Ein reicher Mann, der gern Fremde an seinem Tische sah, verband mit seiner Gastfreundschaft auch die Tugend der Wohlthätigkeit; er nöthigte nicht selten arme Durchreisende zur Tafel, die er nicht nur sättigte, sondern deren Umstände er auch in der Regel sehr fein zu erforschen suchte, um sie dann nie ohne einige Hülfe zu entlassen. Da man wußte, daß er ein Freund von jovialen, fröhlich gelaunten und witzigen Menschen war, so pflegten sich dergleichen Gäste alle Mühe zu geben, ihm so zu erscheinen, und einen oder den andern witzigen Einfall bestmöglichst anzubringen. So be- merkte einst ein solcher durchreisender Gast: er ver- muthe, daß er durch sein Essen und Trinken auf- falle. Da ich beides im reichlichen Maße genieße, so werden Sie, sagte er zum Wirth, nach jener Be- merkung eines alten Weisen über mein Alter nicht einig werden können, ob es über oder unter 60 Jahr seyn mag. Fügen Sie aber der Beobachtung des alten Weisen eine andere hinzu, nämlich die: daß das letzte Gewitter im Jahre, wenn Sommer in Win- ter übergeht, in der Regel das stärkste ist, so wird Jhnen klar werden, das ich heute aus dem 60 sten Jahre scheide, und daher in beidem, im Essen und Trinken, gleichviel leisten kann.
Ein reicher Mann, der gern Fremde an ſeinem Tiſche ſah, verband mit ſeiner Gaſtfreundſchaft auch die Tugend der Wohlthätigkeit; er nöthigte nicht ſelten arme Durchreiſende zur Tafel, die er nicht nur ſättigte, ſondern deren Umſtände er auch in der Regel ſehr fein zu erforſchen ſuchte, um ſie dann nie ohne einige Hülfe zu entlaſſen. Da man wußte, daß er ein Freund von jovialen, fröhlich gelaunten und witzigen Menſchen war, ſo pflegten ſich dergleichen Gäſte alle Mühe zu geben, ihm ſo zu erſcheinen, und einen oder den andern witzigen Einfall beſtmöglichſt anzubringen. So be- merkte einſt ein ſolcher durchreiſender Gaſt: er ver- muthe, daß er durch ſein Eſſen und Trinken auf- falle. Da ich beides im reichlichen Maße genieße, ſo werden Sie, ſagte er zum Wirth, nach jener Be- merkung eines alten Weiſen über mein Alter nicht einig werden können, ob es über oder unter 60 Jahr ſeyn mag. Fügen Sie aber der Beobachtung des alten Weiſen eine andere hinzu, nämlich die: daß das letzte Gewitter im Jahre, wenn Sommer in Win- ter übergeht, in der Regel das ſtärkſte iſt, ſo wird Jhnen klar werden, das ich heute aus dem 60 ſten Jahre ſcheide, und daher in beidem, im Eſſen und Trinken, gleichviel leiſten kann.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0062"n="46"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Ein reicher Mann, der gern Fremde an ſeinem<lb/>
Tiſche ſah, verband mit ſeiner Gaſtfreundſchaft auch<lb/>
die Tugend der Wohlthätigkeit; er nöthigte nicht<lb/>ſelten arme Durchreiſende zur Tafel, die er nicht<lb/>
nur ſättigte, ſondern deren Umſtände er auch in<lb/>
der Regel ſehr fein zu erforſchen ſuchte, um ſie<lb/>
dann nie ohne einige Hülfe zu entlaſſen. Da<lb/>
man wußte, daß er ein Freund von jovialen,<lb/>
fröhlich gelaunten und witzigen Menſchen war, ſo<lb/>
pflegten ſich dergleichen Gäſte alle Mühe zu geben,<lb/>
ihm ſo zu erſcheinen, und einen oder den andern<lb/>
witzigen Einfall beſtmöglichſt anzubringen. So be-<lb/>
merkte einſt ein ſolcher durchreiſender Gaſt: er ver-<lb/>
muthe, daß er durch ſein Eſſen und Trinken auf-<lb/>
falle. Da ich beides im reichlichen Maße genieße,<lb/>ſo werden Sie, ſagte er zum Wirth, nach jener Be-<lb/>
merkung eines alten Weiſen über mein Alter nicht<lb/>
einig werden können, ob es über oder unter 60 Jahr<lb/>ſeyn mag. Fügen Sie aber der Beobachtung des<lb/>
alten Weiſen eine andere hinzu, nämlich die: daß das<lb/>
letzte Gewitter im Jahre, wenn Sommer in Win-<lb/>
ter übergeht, in der Regel das ſtärkſte iſt, ſo wird<lb/>
Jhnen klar werden, das ich heute aus dem 60 ſten<lb/>
Jahre ſcheide, und daher in beidem, im Eſſen und<lb/>
Trinken, gleichviel leiſten kann.</p></div><lb/></div></body></text></TEI>
[46/0062]
Ein reicher Mann, der gern Fremde an ſeinem
Tiſche ſah, verband mit ſeiner Gaſtfreundſchaft auch
die Tugend der Wohlthätigkeit; er nöthigte nicht
ſelten arme Durchreiſende zur Tafel, die er nicht
nur ſättigte, ſondern deren Umſtände er auch in
der Regel ſehr fein zu erforſchen ſuchte, um ſie
dann nie ohne einige Hülfe zu entlaſſen. Da
man wußte, daß er ein Freund von jovialen,
fröhlich gelaunten und witzigen Menſchen war, ſo
pflegten ſich dergleichen Gäſte alle Mühe zu geben,
ihm ſo zu erſcheinen, und einen oder den andern
witzigen Einfall beſtmöglichſt anzubringen. So be-
merkte einſt ein ſolcher durchreiſender Gaſt: er ver-
muthe, daß er durch ſein Eſſen und Trinken auf-
falle. Da ich beides im reichlichen Maße genieße,
ſo werden Sie, ſagte er zum Wirth, nach jener Be-
merkung eines alten Weiſen über mein Alter nicht
einig werden können, ob es über oder unter 60 Jahr
ſeyn mag. Fügen Sie aber der Beobachtung des
alten Weiſen eine andere hinzu, nämlich die: daß das
letzte Gewitter im Jahre, wenn Sommer in Win-
ter übergeht, in der Regel das ſtärkſte iſt, ſo wird
Jhnen klar werden, das ich heute aus dem 60 ſten
Jahre ſcheide, und daher in beidem, im Eſſen und
Trinken, gleichviel leiſten kann.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Wolff, Sabattia Joseph: Ausverkauf meiner schriftstellerischen Arbeiten. Berlin, 1824, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_ausverkauf_1824/62>, abgerufen am 13.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.