auch seine Vernunft reich oder arm, krank oder gesund, ver- wachsen oder wohlerzogen, wie sein Körper. Täuschte uns die Natur mit Empfindungen der Sinne: so müßten wir uns, ihr zu Folge, täuschen lassen; nur so viele Menschen Einerlei Sinne hätten, so viele täuschten sich gleichförmig. Täuschen uns Menschen und wir haben nicht Kraft oder Or- gan, die Täuschung einzusehen und die Eindrücke zur bessern Proportion zu sammlen: so wird unsre Vernunft krüppel- haft und oft krüppelhaft aufs ganze Leben. Eben weil der Mensch alles lernen muß, ja weil es sein Jnstinkt und Be- ruf ist, alles, wie seinen geraden Gang zu lernen: so lernt er auch nur durch Fallen gehen und kömmt oft nur durch Jrren zur Wahrheit; indessen sich das Thier auf seinem vier- füßigen Gange sicher fortträgt: denn die stärker ausgedruckte Proportion seiner Sinne und Triebe sind seine Führer. Der Mensch hat den Königsvorzug, mit hohem Haupt, aufge- richtet weit umher zu schauen, freilich also auch vieles dunkel und falsch zu sehen, oft sogar seine Schritte zu vergessen und erst durch Straucheln erinnert zu werden, auf welcher engen Basis das ganze Kopf- und Herzensgebäude seiner Begriffe und Urtheile ruhe; indessen ist und bleibt er seiner hohen Verstandesbestimmung nach was kein anderes Erdenge- schöpf ist, ein Göttersohn, ein König der Erde.
Um
auch ſeine Vernunft reich oder arm, krank oder geſund, ver- wachſen oder wohlerzogen, wie ſein Koͤrper. Taͤuſchte uns die Natur mit Empfindungen der Sinne: ſo muͤßten wir uns, ihr zu Folge, taͤuſchen laſſen; nur ſo viele Menſchen Einerlei Sinne haͤtten, ſo viele taͤuſchten ſich gleichfoͤrmig. Taͤuſchen uns Menſchen und wir haben nicht Kraft oder Or- gan, die Taͤuſchung einzuſehen und die Eindruͤcke zur beſſern Proportion zu ſammlen: ſo wird unſre Vernunft kruͤppel- haft und oft kruͤppelhaft aufs ganze Leben. Eben weil der Menſch alles lernen muß, ja weil es ſein Jnſtinkt und Be- ruf iſt, alles, wie ſeinen geraden Gang zu lernen: ſo lernt er auch nur durch Fallen gehen und koͤmmt oft nur durch Jrren zur Wahrheit; indeſſen ſich das Thier auf ſeinem vier- fuͤßigen Gange ſicher forttraͤgt: denn die ſtaͤrker ausgedruckte Proportion ſeiner Sinne und Triebe ſind ſeine Fuͤhrer. Der Menſch hat den Koͤnigsvorzug, mit hohem Haupt, aufge- richtet weit umher zu ſchauen, freilich alſo auch vieles dunkel und falſch zu ſehen, oft ſogar ſeine Schritte zu vergeſſen und erſt durch Straucheln erinnert zu werden, auf welcher engen Baſis das ganze Kopf- und Herzensgebaͤude ſeiner Begriffe und Urtheile ruhe; indeſſen iſt und bleibt er ſeiner hohen Verſtandesbeſtimmung nach was kein anderes Erdenge- ſchoͤpf iſt, ein Goͤtterſohn, ein Koͤnig der Erde.
Um
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0232"n="230[210]"/>
auch ſeine Vernunft reich oder arm, krank oder geſund, ver-<lb/>
wachſen oder wohlerzogen, wie ſein Koͤrper. Taͤuſchte uns<lb/>
die Natur mit Empfindungen der Sinne: ſo muͤßten wir<lb/>
uns, ihr zu Folge, taͤuſchen laſſen; nur ſo viele Menſchen<lb/>
Einerlei Sinne haͤtten, ſo viele taͤuſchten ſich gleichfoͤrmig.<lb/>
Taͤuſchen uns Menſchen und wir haben nicht Kraft oder Or-<lb/>
gan, die Taͤuſchung einzuſehen und die Eindruͤcke zur beſſern<lb/>
Proportion zu ſammlen: ſo wird unſre Vernunft kruͤppel-<lb/>
haft und oft kruͤppelhaft aufs ganze Leben. Eben weil der<lb/>
Menſch alles lernen muß, ja weil es ſein Jnſtinkt und Be-<lb/>
ruf iſt, alles, wie ſeinen geraden Gang zu lernen: ſo lernt<lb/>
er auch nur durch Fallen gehen und koͤmmt oft nur durch<lb/>
Jrren zur Wahrheit; indeſſen ſich das Thier auf ſeinem vier-<lb/>
fuͤßigen Gange ſicher forttraͤgt: denn die ſtaͤrker ausgedruckte<lb/>
Proportion ſeiner Sinne und Triebe ſind ſeine Fuͤhrer. Der<lb/>
Menſch hat den Koͤnigsvorzug, mit hohem Haupt, aufge-<lb/>
richtet weit umher zu ſchauen, freilich alſo auch vieles dunkel<lb/>
und falſch zu ſehen, oft ſogar ſeine Schritte zu vergeſſen und<lb/>
erſt durch Straucheln erinnert zu werden, auf welcher engen<lb/>
Baſis das ganze Kopf- und Herzensgebaͤude ſeiner Begriffe<lb/>
und Urtheile ruhe; indeſſen iſt und bleibt er ſeiner hohen<lb/><hirendition="#fr">Verſtandesbeſtimmung</hi> nach was kein anderes Erdenge-<lb/>ſchoͤpf iſt, ein Goͤtterſohn, ein Koͤnig der Erde.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Um</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[230[210]/0232]
auch ſeine Vernunft reich oder arm, krank oder geſund, ver-
wachſen oder wohlerzogen, wie ſein Koͤrper. Taͤuſchte uns
die Natur mit Empfindungen der Sinne: ſo muͤßten wir
uns, ihr zu Folge, taͤuſchen laſſen; nur ſo viele Menſchen
Einerlei Sinne haͤtten, ſo viele taͤuſchten ſich gleichfoͤrmig.
Taͤuſchen uns Menſchen und wir haben nicht Kraft oder Or-
gan, die Taͤuſchung einzuſehen und die Eindruͤcke zur beſſern
Proportion zu ſammlen: ſo wird unſre Vernunft kruͤppel-
haft und oft kruͤppelhaft aufs ganze Leben. Eben weil der
Menſch alles lernen muß, ja weil es ſein Jnſtinkt und Be-
ruf iſt, alles, wie ſeinen geraden Gang zu lernen: ſo lernt
er auch nur durch Fallen gehen und koͤmmt oft nur durch
Jrren zur Wahrheit; indeſſen ſich das Thier auf ſeinem vier-
fuͤßigen Gange ſicher forttraͤgt: denn die ſtaͤrker ausgedruckte
Proportion ſeiner Sinne und Triebe ſind ſeine Fuͤhrer. Der
Menſch hat den Koͤnigsvorzug, mit hohem Haupt, aufge-
richtet weit umher zu ſchauen, freilich alſo auch vieles dunkel
und falſch zu ſehen, oft ſogar ſeine Schritte zu vergeſſen und
erſt durch Straucheln erinnert zu werden, auf welcher engen
Baſis das ganze Kopf- und Herzensgebaͤude ſeiner Begriffe
und Urtheile ruhe; indeſſen iſt und bleibt er ſeiner hohen
Verſtandesbeſtimmung nach was kein anderes Erdenge-
ſchoͤpf iſt, ein Goͤtterſohn, ein Koͤnig der Erde.
Um
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 230[210]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/232>, abgerufen am 31.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.