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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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Theilung keine Gränzen; und die Möglichkeit verschiedener
Reproductionsgesetze ist ebenfalls unbegränzt.

So geschieht es, daß für die Sinne und für die
Phantasie
auch im Raume und in der Zeit das Ganze
den Theilen voranzugehn scheint; und hieraus entspringt die
Ungereimtheit im Begriffe der Materie. (Lehrbuch zur Ein-
leitung in die Philos. §. 98.)

Anmerkung 1. Auch die Geometrie vereinigt sich
hiemit; sie bedarf ihrer incommensurabeln Größen wegen
überall der unendlichen Theilbarkeit. Daraus aber ist der
Metaphysik, die unvorsichtig genug war, diese Ansicht des
Raumes für die primitive und allein-richtige zuhalten, viel
Unheil erwachsen.

Anmerkung 2. Vom Räumlichen und Zeitlichen
sind wir ausgegangen; nicht aber vom Raume und der Zeit.
Jenes von diesem abhängig zu machen, ist ein Jrrthum,
der hier nicht kann beleuchtet werden. Leere Räume wer-
den gesehen, wie man leere Zeiten (Pausen) hört, nämlich
erwartend was ausbleibt. Man trägt die schon vorhande-
nen Vorstellungen weiter fort; sie sinken aber fortwährend,
bis etwas Neues gegeben wird, das nun mit dem noch
übrigen Neste verschmilzt. -- Wird das Uebertragen weiter
fortgesetzt, und überschreitet es die letzte aufgefaßte Gränze;
so findet sich keine Gränze mehr, es eröffnet sich das Un endliche.
Sehr reichen Stoff zur Untersuchung bieten nicht
bloß die gegebenen Gestalten, wenn man die Verschieden-
heit ihrer Auffassung von bestimmten Puncten aus, in Be-
tracht zieht, sondern auch die Gestaltungen durch frey stei-
gende Vorstellungen; wohin das Schaffen geometrischer Fi-
guren, das Construiren, gehört.

Anmerkung 3. Zur Erklärung des Schönen im
Raume muß man nicht bloß die Begünstigung im Repro-
duciren der sich vielfach verbindenden Reihen, sondern be-

Theilung keine Gränzen; und die Möglichkeit verschiedener
Reproductionsgesetze ist ebenfalls unbegränzt.

So geschieht es, daß für die Sinne und für die
Phantasie
auch im Raume und in der Zeit das Ganze
den Theilen voranzugehn scheint; und hieraus entspringt die
Ungereimtheit im Begriffe der Materie. (Lehrbuch zur Ein-
leitung in die Philos. §. 98.)

Anmerkung 1. Auch die Geometrie vereinigt sich
hiemit; sie bedarf ihrer incommensurabeln Größen wegen
überall der unendlichen Theilbarkeit. Daraus aber ist der
Metaphysik, die unvorsichtig genug war, diese Ansicht des
Raumes für die primitive und allein-richtige zuhalten, viel
Unheil erwachsen.

Anmerkung 2. Vom Räumlichen und Zeitlichen
sind wir ausgegangen; nicht aber vom Raume und der Zeit.
Jenes von diesem abhängig zu machen, ist ein Jrrthum,
der hier nicht kann beleuchtet werden. Leere Räume wer-
den gesehen, wie man leere Zeiten (Pausen) hört, nämlich
erwartend was ausbleibt. Man trägt die schon vorhande-
nen Vorstellungen weiter fort; sie sinken aber fortwährend,
bis etwas Neues gegeben wird, das nun mit dem noch
übrigen Neste verschmilzt. — Wird das Uebertragen weiter
fortgesetzt, und überschreitet es die letzte aufgefaßte Gränze;
so findet sich keine Gränze mehr, es eröffnet sich das Un endliche.
Sehr reichen Stoff zur Untersuchung bieten nicht
bloß die gegebenen Gestalten, wenn man die Verschieden-
heit ihrer Auffassung von bestimmten Puncten aus, in Be-
tracht zieht, sondern auch die Gestaltungen durch frey stei-
gende Vorstellungen; wohin das Schaffen geometrischer Fi-
guren, das Construiren, gehört.

Anmerkung 3. Zur Erklärung des Schönen im
Raume muß man nicht bloß die Begünstigung im Repro-
duciren der sich vielfach verbindenden Reihen, sondern be-

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[139/0147] Theilung keine Gränzen; und die Möglichkeit verschiedener Reproductionsgesetze ist ebenfalls unbegränzt. So geschieht es, daß für die Sinne und für die Phantasie auch im Raume und in der Zeit das Ganze den Theilen voranzugehn scheint; und hieraus entspringt die Ungereimtheit im Begriffe der Materie. (Lehrbuch zur Ein- leitung in die Philos. §. 98.) Anmerkung 1. Auch die Geometrie vereinigt sich hiemit; sie bedarf ihrer incommensurabeln Größen wegen überall der unendlichen Theilbarkeit. Daraus aber ist der Metaphysik, die unvorsichtig genug war, diese Ansicht des Raumes für die primitive und allein-richtige zuhalten, viel Unheil erwachsen. Anmerkung 2. Vom Räumlichen und Zeitlichen sind wir ausgegangen; nicht aber vom Raume und der Zeit. Jenes von diesem abhängig zu machen, ist ein Jrrthum, der hier nicht kann beleuchtet werden. Leere Räume wer- den gesehen, wie man leere Zeiten (Pausen) hört, nämlich erwartend was ausbleibt. Man trägt die schon vorhande- nen Vorstellungen weiter fort; sie sinken aber fortwährend, bis etwas Neues gegeben wird, das nun mit dem noch übrigen Neste verschmilzt. — Wird das Uebertragen weiter fortgesetzt, und überschreitet es die letzte aufgefaßte Gränze; so findet sich keine Gränze mehr, es eröffnet sich das Un endliche. Sehr reichen Stoff zur Untersuchung bieten nicht bloß die gegebenen Gestalten, wenn man die Verschieden- heit ihrer Auffassung von bestimmten Puncten aus, in Be- tracht zieht, sondern auch die Gestaltungen durch frey stei- gende Vorstellungen; wohin das Schaffen geometrischer Fi- guren, das Construiren, gehört. Anmerkung 3. Zur Erklärung des Schönen im Raume muß man nicht bloß die Begünstigung im Repro- duciren der sich vielfach verbindenden Reihen, sondern be-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/147>, abgerufen am 18.05.2024.