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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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Mittheilung zweener Wesen, die sich durchs ganze Leben zu
Einem vereint fühlen.

3. Da außer der mittheilenden Liebe alle andere zärt-
lichen Affekten sich mit der Theilnehmung begnügen: so
hat die Natur den Menschen unter allen Lebendigen zum
theilnehmendsten geschaffen, weil sie ihn gleichsam aus al-
lem geformt und jedem Reich der Schöpfung in dem Ver-
hältniß ähnlich organisirt hat, als er mit demselben mitfühlen
sollte. Sein Fiberngebäude ist so elastisch fein und zart, und
sein Nervengebäude so verschlungen in alle Theile seines vi-
brirenden Wesens, daß er als ein Analogon der alles durch-
fühlenden Gottheit sich beinah in jedes Geschöpf setzen und
gerade in dem Maas mit ihm empfinden kann, als das Ge-
schöpf es bedarf und sein Ganzes es ohne eigene Zerrüttung,
ja selbst mit Gefahr derselben, leidet. Auch an einem Baum
nimmt unsre Maschine Theil, sofern sie ein wachsender grü-
nender Baum ist; und es gibt Menschen, die den Sturz
oder die Verstümmelung desselben in seiner grünenden Ju-
gendgestalt körperlich nicht ertragen. Seine verdorrete Kro-
ne thut uns leid; wir trauren um eine verwelkende liebe Blu-
me. Auch das Krümmen des zerquetschten Wurms ist ei-
nem zarten Menschen nicht gleichgültig; und je vollkomme-
ner das Thier ist, je mehr es in seiner Organisation uns nahe

kommt:
F f 2

Mittheilung zweener Weſen, die ſich durchs ganze Leben zu
Einem vereint fuͤhlen.

3. Da außer der mittheilenden Liebe alle andere zaͤrt-
lichen Affekten ſich mit der Theilnehmung begnuͤgen: ſo
hat die Natur den Menſchen unter allen Lebendigen zum
theilnehmendſten geſchaffen, weil ſie ihn gleichſam aus al-
lem geformt und jedem Reich der Schoͤpfung in dem Ver-
haͤltniß aͤhnlich organiſirt hat, als er mit demſelben mitfuͤhlen
ſollte. Sein Fiberngebaͤude iſt ſo elaſtiſch fein und zart, und
ſein Nervengebaͤude ſo verſchlungen in alle Theile ſeines vi-
brirenden Weſens, daß er als ein Analogon der alles durch-
fuͤhlenden Gottheit ſich beinah in jedes Geſchoͤpf ſetzen und
gerade in dem Maas mit ihm empfinden kann, als das Ge-
ſchoͤpf es bedarf und ſein Ganzes es ohne eigene Zerruͤttung,
ja ſelbſt mit Gefahr derſelben, leidet. Auch an einem Baum
nimmt unſre Maſchine Theil, ſofern ſie ein wachſender gruͤ-
nender Baum iſt; und es gibt Menſchen, die den Sturz
oder die Verſtuͤmmelung deſſelben in ſeiner gruͤnenden Ju-
gendgeſtalt koͤrperlich nicht ertragen. Seine verdorrete Kro-
ne thut uns leid; wir trauren um eine verwelkende liebe Blu-
me. Auch das Kruͤmmen des zerquetſchten Wurms iſt ei-
nem zarten Menſchen nicht gleichguͤltig; und je vollkomme-
ner das Thier iſt, je mehr es in ſeiner Organiſation uns nahe

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F f 2
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[247[227]/0249] Mittheilung zweener Weſen, die ſich durchs ganze Leben zu Einem vereint fuͤhlen. 3. Da außer der mittheilenden Liebe alle andere zaͤrt- lichen Affekten ſich mit der Theilnehmung begnuͤgen: ſo hat die Natur den Menſchen unter allen Lebendigen zum theilnehmendſten geſchaffen, weil ſie ihn gleichſam aus al- lem geformt und jedem Reich der Schoͤpfung in dem Ver- haͤltniß aͤhnlich organiſirt hat, als er mit demſelben mitfuͤhlen ſollte. Sein Fiberngebaͤude iſt ſo elaſtiſch fein und zart, und ſein Nervengebaͤude ſo verſchlungen in alle Theile ſeines vi- brirenden Weſens, daß er als ein Analogon der alles durch- fuͤhlenden Gottheit ſich beinah in jedes Geſchoͤpf ſetzen und gerade in dem Maas mit ihm empfinden kann, als das Ge- ſchoͤpf es bedarf und ſein Ganzes es ohne eigene Zerruͤttung, ja ſelbſt mit Gefahr derſelben, leidet. Auch an einem Baum nimmt unſre Maſchine Theil, ſofern ſie ein wachſender gruͤ- nender Baum iſt; und es gibt Menſchen, die den Sturz oder die Verſtuͤmmelung deſſelben in ſeiner gruͤnenden Ju- gendgeſtalt koͤrperlich nicht ertragen. Seine verdorrete Kro- ne thut uns leid; wir trauren um eine verwelkende liebe Blu- me. Auch das Kruͤmmen des zerquetſchten Wurms iſt ei- nem zarten Menſchen nicht gleichguͤltig; und je vollkomme- ner das Thier iſt, je mehr es in ſeiner Organiſation uns nahe kommt: F f 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 247[227]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/249>, abgerufen am 31.10.2024.