Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791.
1. 3. S. 76. ff. II. Ohne Zweifel hat der Taubstumme die meisten Jdeen, von welchen hier gesprochen wird, durch die Erziehung, und von aussen her erworben. Auch ist das Merkwürdige in der Erscheinung gar nicht, daß er die Jdeen empfangen hat; nur der starke Eindruck, welchen diese Jdeen in ihm gemacht haben, die Begierde, mit welcher er sie erlernet, und die tiefen Wurzeln, die sie in seinem Herzen mehr als in seinem Kopfe gefaßt haben, verdienen Aufmerksamkeit. Welche Aehnlichkeit, zwischen diesem Taubstummen mit dem Blindgebornen, von dem in der h. S. gesagt wird: daß er mehr Glauben hatte, als einer in ganz Jsrael! und welcher Contrast mit den metaphysischen Sophismen eines Diderot, über die religiösen Begriffe der Unglücklichen dieser Art! Ohne Zweifel hat ein Blindgeborner und ein Taubstummer, der niemals von einem ewigen Wesen reden hörte, ganz andere Begriffe von dem Ursprung und von der Natur der Dinge, als wir. Er hat eben darum eine ganz andere Religion, so wie jeder Mensch nach seiner individuellen Weise, seine eigene hat. Aber man bringe nur dieser Art Leuten Begriffe von Gott, von einem Heilande, von
1. 3. S. 76. ff. II. Ohne Zweifel hat der Taubstumme die meisten Jdeen, von welchen hier gesprochen wird, durch die Erziehung, und von aussen her erworben. Auch ist das Merkwuͤrdige in der Erscheinung gar nicht, daß er die Jdeen empfangen hat; nur der starke Eindruck, welchen diese Jdeen in ihm gemacht haben, die Begierde, mit welcher er sie erlernet, und die tiefen Wurzeln, die sie in seinem Herzen mehr als in seinem Kopfe gefaßt haben, verdienen Aufmerksamkeit. Welche Aehnlichkeit, zwischen diesem Taubstummen mit dem Blindgebornen, von dem in der h. S. gesagt wird: daß er mehr Glauben hatte, als einer in ganz Jsrael! und welcher Contrast mit den metaphysischen Sophismen eines Diderot, uͤber die religioͤsen Begriffe der Ungluͤcklichen dieser Art! Ohne Zweifel hat ein Blindgeborner und ein Taubstummer, der niemals von einem ewigen Wesen reden hoͤrte, ganz andere Begriffe von dem Ursprung und von der Natur der Dinge, als wir. Er hat eben darum eine ganz andere Religion, so wie jeder Mensch nach seiner individuellen Weise, seine eigene hat. Aber man bringe nur dieser Art Leuten Begriffe von Gott, von einem Heilande, von <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0097" n="97"/><lb/> so viel Lobspruͤche fuͤr jede einzelne Stelle gewesen waͤren; und ich glaube fest, daß ein Werk, wie das Jhrige, fuͤr keinen Leser geschrieben ist, dem man bei jedem Stuͤcke einen Fingerzeig geben muͤßte, damit er die Schoͤnheit fuͤhle. </p> <p>1. 3. S. 76. ff. <hi rendition="#aq">II.</hi> Ohne Zweifel hat der Taubstumme die meisten Jdeen, von welchen hier gesprochen wird, durch die Erziehung, und von aussen her erworben. Auch ist das Merkwuͤrdige in der Erscheinung gar nicht, daß er die Jdeen <hi rendition="#b">empfangen</hi> hat; nur der starke Eindruck, welchen diese Jdeen in ihm gemacht haben, die Begierde, mit welcher er sie erlernet, und die tiefen Wurzeln, die sie in seinem <hi rendition="#b">Herzen</hi> mehr als in seinem <hi rendition="#b">Kopfe</hi> gefaßt haben, verdienen Aufmerksamkeit. Welche Aehnlichkeit, zwischen diesem Taubstummen mit dem Blindgebornen, von dem in der h. S. gesagt wird: <hi rendition="#b">daß er mehr Glauben hatte, als einer in ganz Jsrael!</hi> und welcher Contrast mit den metaphysischen Sophismen eines <hi rendition="#b">Diderot,</hi> uͤber die religioͤsen Begriffe der Ungluͤcklichen dieser Art! Ohne Zweifel hat ein Blindgeborner und ein Taubstummer, der niemals von einem ewigen Wesen reden hoͤrte, ganz andere Begriffe von dem Ursprung und von der Natur der Dinge, als wir. </p> <p>Er hat eben darum eine ganz andere Religion, so wie jeder Mensch nach seiner individuellen Weise, seine eigene hat. Aber man bringe nur dieser Art Leuten Begriffe von Gott, von einem Heilande, von<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [97/0097]
so viel Lobspruͤche fuͤr jede einzelne Stelle gewesen waͤren; und ich glaube fest, daß ein Werk, wie das Jhrige, fuͤr keinen Leser geschrieben ist, dem man bei jedem Stuͤcke einen Fingerzeig geben muͤßte, damit er die Schoͤnheit fuͤhle.
1. 3. S. 76. ff. II. Ohne Zweifel hat der Taubstumme die meisten Jdeen, von welchen hier gesprochen wird, durch die Erziehung, und von aussen her erworben. Auch ist das Merkwuͤrdige in der Erscheinung gar nicht, daß er die Jdeen empfangen hat; nur der starke Eindruck, welchen diese Jdeen in ihm gemacht haben, die Begierde, mit welcher er sie erlernet, und die tiefen Wurzeln, die sie in seinem Herzen mehr als in seinem Kopfe gefaßt haben, verdienen Aufmerksamkeit. Welche Aehnlichkeit, zwischen diesem Taubstummen mit dem Blindgebornen, von dem in der h. S. gesagt wird: daß er mehr Glauben hatte, als einer in ganz Jsrael! und welcher Contrast mit den metaphysischen Sophismen eines Diderot, uͤber die religioͤsen Begriffe der Ungluͤcklichen dieser Art! Ohne Zweifel hat ein Blindgeborner und ein Taubstummer, der niemals von einem ewigen Wesen reden hoͤrte, ganz andere Begriffe von dem Ursprung und von der Natur der Dinge, als wir.
Er hat eben darum eine ganz andere Religion, so wie jeder Mensch nach seiner individuellen Weise, seine eigene hat. Aber man bringe nur dieser Art Leuten Begriffe von Gott, von einem Heilande, von
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0803_1791/97>, abgerufen am 17.06.2024. |