Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 1. Stuttgart, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Tägliche Bewegung der Erde.
Aber die tägliche Rotation des Himmels geht ja nicht eigentlich
um den Mittelpunkt der Erde, sondern, wie wir gesehen haben,
um die Achse derselben, oder sie geht in parallelen Kreisen vor
sich, deren Mittelpunkte alle in dieser Axe (§. 24), in einer ge-
raden Linie, liegen, von welchen nur der kleinste Theil mit der
Erde selbst zusammenfällt, während die beiden Endpunkte dersel-
ben sich bis an den endlosen Himmelsraum erstrecken. Die Kraft,
welche jeden Stern in seinem Parallelkreise treibt, muß doch wohl
in dem Mittelpunkte dieses Kreises liegen. Allein dieser Mittel-
punkt ist bei den meisten Sternen ganz außer der Erde und in
einer Entfernung von ihr, gegen die sie selbst als ein bloßer Punkt
verschwindet. Dieser Mittelpunkt des Kreises, dieser Sitz jener
sonderbaren Kraft ist also ein blos imaginärer, ein leerer Punkt
im Weltraume. Und da sich, wie wir gesehen haben, diese Sterne
immer langsamer bewegen, je näher sie den beiden Polen kommen,
so fordert auch jeder von ihnen eine eigene, immer abnehmende
Kraft, und der Sitz aller dieser so äußerst verschiedenen Kräfte,
zu beiden Seiten der Erde, in's Unendliche hin, ist eine bloß ein-
gebildete, durch nichts bezeichnete, gerade Linie. Solchen Un-
wahrscheinlichkeiten, solchen Widersprüchen müßten wir uns aus-
setzen, bloß um unsere eigene, so theuer gewordene Ruhe zu retten.
Denn wie wir uns entschließen, anzunehmen, daß wir es sind,
die wir uns, sammt unserer Erde, täglich um ihre Axe bewegen,
so fallen sofort alle jene, früher so unbegreiflichen Einwürfe weg,
und das ganze, erst so räthselhafte Phänomen, steht nun in seiner
Ursache rein und klar vor unseren Augen. Wenn wir daher nicht
wieder zu dem krystallenen Himmel der Alten unsere Zuflucht
nehmen und mit ihnen voraussetzen wollen, daß alle Gestirne an
einer soliden Kugelschale, wie Diamantnägel in einem schwarzen
Sammtgewölbe, befestigt sind, eine Annahme, die mit allen un-
seren Beobachtungen über die Entfernung der Himmelskörper im
direkten Widerspruche steht, und die wir auch schon wegen der be-
weglichen Gestirne, die wir bald näher kennen lernen werden, als
ganz unzulässig von uns weisen müssen, -- wenn wir, sage ich, noch
Sinn für Wahrheit und für Ueberzeugung durch Vernunftgründe
haben wollen, so bleibt nichts übrig, als die Hypothese von der
Ruhe der Erde als unstatthaft zu verwerfen, und dafür jene andere

Littrows Himmel u. s. Wunder I. 5

Tägliche Bewegung der Erde.
Aber die tägliche Rotation des Himmels geht ja nicht eigentlich
um den Mittelpunkt der Erde, ſondern, wie wir geſehen haben,
um die Achſe derſelben, oder ſie geht in parallelen Kreiſen vor
ſich, deren Mittelpunkte alle in dieſer Axe (§. 24), in einer ge-
raden Linie, liegen, von welchen nur der kleinſte Theil mit der
Erde ſelbſt zuſammenfällt, während die beiden Endpunkte derſel-
ben ſich bis an den endloſen Himmelsraum erſtrecken. Die Kraft,
welche jeden Stern in ſeinem Parallelkreiſe treibt, muß doch wohl
in dem Mittelpunkte dieſes Kreiſes liegen. Allein dieſer Mittel-
punkt iſt bei den meiſten Sternen ganz außer der Erde und in
einer Entfernung von ihr, gegen die ſie ſelbſt als ein bloßer Punkt
verſchwindet. Dieſer Mittelpunkt des Kreiſes, dieſer Sitz jener
ſonderbaren Kraft iſt alſo ein blos imaginärer, ein leerer Punkt
im Weltraume. Und da ſich, wie wir geſehen haben, dieſe Sterne
immer langſamer bewegen, je näher ſie den beiden Polen kommen,
ſo fordert auch jeder von ihnen eine eigene, immer abnehmende
Kraft, und der Sitz aller dieſer ſo äußerſt verſchiedenen Kräfte,
zu beiden Seiten der Erde, in’s Unendliche hin, iſt eine bloß ein-
gebildete, durch nichts bezeichnete, gerade Linie. Solchen Un-
wahrſcheinlichkeiten, ſolchen Widerſprüchen müßten wir uns aus-
ſetzen, bloß um unſere eigene, ſo theuer gewordene Ruhe zu retten.
Denn wie wir uns entſchließen, anzunehmen, daß wir es ſind,
die wir uns, ſammt unſerer Erde, täglich um ihre Axe bewegen,
ſo fallen ſofort alle jene, früher ſo unbegreiflichen Einwürfe weg,
und das ganze, erſt ſo räthſelhafte Phänomen, ſteht nun in ſeiner
Urſache rein und klar vor unſeren Augen. Wenn wir daher nicht
wieder zu dem kryſtallenen Himmel der Alten unſere Zuflucht
nehmen und mit ihnen vorausſetzen wollen, daß alle Geſtirne an
einer ſoliden Kugelſchale, wie Diamantnägel in einem ſchwarzen
Sammtgewölbe, befeſtigt ſind, eine Annahme, die mit allen un-
ſeren Beobachtungen über die Entfernung der Himmelskörper im
direkten Widerſpruche ſteht, und die wir auch ſchon wegen der be-
weglichen Geſtirne, die wir bald näher kennen lernen werden, als
ganz unzuläſſig von uns weiſen müſſen, — wenn wir, ſage ich, noch
Sinn für Wahrheit und für Ueberzeugung durch Vernunftgründe
haben wollen, ſo bleibt nichts übrig, als die Hypotheſe von der
Ruhe der Erde als unſtatthaft zu verwerfen, und dafür jene andere

Littrows Himmel u. ſ. Wunder I. 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <div n="3">
          <p><pb facs="#f0077" n="65"/><fw place="top" type="header">Tägliche Bewegung der Erde.</fw><lb/>
Aber die tägliche Rotation des Himmels geht ja nicht eigentlich<lb/>
um den Mittelpunkt der Erde, &#x017F;ondern, wie wir ge&#x017F;ehen haben,<lb/>
um die Ach&#x017F;e der&#x017F;elben, oder &#x017F;ie geht in parallelen Krei&#x017F;en vor<lb/>
&#x017F;ich, deren Mittelpunkte alle in die&#x017F;er Axe (§. 24), in einer ge-<lb/>
raden Linie, liegen, von welchen nur der klein&#x017F;te Theil mit der<lb/>
Erde &#x017F;elb&#x017F;t zu&#x017F;ammenfällt, während die beiden Endpunkte der&#x017F;el-<lb/>
ben &#x017F;ich bis an den endlo&#x017F;en Himmelsraum er&#x017F;trecken. Die Kraft,<lb/>
welche jeden Stern in &#x017F;einem Parallelkrei&#x017F;e treibt, muß doch wohl<lb/>
in dem Mittelpunkte die&#x017F;es Krei&#x017F;es liegen. Allein die&#x017F;er Mittel-<lb/>
punkt i&#x017F;t bei den mei&#x017F;ten Sternen ganz außer der Erde und in<lb/>
einer Entfernung von ihr, gegen die &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t als ein bloßer Punkt<lb/>
ver&#x017F;chwindet. Die&#x017F;er Mittelpunkt des Krei&#x017F;es, die&#x017F;er Sitz jener<lb/>
&#x017F;onderbaren Kraft i&#x017F;t al&#x017F;o ein blos imaginärer, ein leerer Punkt<lb/>
im Weltraume. Und da &#x017F;ich, wie wir ge&#x017F;ehen haben, die&#x017F;e Sterne<lb/>
immer lang&#x017F;amer bewegen, je näher &#x017F;ie den beiden Polen kommen,<lb/>
&#x017F;o fordert auch jeder von ihnen eine eigene, immer abnehmende<lb/>
Kraft, und der Sitz aller die&#x017F;er &#x017F;o äußer&#x017F;t ver&#x017F;chiedenen Kräfte,<lb/>
zu beiden Seiten der Erde, in&#x2019;s Unendliche hin, i&#x017F;t eine bloß ein-<lb/>
gebildete, durch nichts bezeichnete, gerade Linie. Solchen Un-<lb/>
wahr&#x017F;cheinlichkeiten, &#x017F;olchen Wider&#x017F;prüchen müßten wir uns aus-<lb/>
&#x017F;etzen, bloß um un&#x017F;ere eigene, &#x017F;o theuer gewordene Ruhe zu retten.<lb/>
Denn wie wir uns ent&#x017F;chließen, anzunehmen, daß <hi rendition="#g">wir</hi> es &#x017F;ind,<lb/>
die wir uns, &#x017F;ammt un&#x017F;erer Erde, täglich um ihre Axe bewegen,<lb/>
&#x017F;o fallen &#x017F;ofort alle jene, früher &#x017F;o unbegreiflichen Einwürfe weg,<lb/>
und das ganze, er&#x017F;t &#x017F;o räth&#x017F;elhafte Phänomen, &#x017F;teht nun in &#x017F;einer<lb/>
Ur&#x017F;ache rein und klar vor un&#x017F;eren Augen. Wenn wir daher nicht<lb/>
wieder zu dem kry&#x017F;tallenen Himmel der Alten un&#x017F;ere Zuflucht<lb/>
nehmen und mit ihnen voraus&#x017F;etzen wollen, daß alle Ge&#x017F;tirne an<lb/>
einer &#x017F;oliden Kugel&#x017F;chale, wie Diamantnägel in einem &#x017F;chwarzen<lb/>
Sammtgewölbe, befe&#x017F;tigt &#x017F;ind, eine Annahme, die mit allen un-<lb/>
&#x017F;eren Beobachtungen über die Entfernung der Himmelskörper im<lb/>
direkten Wider&#x017F;pruche &#x017F;teht, und die wir auch &#x017F;chon wegen der be-<lb/>
weglichen Ge&#x017F;tirne, die wir bald näher kennen lernen werden, als<lb/>
ganz unzulä&#x017F;&#x017F;ig von uns wei&#x017F;en mü&#x017F;&#x017F;en, &#x2014; wenn wir, &#x017F;age ich, noch<lb/>
Sinn für Wahrheit und für Ueberzeugung durch Vernunftgründe<lb/>
haben wollen, &#x017F;o bleibt nichts übrig, als die Hypothe&#x017F;e von der<lb/>
Ruhe der Erde als un&#x017F;tatthaft zu verwerfen, und dafür jene andere<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Littrows</hi> Himmel u. &#x017F;. Wunder <hi rendition="#aq">I.</hi> 5</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[65/0077] Tägliche Bewegung der Erde. Aber die tägliche Rotation des Himmels geht ja nicht eigentlich um den Mittelpunkt der Erde, ſondern, wie wir geſehen haben, um die Achſe derſelben, oder ſie geht in parallelen Kreiſen vor ſich, deren Mittelpunkte alle in dieſer Axe (§. 24), in einer ge- raden Linie, liegen, von welchen nur der kleinſte Theil mit der Erde ſelbſt zuſammenfällt, während die beiden Endpunkte derſel- ben ſich bis an den endloſen Himmelsraum erſtrecken. Die Kraft, welche jeden Stern in ſeinem Parallelkreiſe treibt, muß doch wohl in dem Mittelpunkte dieſes Kreiſes liegen. Allein dieſer Mittel- punkt iſt bei den meiſten Sternen ganz außer der Erde und in einer Entfernung von ihr, gegen die ſie ſelbſt als ein bloßer Punkt verſchwindet. Dieſer Mittelpunkt des Kreiſes, dieſer Sitz jener ſonderbaren Kraft iſt alſo ein blos imaginärer, ein leerer Punkt im Weltraume. Und da ſich, wie wir geſehen haben, dieſe Sterne immer langſamer bewegen, je näher ſie den beiden Polen kommen, ſo fordert auch jeder von ihnen eine eigene, immer abnehmende Kraft, und der Sitz aller dieſer ſo äußerſt verſchiedenen Kräfte, zu beiden Seiten der Erde, in’s Unendliche hin, iſt eine bloß ein- gebildete, durch nichts bezeichnete, gerade Linie. Solchen Un- wahrſcheinlichkeiten, ſolchen Widerſprüchen müßten wir uns aus- ſetzen, bloß um unſere eigene, ſo theuer gewordene Ruhe zu retten. Denn wie wir uns entſchließen, anzunehmen, daß wir es ſind, die wir uns, ſammt unſerer Erde, täglich um ihre Axe bewegen, ſo fallen ſofort alle jene, früher ſo unbegreiflichen Einwürfe weg, und das ganze, erſt ſo räthſelhafte Phänomen, ſteht nun in ſeiner Urſache rein und klar vor unſeren Augen. Wenn wir daher nicht wieder zu dem kryſtallenen Himmel der Alten unſere Zuflucht nehmen und mit ihnen vorausſetzen wollen, daß alle Geſtirne an einer ſoliden Kugelſchale, wie Diamantnägel in einem ſchwarzen Sammtgewölbe, befeſtigt ſind, eine Annahme, die mit allen un- ſeren Beobachtungen über die Entfernung der Himmelskörper im direkten Widerſpruche ſteht, und die wir auch ſchon wegen der be- weglichen Geſtirne, die wir bald näher kennen lernen werden, als ganz unzuläſſig von uns weiſen müſſen, — wenn wir, ſage ich, noch Sinn für Wahrheit und für Ueberzeugung durch Vernunftgründe haben wollen, ſo bleibt nichts übrig, als die Hypotheſe von der Ruhe der Erde als unſtatthaft zu verwerfen, und dafür jene andere Littrows Himmel u. ſ. Wunder I. 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/littrow_weltsystem01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/littrow_weltsystem01_1834/77
Zitationshilfe: Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 1. Stuttgart, 1834, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/littrow_weltsystem01_1834/77>, abgerufen am 01.11.2024.