kommt: desto mehr Sympathie erregt es in seinem Leiden. Es haben harte Nerven dazu gehört, ein Geschöpf lebendig zu öfnen und in seinen Zuckungen zu behorchen; nur der un- ersättliche Durst nach Ruhm und Wissenschaft konnte allmä- lich dies organische Mitgefühl betäuben. Zärtere Weiber können sogar die Zergliederung eines Todten nicht ertragen: sie empfinden Schmerz in jedem Gliede, das vor ihren Augen ge- waltsam zerstört wird, besonders je zarter und edler die Theile selbst werden. Ein durchwühltes Eingeweide erregt Grauen und Abscheu; ein zerschnittenes Herz, eine zerspaltne Lunge, ein zerstörtes Gehirn schneidet und sticht mit dem Messer in un- sre eignen Glieder. Am Leichnam eines geliebten Todten nehmen wir noch in seinem Grabe Theil: wir fühlen die kal- te Höle, die er nicht mehr fühlet und Schauder überläuft uns, wenn wir sein Gebein nur berühren. So sympathe- tisch webte die allgemeine Mutter, die alles aus sich nahm und mit allem in der innigsten Sympathie mitfühlet, den menschlichen Körper. Sein vibrirendes Fibernsystem, sein Theilnehmendes Nervengebäude hat des Aufrufs der Ver- nunft nicht nöthig; es kommt ihr zuvor, ja es setzet sich ihr oft mächtig und widersinnig entgegen. Der Umgang mit Wahnsinnigen, an denen wir Theil nehmen, erregt selbst Wahnsinn und desto eher, je mehr sich der Mensch davor fürchtet.
Son-
kommt: deſto mehr Sympathie erregt es in ſeinem Leiden. Es haben harte Nerven dazu gehoͤrt, ein Geſchoͤpf lebendig zu oͤfnen und in ſeinen Zuckungen zu behorchen; nur der un- erſaͤttliche Durſt nach Ruhm und Wiſſenſchaft konnte allmaͤ- lich dies organiſche Mitgefuͤhl betaͤuben. Zaͤrtere Weiber koͤnnen ſogar die Zergliederung eines Todten nicht ertragen: ſie empfinden Schmerz in jedem Gliede, das vor ihren Augen ge- waltſam zerſtoͤrt wird, beſonders je zarter und edler die Theile ſelbſt werden. Ein durchwuͤhltes Eingeweide erregt Grauen und Abſcheu; ein zerſchnittenes Herz, eine zerſpaltne Lunge, ein zerſtoͤrtes Gehirn ſchneidet und ſticht mit dem Meſſer in un- ſre eignen Glieder. Am Leichnam eines geliebten Todten nehmen wir noch in ſeinem Grabe Theil: wir fuͤhlen die kal- te Hoͤle, die er nicht mehr fuͤhlet und Schauder uͤberlaͤuft uns, wenn wir ſein Gebein nur beruͤhren. So ſympathe- tiſch webte die allgemeine Mutter, die alles aus ſich nahm und mit allem in der innigſten Sympathie mitfuͤhlet, den menſchlichen Koͤrper. Sein vibrirendes Fibernſyſtem, ſein Theilnehmendes Nervengebaͤude hat des Aufrufs der Ver- nunft nicht noͤthig; es kommt ihr zuvor, ja es ſetzet ſich ihr oft maͤchtig und widerſinnig entgegen. Der Umgang mit Wahnſinnigen, an denen wir Theil nehmen, erregt ſelbſt Wahnſinn und deſto eher, je mehr ſich der Menſch davor fuͤrchtet.
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[248[228]/0250]
kommt: deſto mehr Sympathie erregt es in ſeinem Leiden.
Es haben harte Nerven dazu gehoͤrt, ein Geſchoͤpf lebendig
zu oͤfnen und in ſeinen Zuckungen zu behorchen; nur der un-
erſaͤttliche Durſt nach Ruhm und Wiſſenſchaft konnte allmaͤ-
lich dies organiſche Mitgefuͤhl betaͤuben. Zaͤrtere Weiber
koͤnnen ſogar die Zergliederung eines Todten nicht ertragen:
ſie empfinden Schmerz in jedem Gliede, das vor ihren Augen ge-
waltſam zerſtoͤrt wird, beſonders je zarter und edler die Theile
ſelbſt werden. Ein durchwuͤhltes Eingeweide erregt Grauen
und Abſcheu; ein zerſchnittenes Herz, eine zerſpaltne Lunge, ein
zerſtoͤrtes Gehirn ſchneidet und ſticht mit dem Meſſer in un-
ſre eignen Glieder. Am Leichnam eines geliebten Todten
nehmen wir noch in ſeinem Grabe Theil: wir fuͤhlen die kal-
te Hoͤle, die er nicht mehr fuͤhlet und Schauder uͤberlaͤuft
uns, wenn wir ſein Gebein nur beruͤhren. So ſympathe-
tiſch webte die allgemeine Mutter, die alles aus ſich nahm
und mit allem in der innigſten Sympathie mitfuͤhlet, den
menſchlichen Koͤrper. Sein vibrirendes Fibernſyſtem, ſein
Theilnehmendes Nervengebaͤude hat des Aufrufs der Ver-
nunft nicht noͤthig; es kommt ihr zuvor, ja es ſetzet ſich ihr
oft maͤchtig und widerſinnig entgegen. Der Umgang mit
Wahnſinnigen, an denen wir Theil nehmen, erregt ſelbſt
Wahnſinn und deſto eher, je mehr ſich der Menſch davor
fuͤrchtet.
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 248[228]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/250>, abgerufen am 31.10.2024.
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