Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite



dürstendes, und unbefriedigtes Geschöpf, ist
doch der Mensch! Sollten wir nicht das viel
weniger begehrende und viel eher gesättigte Thier
beneiden?

Doch nein: wir sind zur Freude von Gott
geschaffen: wie sollten wir sie verfehlen, wenn
wir sie nur auf dem rechten Wege suchen? Je
höher wir unser Ziel setzen, desto weniger schwe-
ben wir in Gefahr, in unserm Bestreben zurük-
ke zu sinken; je mehr wir begehren, desto mehr
erreichen wir. Nur über alles was Unbestand
und Vergänglichkeit, Zerstörung und Tod heißt,
müßen wir uns empor schwingen; mehr als Him-
mel und Erde, als Welt und Zeit uns darbie-
ten, müßen wir begehren: damit Unbestand
und Vergänglichkeit Zerstörung und Tod, uns
mit ihren Pfeilen nicht erreichen können, damit
Himmel und Erde, Welt und Zeit uns entbehrlich
werden. Gott selbst, der Allselige, und Allge-
nugsame, muß unser Verlangen seyn: wie kön-
te es dem fehlen, der aus i[h]m, dem unerschöpfli-
chen Meere der Seligkeit, sich sättigt? Die Ewig-
keit muß das Ziel unsrer Aussicht seyn: wie kön-
ten die mühevollsten traurigsten Auftritte der Zeit,
die unser Auge trübe machen, das Ziel ver-
drängen? Wer sich an Gott hält, und in die

Ewig-



dürſtendes, und unbefriedigtes Geſchöpf, iſt
doch der Menſch! Sollten wir nicht das viel
weniger begehrende und viel eher geſättigte Thier
beneiden?

Doch nein: wir ſind zur Freude von Gott
geſchaffen: wie ſollten wir ſie verfehlen, wenn
wir ſie nur auf dem rechten Wege ſuchen? Je
höher wir unſer Ziel ſetzen, deſto weniger ſchwe-
ben wir in Gefahr, in unſerm Beſtreben zurük-
ke zu ſinken; je mehr wir begehren, deſto mehr
erreichen wir. Nur über alles was Unbeſtand
und Vergänglichkeit, Zerſtörung und Tod heißt,
müßen wir uns empor ſchwingen; mehr als Him-
mel und Erde, als Welt und Zeit uns darbie-
ten, müßen wir begehren: damit Unbeſtand
und Vergänglichkeit Zerſtörung und Tod, uns
mit ihren Pfeilen nicht erreichen können, damit
Himmel und Erde, Welt und Zeit uns entbehrlich
werden. Gott ſelbſt, der Allſelige, und Allge-
nugſame, muß unſer Verlangen ſeyn: wie kön-
te es dem fehlen, der aus i[h]m, dem unerſchöpfli-
chen Meere der Seligkeit, ſich ſättigt? Die Ewig-
keit muß das Ziel unſrer Ausſicht ſeyn: wie kön-
ten die mühevollſten traurigſten Auftritte der Zeit,
die unſer Auge trübe machen, das Ziel ver-
drängen? Wer ſich an Gott hält, und in die

Ewig-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0114" n="62"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
dür&#x017F;tendes, und unbefriedigtes Ge&#x017F;chöpf, i&#x017F;t<lb/>
doch der Men&#x017F;ch! Sollten wir nicht das viel<lb/>
weniger begehrende und viel eher ge&#x017F;ättigte Thier<lb/>
beneiden?</p><lb/>
        <p>Doch nein: wir &#x017F;ind zur Freude von Gott<lb/>
ge&#x017F;chaffen: wie &#x017F;ollten wir &#x017F;ie verfehlen, wenn<lb/>
wir &#x017F;ie nur auf dem rechten Wege &#x017F;uchen? Je<lb/>
höher wir un&#x017F;er Ziel &#x017F;etzen, de&#x017F;to weniger &#x017F;chwe-<lb/>
ben wir in Gefahr, in un&#x017F;erm Be&#x017F;treben zurük-<lb/>
ke zu &#x017F;inken; je mehr wir begehren, de&#x017F;to mehr<lb/>
erreichen wir. Nur über alles was Unbe&#x017F;tand<lb/>
und Vergänglichkeit, Zer&#x017F;törung und Tod heißt,<lb/>
müßen wir uns empor &#x017F;chwingen; mehr als Him-<lb/>
mel und Erde, als Welt und Zeit uns darbie-<lb/>
ten, müßen wir begehren: damit Unbe&#x017F;tand<lb/>
und Vergänglichkeit Zer&#x017F;törung und Tod, uns<lb/>
mit ihren Pfeilen nicht erreichen können, damit<lb/>
Himmel und Erde, Welt und Zeit uns entbehrlich<lb/>
werden. Gott &#x017F;elb&#x017F;t, der All&#x017F;elige, und Allge-<lb/>
nug&#x017F;ame, muß un&#x017F;er Verlangen &#x017F;eyn: wie kön-<lb/>
te es dem fehlen, der aus i<supplied>h</supplied>m, dem uner&#x017F;chöpfli-<lb/>
chen Meere der Seligkeit, &#x017F;ich &#x017F;ättigt? Die Ewig-<lb/>
keit muß das Ziel un&#x017F;rer Aus&#x017F;icht &#x017F;eyn: wie kön-<lb/>
ten die mühevoll&#x017F;ten traurig&#x017F;ten Auftritte der Zeit,<lb/>
die un&#x017F;er Auge trübe machen, das Ziel ver-<lb/>
drängen? Wer &#x017F;ich an Gott hält, und in die<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Ewig-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[62/0114] dürſtendes, und unbefriedigtes Geſchöpf, iſt doch der Menſch! Sollten wir nicht das viel weniger begehrende und viel eher geſättigte Thier beneiden? Doch nein: wir ſind zur Freude von Gott geſchaffen: wie ſollten wir ſie verfehlen, wenn wir ſie nur auf dem rechten Wege ſuchen? Je höher wir unſer Ziel ſetzen, deſto weniger ſchwe- ben wir in Gefahr, in unſerm Beſtreben zurük- ke zu ſinken; je mehr wir begehren, deſto mehr erreichen wir. Nur über alles was Unbeſtand und Vergänglichkeit, Zerſtörung und Tod heißt, müßen wir uns empor ſchwingen; mehr als Him- mel und Erde, als Welt und Zeit uns darbie- ten, müßen wir begehren: damit Unbeſtand und Vergänglichkeit Zerſtörung und Tod, uns mit ihren Pfeilen nicht erreichen können, damit Himmel und Erde, Welt und Zeit uns entbehrlich werden. Gott ſelbſt, der Allſelige, und Allge- nugſame, muß unſer Verlangen ſeyn: wie kön- te es dem fehlen, der aus ihm, dem unerſchöpfli- chen Meere der Seligkeit, ſich ſättigt? Die Ewig- keit muß das Ziel unſrer Ausſicht ſeyn: wie kön- ten die mühevollſten traurigſten Auftritte der Zeit, die unſer Auge trübe machen, das Ziel ver- drängen? Wer ſich an Gott hält, und in die Ewig-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/114
Zitationshilfe: Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/114>, abgerufen am 16.06.2024.