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Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 1. Mai 1915.

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Allgemeine Zeitung 1. Mai 1915.
[Spaltenumbruch] daß du diese Wandlung mitmachst, willst du dir wenigstens
Mühe geben, sie zu verstehen?"

Sie ließ nun doch die Arbeit sinken und wandte ihm
das Gesicht zu: "Ich weiß nicht, ob ich irgend etwas verstehen
kann, mein Kopf ist ganz wirr!" sagte sie, sie beherrschte das
Deutsche vollkommen. Schon als Backfisch war sie wiederholt
monatelang bei Hardenkops gewesen, man hatte ihr gesagt,
sie werde zu dem Geschäftsfreund nach Hamburg geschickt, um
dort deutsch zu lernen, sie hatte es damals geglaubt und war
redlich bemüht gewesen, ihre Aufgabe nach Kräften zu erfüllen,
später hatte sie begriffen, daß ihre Besuche nur den Zweck ge-
habt hatten, die Beziehungen zwischen den beiden Weltfirmen
fester zu knüpfen. Und nun? -- Alles entzweigeschnitten!

"Wir haben uns so redlich um Englands Freundschaft be-
müht, wir haben es ganz ehrlich gemeint, als wir das Bruder-
volk zu gewinnen suchten. Schulter an Schulter hätten wir
rassenverwandte Stämme arbeiten können, unsere Hochkultur
in ferne Erdteile zu tragen, unserer Industrie neue Absatz-
gebiete zu erobern. Aber unsere Vettern drüben haben nur die
Konkurrenten in uns gesehen, in dem Maße, in dem wir
emporkamen, wuchs ihr Neid. Sieh, Ellen, ich verdamme sie
deshalb nicht. Sie haben den Imperialismus auf ihre Fahnen
geschrieben und durch Jahrhunderte geglaubt, das erste Volk
zu sein, sie wollen sich behaupten, der Eigennutz ist ein gesundes
Moment im Völkerleben, sie haben seit Jahren gegen uns ge-
wählt, während der deutsche Michel von Verbrüderung
träumte, selbst über das komme ich hinaus! -- Aber Ellen,
jetzt kommt das Unverzeihliche: "-- Seine Stimme klang
hart vor Erregung: "Sie haben nicht uns allein, sie haben
die weiße Rasse, sie haben Europa verraten. Wir haben eine
Musterkolonie angelegt im Osten, einen Garten europäischer
Kultur, -- sie haben die gelben Plattnasen dahin gehetzt, daß sie
das Gut der weißen Männer zerstören. Und wen stellen sie in
Frankreich und Belgien uns gegenüber? Mohren, Singalesen
-- was weiß ich! Unsere deutschen Jungen kämpfen nicht mit
ihresgleichen, sie kämpfen mit einer Rotte von Söldnern, und
mit Wilden, die nicht einmal wissen, wofür sie die Lanzen
schwingen. Sieh, Ellen, das hat mich bewogen, das Tisch-
tuch zwischen mir und den Vettern drüben zu zerschneiden,
und das macht mich hart zu dir gegen meinen Willen, denn
du weißt, was du mir bist. -- England hat wider den
heiligsten Geist europäischer Kultur gefrevelt aus Neid gegen
Deutschland -- zwischen England und uns ist keine Gemein-
schaft mehr möglich. Du bist meine Frau, du wirst die Mutter
meiner Söhne werden; ein leises Beben ging durch seine
Stimme. Seit einem halben Jahre waren sie verheiratet und
in hoffender Sehnsucht wartete er auf den Augenblick, wo sie
ihm sagen konnte: das Haus Hardenkop hat eine neue Zu-
kunft, er war ja der letzte männliche Nachkomme der Linie
Christian Hardenkop. "Meine Söhne sollen Deutsche sein,
bessere Deutsche als der Harry Hardenkop, den erst der Krieg
zum Heinrich machen mußte. Das bin ich dem Vaterlande
schuldig, für die vielen Opfer, die es gebracht, das bin ich den
Gefallenen schuldig, die für die deutsche Sache gestorben sind."

"Und was bist du mir schuldig?" fragte sie tonlos.

"Ellen!" es klang erstickt von Weh. "Kannst du mich denn
gar nicht verstehen?"

Sie schwieg.

"Ich kann dir nichts mehr sagen, entweder du verstehst
mich oder du verstehst mich nicht, das muß über dein Bleiben
und -- er stockte vor dem Worte "Gehen" erschreckt, dann
sprach er es entschlossen aus: "und dein Gehen entscheiden.
Ich weiß, daß ich nicht anders handeln kann. Heute habe ich
mich gemeldet, man hat mit meiner Kurzsichtigkeit in dieser
schweren Zeit Nachsicht gehabt, eine gute Brille macht das
Uebel wett. In einigen Tagen werde ich Hamburg verlassen,
teile mir deine Entscheidung bis morgen mit!" Zögernd stand
er da, es trieb ihn, sie in seine Arme zu schließen und sie zu
bitten: "Bleibe!" Aber das durfte jetzt nicht sein, als freier
Mensch mußte sie entscheiden, was über ihr ganzes Leben
entschied.

So stand er ruhig vor ihr in tadellos weltmännischer
Haltung, nur an der scharfen Falte, die sich senkrecht über seine
Stirne bis zur Nasenwurzel hinzog, merkte sie, die ihn kannte,
[Spaltenumbruch] wie kaum ein zweiter Mensch auf Erden, selbst seine Mutter
nicht, wie es in ihm stürmte.

Aber das machte sie nicht weich, denn in ihr stürmte es
auch. "Ich glaube, dir meine Entscheidung schon jetzt sagen
zu können: Triff die Vorkehrungen zu meiner Heimkehr nach
England."

Er war blaß geworden bis in die Lippen, er sagte kein
Wort, er verbeugte sich und verließ das Zimmer. Draußen
griff er sich an die Stirne -- -- hatte er recht gehört? Un-
möglich!

Ihr Kopf sank zurück gegen die Stuhllehne, die Sinne
schwanden ihr. Sie hatte in der letzten Zeit schon manchmal
ein Gefühl des Schwindels zu überwinden gehabt, aber sie
war nicht ängstlich und weich mit sich selbst, so hatte sie kein
Aufhebens davon gemacht, -- diesmal war es eine tiefe Ohn-
macht, erst als es schon dämmerte, kam sie zu sich und mußte
sich besinnen, was geschehen. Sie war wie zerschlagen an
allen Gliedern, und unendlich müde war sie, am liebsten hätte
sie geschlafen, aber das ging ja nicht, sie mußte Entscheidungen
treffen bis morgen -- nein, sie hatte ja schon entschieden!

Ellen sah sich um in dem entzückenden Raum, in dem
jedes Stück Einrichtung von dem zarten Eingehen ihres
Mannes auf ihren Geschmack erzählte. Die Möbel: englisches
Rokoko, an den Wänden: ein paar Meisterwerke altenglischer
Landschaftsmalerei und die Vasen und Statuetten: treu-
herzige deutsche Bauernkunst und alte deutsche Holzschnitz-
arbeit, wie behaglich das war. "Homly", sagte sie leise.

Das Wort löste den Knoten, der in ihrer Kehle steckte.
Aufschluchzend drückte sie das Gesicht in die Hände.

Es klopfte.

Sie hörte es nicht.

Da klang plötzlich die Stimme des alten Jakob an ihr
Ohr. "Verzeihung, Frau Hardenkop haben auf mein Klopfen
nicht geantwortet, ich dachte, das Zimmer wäre leer. -- Ich
bringe Frau Hardenkop einen Brief." Er hielt ihr das silberne
Tablett entgegen.

"Von George!" jubelte sie auf, das war der langersehnte
Brief des Bruders, der über Holland nun endlich in ihre Hände
gelangte.

Warum rührte sich der Jakob noch immer nicht von der
Stelle, er verstand es doch sonst, lautlos zu verschwinden und
jetzt räusperte er sich gar, um ihre Aufmerksamkeit vom Briefe
fortzulenken.

"Was wollen Sie, Jakob?" fragte sie etwas ungeduldig.

"Ich möchte mir die Ehre geben, mich von Frau Harden-
kop zu beurlauben und Frau Hardenkop zu danken für die
Güte, die sie immer für mich alten Diener gezeigt, ich fahre
heute abend."

"Sie? -- Ja wohin denn?" Sie konnte sich das Haus
Hardenkop ohne den alten Jakob gar nicht vorstellen.

"Nach Frankreich oder nach Rußland -- einerlei, wenn
sie mich nur mitnehmen!"

"Aber Sie sind ja längst über die Jahre hinaus!"

"Was meinen die Frau Hardenkop," sagte der Jakob fast
gekränkt. "Meine alten Knochen können immer noch stramm
stehen, wenn's die Pflicht gilt!"

Er wollte auch dem Vaterland dienen -- er wie Harry --
wie alle -- "Jakob," sagte Sie, "Sie sind immer ein braver
Mann gewesen -- Gott schütze Sie!" --

Alle drängten sich heran, freiwillig, ungerufen, weil das
Vaterland in Not war -- auch George mußte schon in den
Reihen stehen, in den Reihen drüben, -- er und Harry, ein
Schaudern ging durch ihren Körper, sie ward das entsetzliche
Bild nicht los, das ihr Gatte und Bruder im Zweikampf zeigte.

Rasch öffnete sie den Brief.

Liebe Ellen!

Du schreibst, daß Du um Sorgen um uns bist, warum
nur? Pa sagt, Du könntest unsretwegen ganz ruhig sein. Wir
leben ja nicht in Belgien oder Frankreich. Wir bleiben heuer
sogar etwas länger in Greening Park, weil doch in London
nicht viel los sein soll. Ma meint, es ließe sich hier auch ganz
gut aushalten. Gouls sind auch noch da und morgen ist
garden party bei Stirls. Ich habe mir Fred eingeladen, da-
mit die Sache nicht zu langweilig wird. Wir rudern und

Allgemeine Zeitung 1. Mai 1915.
[Spaltenumbruch] daß du dieſe Wandlung mitmachſt, willſt du dir wenigſtens
Mühe geben, ſie zu verſtehen?“

Sie ließ nun doch die Arbeit ſinken und wandte ihm
das Geſicht zu: „Ich weiß nicht, ob ich irgend etwas verſtehen
kann, mein Kopf iſt ganz wirr!“ ſagte ſie, ſie beherrſchte das
Deutſche vollkommen. Schon als Backfiſch war ſie wiederholt
monatelang bei Hardenkops geweſen, man hatte ihr geſagt,
ſie werde zu dem Geſchäftsfreund nach Hamburg geſchickt, um
dort deutſch zu lernen, ſie hatte es damals geglaubt und war
redlich bemüht geweſen, ihre Aufgabe nach Kräften zu erfüllen,
ſpäter hatte ſie begriffen, daß ihre Beſuche nur den Zweck ge-
habt hatten, die Beziehungen zwiſchen den beiden Weltfirmen
feſter zu knüpfen. Und nun? — Alles entzweigeſchnitten!

„Wir haben uns ſo redlich um Englands Freundſchaft be-
müht, wir haben es ganz ehrlich gemeint, als wir das Bruder-
volk zu gewinnen ſuchten. Schulter an Schulter hätten wir
raſſenverwandte Stämme arbeiten können, unſere Hochkultur
in ferne Erdteile zu tragen, unſerer Induſtrie neue Abſatz-
gebiete zu erobern. Aber unſere Vettern drüben haben nur die
Konkurrenten in uns geſehen, in dem Maße, in dem wir
emporkamen, wuchs ihr Neid. Sieh, Ellen, ich verdamme ſie
deshalb nicht. Sie haben den Imperialismus auf ihre Fahnen
geſchrieben und durch Jahrhunderte geglaubt, das erſte Volk
zu ſein, ſie wollen ſich behaupten, der Eigennutz iſt ein geſundes
Moment im Völkerleben, ſie haben ſeit Jahren gegen uns ge-
wählt, während der deutſche Michel von Verbrüderung
träumte, ſelbſt über das komme ich hinaus! — Aber Ellen,
jetzt kommt das Unverzeihliche: „— Seine Stimme klang
hart vor Erregung: „Sie haben nicht uns allein, ſie haben
die weiße Raſſe, ſie haben Europa verraten. Wir haben eine
Muſterkolonie angelegt im Oſten, einen Garten europäiſcher
Kultur, — ſie haben die gelben Plattnaſen dahin gehetzt, daß ſie
das Gut der weißen Männer zerſtören. Und wen ſtellen ſie in
Frankreich und Belgien uns gegenüber? Mohren, Singaleſen
— was weiß ich! Unſere deutſchen Jungen kämpfen nicht mit
ihresgleichen, ſie kämpfen mit einer Rotte von Söldnern, und
mit Wilden, die nicht einmal wiſſen, wofür ſie die Lanzen
ſchwingen. Sieh, Ellen, das hat mich bewogen, das Tiſch-
tuch zwiſchen mir und den Vettern drüben zu zerſchneiden,
und das macht mich hart zu dir gegen meinen Willen, denn
du weißt, was du mir biſt. — England hat wider den
heiligſten Geiſt europäiſcher Kultur gefrevelt aus Neid gegen
Deutſchland — zwiſchen England und uns iſt keine Gemein-
ſchaft mehr möglich. Du biſt meine Frau, du wirſt die Mutter
meiner Söhne werden; ein leiſes Beben ging durch ſeine
Stimme. Seit einem halben Jahre waren ſie verheiratet und
in hoffender Sehnſucht wartete er auf den Augenblick, wo ſie
ihm ſagen konnte: das Haus Hardenkop hat eine neue Zu-
kunft, er war ja der letzte männliche Nachkomme der Linie
Chriſtian Hardenkop. „Meine Söhne ſollen Deutſche ſein,
beſſere Deutſche als der Harry Hardenkop, den erſt der Krieg
zum Heinrich machen mußte. Das bin ich dem Vaterlande
ſchuldig, für die vielen Opfer, die es gebracht, das bin ich den
Gefallenen ſchuldig, die für die deutſche Sache geſtorben ſind.“

„Und was biſt du mir ſchuldig?“ fragte ſie tonlos.

„Ellen!“ es klang erſtickt von Weh. „Kannſt du mich denn
gar nicht verſtehen?“

Sie ſchwieg.

„Ich kann dir nichts mehr ſagen, entweder du verſtehſt
mich oder du verſtehſt mich nicht, das muß über dein Bleiben
und — er ſtockte vor dem Worte „Gehen“ erſchreckt, dann
ſprach er es entſchloſſen aus: „und dein Gehen entſcheiden.
Ich weiß, daß ich nicht anders handeln kann. Heute habe ich
mich gemeldet, man hat mit meiner Kurzſichtigkeit in dieſer
ſchweren Zeit Nachſicht gehabt, eine gute Brille macht das
Uebel wett. In einigen Tagen werde ich Hamburg verlaſſen,
teile mir deine Entſcheidung bis morgen mit!“ Zögernd ſtand
er da, es trieb ihn, ſie in ſeine Arme zu ſchließen und ſie zu
bitten: „Bleibe!“ Aber das durfte jetzt nicht ſein, als freier
Menſch mußte ſie entſcheiden, was über ihr ganzes Leben
entſchied.

So ſtand er ruhig vor ihr in tadellos weltmänniſcher
Haltung, nur an der ſcharfen Falte, die ſich ſenkrecht über ſeine
Stirne bis zur Naſenwurzel hinzog, merkte ſie, die ihn kannte,
[Spaltenumbruch] wie kaum ein zweiter Menſch auf Erden, ſelbſt ſeine Mutter
nicht, wie es in ihm ſtürmte.

Aber das machte ſie nicht weich, denn in ihr ſtürmte es
auch. „Ich glaube, dir meine Entſcheidung ſchon jetzt ſagen
zu können: Triff die Vorkehrungen zu meiner Heimkehr nach
England.“

Er war blaß geworden bis in die Lippen, er ſagte kein
Wort, er verbeugte ſich und verließ das Zimmer. Draußen
griff er ſich an die Stirne — — hatte er recht gehört? Un-
möglich!

Ihr Kopf ſank zurück gegen die Stuhllehne, die Sinne
ſchwanden ihr. Sie hatte in der letzten Zeit ſchon manchmal
ein Gefühl des Schwindels zu überwinden gehabt, aber ſie
war nicht ängſtlich und weich mit ſich ſelbſt, ſo hatte ſie kein
Aufhebens davon gemacht, — diesmal war es eine tiefe Ohn-
macht, erſt als es ſchon dämmerte, kam ſie zu ſich und mußte
ſich beſinnen, was geſchehen. Sie war wie zerſchlagen an
allen Gliedern, und unendlich müde war ſie, am liebſten hätte
ſie geſchlafen, aber das ging ja nicht, ſie mußte Entſcheidungen
treffen bis morgen — nein, ſie hatte ja ſchon entſchieden!

Ellen ſah ſich um in dem entzückenden Raum, in dem
jedes Stück Einrichtung von dem zarten Eingehen ihres
Mannes auf ihren Geſchmack erzählte. Die Möbel: engliſches
Rokoko, an den Wänden: ein paar Meiſterwerke altengliſcher
Landſchaftsmalerei und die Vaſen und Statuetten: treu-
herzige deutſche Bauernkunſt und alte deutſche Holzſchnitz-
arbeit, wie behaglich das war. „Homly“, ſagte ſie leiſe.

Das Wort löſte den Knoten, der in ihrer Kehle ſteckte.
Aufſchluchzend drückte ſie das Geſicht in die Hände.

Es klopfte.

Sie hörte es nicht.

Da klang plötzlich die Stimme des alten Jakob an ihr
Ohr. „Verzeihung, Frau Hardenkop haben auf mein Klopfen
nicht geantwortet, ich dachte, das Zimmer wäre leer. — Ich
bringe Frau Hardenkop einen Brief.“ Er hielt ihr das ſilberne
Tablett entgegen.

„Von George!“ jubelte ſie auf, das war der langerſehnte
Brief des Bruders, der über Holland nun endlich in ihre Hände
gelangte.

Warum rührte ſich der Jakob noch immer nicht von der
Stelle, er verſtand es doch ſonſt, lautlos zu verſchwinden und
jetzt räuſperte er ſich gar, um ihre Aufmerkſamkeit vom Briefe
fortzulenken.

„Was wollen Sie, Jakob?“ fragte ſie etwas ungeduldig.

„Ich möchte mir die Ehre geben, mich von Frau Harden-
kop zu beurlauben und Frau Hardenkop zu danken für die
Güte, die ſie immer für mich alten Diener gezeigt, ich fahre
heute abend.“

„Sie? — Ja wohin denn?“ Sie konnte ſich das Haus
Hardenkop ohne den alten Jakob gar nicht vorſtellen.

„Nach Frankreich oder nach Rußland — einerlei, wenn
ſie mich nur mitnehmen!“

„Aber Sie ſind ja längſt über die Jahre hinaus!“

„Was meinen die Frau Hardenkop,“ ſagte der Jakob faſt
gekränkt. „Meine alten Knochen können immer noch ſtramm
ſtehen, wenn’s die Pflicht gilt!“

Er wollte auch dem Vaterland dienen — er wie Harry —
wie alle — „Jakob,“ ſagte Sie, „Sie ſind immer ein braver
Mann geweſen — Gott ſchütze Sie!“ —

Alle drängten ſich heran, freiwillig, ungerufen, weil das
Vaterland in Not war — auch George mußte ſchon in den
Reihen ſtehen, in den Reihen drüben, — er und Harry, ein
Schaudern ging durch ihren Körper, ſie ward das entſetzliche
Bild nicht los, das ihr Gatte und Bruder im Zweikampf zeigte.

Raſch öffnete ſie den Brief.

Liebe Ellen!

Du ſchreibſt, daß Du um Sorgen um uns biſt, warum
nur? Pa ſagt, Du könnteſt unſretwegen ganz ruhig ſein. Wir
leben ja nicht in Belgien oder Frankreich. Wir bleiben heuer
ſogar etwas länger in Greening Park, weil doch in London
nicht viel los ſein ſoll. Ma meint, es ließe ſich hier auch ganz
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[Seite 272.[272]/0010] Allgemeine Zeitung 1. Mai 1915. daß du dieſe Wandlung mitmachſt, willſt du dir wenigſtens Mühe geben, ſie zu verſtehen?“ Sie ließ nun doch die Arbeit ſinken und wandte ihm das Geſicht zu: „Ich weiß nicht, ob ich irgend etwas verſtehen kann, mein Kopf iſt ganz wirr!“ ſagte ſie, ſie beherrſchte das Deutſche vollkommen. Schon als Backfiſch war ſie wiederholt monatelang bei Hardenkops geweſen, man hatte ihr geſagt, ſie werde zu dem Geſchäftsfreund nach Hamburg geſchickt, um dort deutſch zu lernen, ſie hatte es damals geglaubt und war redlich bemüht geweſen, ihre Aufgabe nach Kräften zu erfüllen, ſpäter hatte ſie begriffen, daß ihre Beſuche nur den Zweck ge- habt hatten, die Beziehungen zwiſchen den beiden Weltfirmen feſter zu knüpfen. Und nun? — Alles entzweigeſchnitten! „Wir haben uns ſo redlich um Englands Freundſchaft be- müht, wir haben es ganz ehrlich gemeint, als wir das Bruder- volk zu gewinnen ſuchten. 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Wir haben eine Muſterkolonie angelegt im Oſten, einen Garten europäiſcher Kultur, — ſie haben die gelben Plattnaſen dahin gehetzt, daß ſie das Gut der weißen Männer zerſtören. Und wen ſtellen ſie in Frankreich und Belgien uns gegenüber? Mohren, Singaleſen — was weiß ich! Unſere deutſchen Jungen kämpfen nicht mit ihresgleichen, ſie kämpfen mit einer Rotte von Söldnern, und mit Wilden, die nicht einmal wiſſen, wofür ſie die Lanzen ſchwingen. Sieh, Ellen, das hat mich bewogen, das Tiſch- tuch zwiſchen mir und den Vettern drüben zu zerſchneiden, und das macht mich hart zu dir gegen meinen Willen, denn du weißt, was du mir biſt. — England hat wider den heiligſten Geiſt europäiſcher Kultur gefrevelt aus Neid gegen Deutſchland — zwiſchen England und uns iſt keine Gemein- ſchaft mehr möglich. Du biſt meine Frau, du wirſt die Mutter meiner Söhne werden; ein leiſes Beben ging durch ſeine Stimme. Seit einem halben Jahre waren ſie verheiratet und in hoffender Sehnſucht wartete er auf den Augenblick, wo ſie ihm ſagen konnte: das Haus Hardenkop hat eine neue Zu- kunft, er war ja der letzte männliche Nachkomme der Linie Chriſtian Hardenkop. „Meine Söhne ſollen Deutſche ſein, beſſere Deutſche als der Harry Hardenkop, den erſt der Krieg zum Heinrich machen mußte. Das bin ich dem Vaterlande ſchuldig, für die vielen Opfer, die es gebracht, das bin ich den Gefallenen ſchuldig, die für die deutſche Sache geſtorben ſind.“ „Und was biſt du mir ſchuldig?“ fragte ſie tonlos. „Ellen!“ es klang erſtickt von Weh. „Kannſt du mich denn gar nicht verſtehen?“ Sie ſchwieg. „Ich kann dir nichts mehr ſagen, entweder du verſtehſt mich oder du verſtehſt mich nicht, das muß über dein Bleiben und — er ſtockte vor dem Worte „Gehen“ erſchreckt, dann ſprach er es entſchloſſen aus: „und dein Gehen entſcheiden. Ich weiß, daß ich nicht anders handeln kann. Heute habe ich mich gemeldet, man hat mit meiner Kurzſichtigkeit in dieſer ſchweren Zeit Nachſicht gehabt, eine gute Brille macht das Uebel wett. In einigen Tagen werde ich Hamburg verlaſſen, teile mir deine Entſcheidung bis morgen mit!“ Zögernd ſtand er da, es trieb ihn, ſie in ſeine Arme zu ſchließen und ſie zu bitten: „Bleibe!“ Aber das durfte jetzt nicht ſein, als freier Menſch mußte ſie entſcheiden, was über ihr ganzes Leben entſchied. So ſtand er ruhig vor ihr in tadellos weltmänniſcher Haltung, nur an der ſcharfen Falte, die ſich ſenkrecht über ſeine Stirne bis zur Naſenwurzel hinzog, merkte ſie, die ihn kannte, wie kaum ein zweiter Menſch auf Erden, ſelbſt ſeine Mutter nicht, wie es in ihm ſtürmte. 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Ellen ſah ſich um in dem entzückenden Raum, in dem jedes Stück Einrichtung von dem zarten Eingehen ihres Mannes auf ihren Geſchmack erzählte. Die Möbel: engliſches Rokoko, an den Wänden: ein paar Meiſterwerke altengliſcher Landſchaftsmalerei und die Vaſen und Statuetten: treu- herzige deutſche Bauernkunſt und alte deutſche Holzſchnitz- arbeit, wie behaglich das war. „Homly“, ſagte ſie leiſe. Das Wort löſte den Knoten, der in ihrer Kehle ſteckte. Aufſchluchzend drückte ſie das Geſicht in die Hände. Es klopfte. Sie hörte es nicht. Da klang plötzlich die Stimme des alten Jakob an ihr Ohr. „Verzeihung, Frau Hardenkop haben auf mein Klopfen nicht geantwortet, ich dachte, das Zimmer wäre leer. — Ich bringe Frau Hardenkop einen Brief.“ Er hielt ihr das ſilberne Tablett entgegen. „Von George!“ jubelte ſie auf, das war der langerſehnte Brief des Bruders, der über Holland nun endlich in ihre Hände gelangte. Warum rührte ſich der Jakob noch immer nicht von der Stelle, er verſtand es doch ſonſt, lautlos zu verſchwinden und jetzt räuſperte er ſich gar, um ihre Aufmerkſamkeit vom Briefe fortzulenken. „Was wollen Sie, Jakob?“ fragte ſie etwas ungeduldig. „Ich möchte mir die Ehre geben, mich von Frau Harden- kop zu beurlauben und Frau Hardenkop zu danken für die Güte, die ſie immer für mich alten Diener gezeigt, ich fahre heute abend.“ „Sie? — Ja wohin denn?“ Sie konnte ſich das Haus Hardenkop ohne den alten Jakob gar nicht vorſtellen. „Nach Frankreich oder nach Rußland — einerlei, wenn ſie mich nur mitnehmen!“ „Aber Sie ſind ja längſt über die Jahre hinaus!“ „Was meinen die Frau Hardenkop,“ ſagte der Jakob faſt gekränkt. „Meine alten Knochen können immer noch ſtramm ſtehen, wenn’s die Pflicht gilt!“ Er wollte auch dem Vaterland dienen — er wie Harry — wie alle — „Jakob,“ ſagte Sie, „Sie ſind immer ein braver Mann geweſen — Gott ſchütze Sie!“ — Alle drängten ſich heran, freiwillig, ungerufen, weil das Vaterland in Not war — auch George mußte ſchon in den Reihen ſtehen, in den Reihen drüben, — er und Harry, ein Schaudern ging durch ihren Körper, ſie ward das entſetzliche Bild nicht los, das ihr Gatte und Bruder im Zweikampf zeigte. Raſch öffnete ſie den Brief. Liebe Ellen! Du ſchreibſt, daß Du um Sorgen um uns biſt, warum nur? Pa ſagt, Du könnteſt unſretwegen ganz ruhig ſein. Wir leben ja nicht in Belgien oder Frankreich. Wir bleiben heuer ſogar etwas länger in Greening Park, weil doch in London nicht viel los ſein ſoll. Ma meint, es ließe ſich hier auch ganz gut aushalten. Gouls ſind auch noch da und morgen iſt garden party bei Stirls. Ich habe mir Fred eingeladen, da- mit die Sache nicht zu langweilig wird. Wir rudern und

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-04-24T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 1. Mai 1915, S. Seite 272.[272]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine18_1915/10>, abgerufen am 31.10.2024.