweiterung, Vertiefung des früheren, der als weſentliches Moment hervorhob, daß zum Tone der Körper immer voraus- geſetzt bleibt, und ihm entſpricht auf der ſubjectiven Seite die mehr beſprochene Objectnähe im Gefühl. Es verſteht ſich nun aber, daß dieſe höhere Be- deutung des Tons ſich erſt auf einem Wege entwickeln kann, auf dem ſie uns vielmehr ganz verloren zu gehen ſcheint. Das Klangleben der un- organiſchen und der Pflanzenwelt erregt uns wohl eine dunkle Ahnung der Geſtaltungen dieſer Gebiete auch ohne die Hülfe des Auges, der Thier- und Menſchenſtimme fühlen wir an, daß ſie nur Ausdruck des Sichſelbſt- vernehmens des höheren und höchſten Organiſmus ſein kann. Allein unſer Satz will auf mehr, als dieß, hindeuten: er will ſagen, daß der Ton die höheren, die bereits äſthetiſch ideal gedachten Rhythmen der Körperwelt

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 813. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/51>, abgerufen am 10.11.2024.