Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

den Vorzug vor dem Inquisitionsproceß.
vollständig beweisen solle; und dieses wird auch von dem
Anwalde erfordert, den die Obrigkeit einem armen gerin-
gen Kläger leihet. Je mehr Geld die Obrigkeit auwenden
kann, desto leichter kann sie auch den Beweis anschaffen;
aber sie muß so wenig als ein anderer Kläger auftreten und
bitten können, daß der Richter, in Ermangelung eines voll-
ständigen Beweises, den Beklagten ein klein bisgen peini-
gen lassen solle. Nicht wahr, sie würden eine solche unter-
thänigste rechtliche Bitte in dem Munde eines Klägers sehr
lächerlich finden? Und wenn sie das thun, wie ich ihnen
hiemit wohlmeinend rathe, verschlägt es denn nichts, daß
man das Klagen fast überall, ausser in England, abschafft,
und der Obrigkeit zumuthet, jedes Verbrechen sofort auf
blosse Anzeige zu untersuchen? Es ist bey meiner Treu eine
wunderliche Forderung eben diese Untersuchung! da soll die
Obrigkeit auf die Gründe vor und wider den Angeklagten
mit gleicher Unpartheylichkeit herabsehen, mit den scharf-
sichtigsten Augen hier alles mögliche, was nur irgend zu
seiner Entschuldigung dienen kann, dort alles, was ihm zur
Last fällt, aufsuchen; und wenn die Nothzucht sich in eine
gemeine Hurerey, der Strassenraub in ein Spolium, der
Diebstal in eine Veruntreuung, und die Schlägerey in eine
wohlverdiente Züchtigung verwandelt, die Kosten von je-
der Thorheit stehen. Der Angeklagte soll, wenn er nicht
überführet wird, bey der Entschuldigung, daß man Amts-
halber gegen ihn verfahren habe, Schimpf und Schaden
verschmerzen; oder wenn man alle scheinbare Umstände wi-
der ihn aufgetrieben, Vermuthungen auf Vermuthungen
gehäuft, und die sogenannten Anzeigen nach einem noch
unerfundenen Maaßstabe berechnet hat, sich mit dem Eyde
oder wohl gar mit der Marter reinigen; der Angeber soll
ungesehn hinter dem Vorhange lauren, und ohne den Be-
weiß vollführt zu haben, sich hinter das obrigkeitliche Amt

ver-
F 2

den Vorzug vor dem Inquiſitionsproceß.
vollſtaͤndig beweiſen ſolle; und dieſes wird auch von dem
Anwalde erfordert, den die Obrigkeit einem armen gerin-
gen Klaͤger leihet. Je mehr Geld die Obrigkeit auwenden
kann, deſto leichter kann ſie auch den Beweis anſchaffen;
aber ſie muß ſo wenig als ein anderer Klaͤger auftreten und
bitten koͤnnen, daß der Richter, in Ermangelung eines voll-
ſtaͤndigen Beweiſes, den Beklagten ein klein bisgen peini-
gen laſſen ſolle. Nicht wahr, ſie wuͤrden eine ſolche unter-
thaͤnigſte rechtliche Bitte in dem Munde eines Klaͤgers ſehr
laͤcherlich finden? Und wenn ſie das thun, wie ich ihnen
hiemit wohlmeinend rathe, verſchlaͤgt es denn nichts, daß
man das Klagen faſt uͤberall, auſſer in England, abſchafft,
und der Obrigkeit zumuthet, jedes Verbrechen ſofort auf
bloſſe Anzeige zu unterſuchen? Es iſt bey meiner Treu eine
wunderliche Forderung eben dieſe Unterſuchung! da ſoll die
Obrigkeit auf die Gruͤnde vor und wider den Angeklagten
mit gleicher Unpartheylichkeit herabſehen, mit den ſcharf-
ſichtigſten Augen hier alles moͤgliche, was nur irgend zu
ſeiner Entſchuldigung dienen kann, dort alles, was ihm zur
Laſt faͤllt, aufſuchen; und wenn die Nothzucht ſich in eine
gemeine Hurerey, der Straſſenraub in ein Spolium, der
Diebſtal in eine Veruntreuung, und die Schlaͤgerey in eine
wohlverdiente Zuͤchtigung verwandelt, die Koſten von je-
der Thorheit ſtehen. Der Angeklagte ſoll, wenn er nicht
uͤberfuͤhret wird, bey der Entſchuldigung, daß man Amts-
halber gegen ihn verfahren habe, Schimpf und Schaden
verſchmerzen; oder wenn man alle ſcheinbare Umſtaͤnde wi-
der ihn aufgetrieben, Vermuthungen auf Vermuthungen
gehaͤuft, und die ſogenannten Anzeigen nach einem noch
unerfundenen Maaßſtabe berechnet hat, ſich mit dem Eyde
oder wohl gar mit der Marter reinigen; der Angeber ſoll
ungeſehn hinter dem Vorhange lauren, und ohne den Be-
weiß vollfuͤhrt zu haben, ſich hinter das obrigkeitliche Amt

ver-
F 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0097" n="83"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">den Vorzug vor dem Inqui&#x017F;itionsproceß.</hi></fw><lb/>
voll&#x017F;ta&#x0364;ndig bewei&#x017F;en &#x017F;olle; und die&#x017F;es wird auch von dem<lb/>
Anwalde erfordert, den die Obrigkeit einem armen gerin-<lb/>
gen Kla&#x0364;ger leihet. Je mehr Geld die Obrigkeit auwenden<lb/>
kann, de&#x017F;to leichter kann &#x017F;ie auch den Beweis an&#x017F;chaffen;<lb/>
aber &#x017F;ie muß &#x017F;o wenig als ein anderer Kla&#x0364;ger auftreten und<lb/>
bitten ko&#x0364;nnen, daß der Richter, in Ermangelung eines voll-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndigen Bewei&#x017F;es, den Beklagten ein klein bisgen peini-<lb/>
gen la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;olle. Nicht wahr, &#x017F;ie wu&#x0364;rden eine &#x017F;olche unter-<lb/>
tha&#x0364;nig&#x017F;te rechtliche Bitte in dem Munde eines Kla&#x0364;gers &#x017F;ehr<lb/>
la&#x0364;cherlich finden? Und wenn &#x017F;ie das thun, wie ich ihnen<lb/>
hiemit wohlmeinend rathe, ver&#x017F;chla&#x0364;gt es denn nichts, daß<lb/>
man das Klagen fa&#x017F;t u&#x0364;berall, au&#x017F;&#x017F;er in England, ab&#x017F;chafft,<lb/>
und der Obrigkeit zumuthet, jedes Verbrechen &#x017F;ofort auf<lb/>
blo&#x017F;&#x017F;e Anzeige zu unter&#x017F;uchen? Es i&#x017F;t bey meiner Treu eine<lb/>
wunderliche Forderung eben die&#x017F;e Unter&#x017F;uchung! da &#x017F;oll die<lb/>
Obrigkeit auf die Gru&#x0364;nde vor und wider den Angeklagten<lb/>
mit gleicher Unpartheylichkeit herab&#x017F;ehen, mit den &#x017F;charf-<lb/>
&#x017F;ichtig&#x017F;ten Augen hier alles mo&#x0364;gliche, was nur irgend zu<lb/>
&#x017F;einer Ent&#x017F;chuldigung dienen kann, dort alles, was ihm zur<lb/>
La&#x017F;t fa&#x0364;llt, auf&#x017F;uchen; und wenn die Nothzucht &#x017F;ich in eine<lb/>
gemeine Hurerey, der Stra&#x017F;&#x017F;enraub in ein Spolium, der<lb/>
Dieb&#x017F;tal in eine Veruntreuung, und die Schla&#x0364;gerey in eine<lb/>
wohlverdiente Zu&#x0364;chtigung verwandelt, die Ko&#x017F;ten von je-<lb/>
der Thorheit &#x017F;tehen. Der Angeklagte &#x017F;oll, wenn er nicht<lb/>
u&#x0364;berfu&#x0364;hret wird, bey der Ent&#x017F;chuldigung, daß man Amts-<lb/>
halber gegen ihn verfahren habe, Schimpf und Schaden<lb/>
ver&#x017F;chmerzen; oder wenn man alle &#x017F;cheinbare Um&#x017F;ta&#x0364;nde wi-<lb/>
der ihn aufgetrieben, Vermuthungen auf Vermuthungen<lb/>
geha&#x0364;uft, und die &#x017F;ogenannten Anzeigen nach einem noch<lb/>
unerfundenen Maaß&#x017F;tabe berechnet hat, &#x017F;ich mit dem Eyde<lb/>
oder wohl gar mit der Marter reinigen; der Angeber &#x017F;oll<lb/>
unge&#x017F;ehn hinter dem Vorhange lauren, und ohne den Be-<lb/>
weiß vollfu&#x0364;hrt zu haben, &#x017F;ich hinter das obrigkeitliche Amt<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">F 2</fw><fw place="bottom" type="catch">ver-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[83/0097] den Vorzug vor dem Inquiſitionsproceß. vollſtaͤndig beweiſen ſolle; und dieſes wird auch von dem Anwalde erfordert, den die Obrigkeit einem armen gerin- gen Klaͤger leihet. Je mehr Geld die Obrigkeit auwenden kann, deſto leichter kann ſie auch den Beweis anſchaffen; aber ſie muß ſo wenig als ein anderer Klaͤger auftreten und bitten koͤnnen, daß der Richter, in Ermangelung eines voll- ſtaͤndigen Beweiſes, den Beklagten ein klein bisgen peini- gen laſſen ſolle. Nicht wahr, ſie wuͤrden eine ſolche unter- thaͤnigſte rechtliche Bitte in dem Munde eines Klaͤgers ſehr laͤcherlich finden? Und wenn ſie das thun, wie ich ihnen hiemit wohlmeinend rathe, verſchlaͤgt es denn nichts, daß man das Klagen faſt uͤberall, auſſer in England, abſchafft, und der Obrigkeit zumuthet, jedes Verbrechen ſofort auf bloſſe Anzeige zu unterſuchen? Es iſt bey meiner Treu eine wunderliche Forderung eben dieſe Unterſuchung! da ſoll die Obrigkeit auf die Gruͤnde vor und wider den Angeklagten mit gleicher Unpartheylichkeit herabſehen, mit den ſcharf- ſichtigſten Augen hier alles moͤgliche, was nur irgend zu ſeiner Entſchuldigung dienen kann, dort alles, was ihm zur Laſt faͤllt, aufſuchen; und wenn die Nothzucht ſich in eine gemeine Hurerey, der Straſſenraub in ein Spolium, der Diebſtal in eine Veruntreuung, und die Schlaͤgerey in eine wohlverdiente Zuͤchtigung verwandelt, die Koſten von je- der Thorheit ſtehen. Der Angeklagte ſoll, wenn er nicht uͤberfuͤhret wird, bey der Entſchuldigung, daß man Amts- halber gegen ihn verfahren habe, Schimpf und Schaden verſchmerzen; oder wenn man alle ſcheinbare Umſtaͤnde wi- der ihn aufgetrieben, Vermuthungen auf Vermuthungen gehaͤuft, und die ſogenannten Anzeigen nach einem noch unerfundenen Maaßſtabe berechnet hat, ſich mit dem Eyde oder wohl gar mit der Marter reinigen; der Angeber ſoll ungeſehn hinter dem Vorhange lauren, und ohne den Be- weiß vollfuͤhrt zu haben, ſich hinter das obrigkeitliche Amt ver- F 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und verme… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/97
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/97>, abgerufen am 31.10.2024.