Allgemeine Zeitung, Nr. 31, 1. August 1914.1. August 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
der stattgehabten Aufstellung von fünf neuen russischen Armeekorpsunrichtig ist; diese Armeekorps existieren nicht. Auf die allgemeine Beurteilung der Armeen weiterer Großmächte einzugehen, möchten wir zurzeit unterlassen, das aber kann ohne Ueberhebung ausge- sprochen werden, daß die deutsche Wehrmacht seit dem großen Kriege 1870/71 unablässig, mit größter Intensität und andauerndem Fleiß an sich gearbeitet hat. Alle militärischen Vorbereitungen zum Kriege, welcher Art sie auch seien, sind mit bekannter deutscher Gründlichkeit und Ordnung getroffen; man wird daher ohne Ueber- hebung sagen dürfen, daß Deutschland dem Entritt ernster Ereignisse mit voller Ruhe im Vertrauen auf Gott und seine eigene Stärke entgegensehen kann." England und die Kriegskrise. Nichts kann besser Der reichsparteiliche Verein Augsburg hielt Der Freispruch im Caillauxprozeß war, wie uns Politik und Wirtschaft Die Leitung der nationalliberalen Partei durch Herrn Gassermann. In schwungvollen Artikeln feierte in diesen Tagen die Presse Wir Vertreter der rechtsstehenden Parteien reden natürlich an Gerade bezüglich der letzten Frage fordert aber die Tätigkeit 1. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
der ſtattgehabten Aufſtellung von fünf neuen ruſſiſchen Armeekorpsunrichtig iſt; dieſe Armeekorps exiſtieren nicht. Auf die allgemeine Beurteilung der Armeen weiterer Großmächte einzugehen, möchten wir zurzeit unterlaſſen, das aber kann ohne Ueberhebung ausge- ſprochen werden, daß die deutſche Wehrmacht ſeit dem großen Kriege 1870/71 unabläſſig, mit größter Intenſität und andauerndem Fleiß an ſich gearbeitet hat. Alle militäriſchen Vorbereitungen zum Kriege, welcher Art ſie auch ſeien, ſind mit bekannter deutſcher Gründlichkeit und Ordnung getroffen; man wird daher ohne Ueber- hebung ſagen dürfen, daß Deutſchland dem Entritt ernſter Ereigniſſe mit voller Ruhe im Vertrauen auf Gott und ſeine eigene Stärke entgegenſehen kann.“ England und die Kriegskriſe. Nichts kann beſſer Der reichsparteiliche Verein Augsburg hielt Der Freiſpruch im Caillauxprozeß war, wie uns Politik und Wirtſchaft Die Leitung der nationalliberalen Partei durch Herrn Gaſſermann. In ſchwungvollen Artikeln feierte in dieſen Tagen die Preſſe Wir Vertreter der rechtsſtehenden Parteien reden natürlich an Gerade bezüglich der letzten Frage fordert aber die Tätigkeit <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <div type="jComment" n="3"> <p><pb facs="#f0003" n="489"/><fw place="top" type="header">1. Auguſt 1914. <hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi></fw><lb/><cb/> der ſtattgehabten Aufſtellung von fünf neuen ruſſiſchen Armeekorps<lb/> unrichtig iſt; dieſe Armeekorps exiſtieren nicht. Auf die allgemeine<lb/> Beurteilung der Armeen weiterer Großmächte einzugehen, möchten<lb/> wir zurzeit unterlaſſen, das aber kann ohne Ueberhebung ausge-<lb/> ſprochen werden, daß die deutſche Wehrmacht ſeit dem großen Kriege<lb/> 1870/71 unabläſſig, mit größter Intenſität und andauerndem Fleiß<lb/> an ſich gearbeitet hat. Alle militäriſchen Vorbereitungen zum<lb/> Kriege, welcher Art ſie auch ſeien, ſind mit bekannter deutſcher<lb/> Gründlichkeit und Ordnung getroffen; man wird daher ohne Ueber-<lb/> hebung ſagen dürfen, daß Deutſchland dem Entritt ernſter Ereigniſſe<lb/> mit voller Ruhe im Vertrauen auf Gott und ſeine eigene Stärke<lb/> entgegenſehen kann.“</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div><lb/> <div type="jComment" n="3"> <head><hi rendition="#g">England und die Kriegskriſe</hi>.</head><lb/> <p>Nichts kann beſſer<lb/> den Umſchwung in der Außenpolitik Englands ſeit dem Abflauen<lb/> der Ententebegeiſterung Eduardſcher Zeit ins Licht ſtellen als ein<lb/> Vergleich der Stellungnahme des Foreign Office wie der öffentlichen<lb/> Meinung im britiſchen Reich bei der bosniſchen Auseinanderſetzung<lb/> und bei der heutigen durch den ſerbiſchen Konflikt heraufbeſchworenen<lb/> europäiſchen Kriegskriſe. Damals war die Stimmung wie der Kurs<lb/> der verantwortlichen Regierungsſtellen durchaus feindlich gegen<lb/> Oeſterreich, durch deſſen Niederdrückung zugleich Deutſchland ge-<lb/> troffen werden ſollte. Heute erkennt man das Recht des Habs-<lb/> burgiſchen Reichs, gegen die Hintertreppenpolitik und die revo-<lb/> lutionären Aufwiegeleien eines böswilligen Nachbarn ſich mit dem<lb/> Schwert in der Hand zur Wehr zu ſetzen, in weitgehendem Maß<lb/> an und iſt weit entfernt — einzig die Harmsworthpreſſe mit der<lb/> Times als oberſtem Orakel macht davon eine gewiſſe Ausnahme —,<lb/> Deutſchland irgendeine Schuld an der drohenden Kataſtrophe bei-<lb/> zumeſſen. Selbſt die Berliner Ablehnung des unpraktiſchen und<lb/> unfruchtbaren Vorſchlags Sir E. Greys zur Einberufung einer<lb/> internationalen Konferenz hat daran nichts geändert. Kurz, es<lb/> iſt nicht zu viel behauptet, wenn man ſagt, daß von irgendwelcher<lb/> Kongruenz der Politik Englands und der Taktik ſeiner beiden<lb/> Ententenfreunde keine Rede ſein kann. Ja, es ſteht außer Zwei-<lb/> fel, daß die weitaus überwiegende Mehrheit des britiſchen Volkes<lb/> von dem aufrichtigen Wunſch beſeelt iſt, im Fall die Balkankriegs-<lb/> flamme zum europäiſchen Weltbrand ſich entfacht, in neutraler<lb/> Stellung zu verharren; und zwar um ſo mehr, als die iriſchen<lb/> Sorgen von Tag zu Tag größer werden und der Regierung den<lb/> Arm binden. Dennoch wäre es natürlich ein leichtfertiger Optimis-<lb/> mus, auf eine ſolche Selbſtiſolierung Englands in einem feſt-<lb/> ländiſchen Drama von unabſehbaren Entwicklungs- und Fern-<lb/> wirkungsmöglichkeiten zu vertrauen: ganz abgeſehen von allen<lb/> möglichen Zufälligkeiten, die in ſolchen kritiſchen Zeiten eine aus-<lb/> ſchlaggebende Rolle ſpielen können, iſt Großbritannien doch aus<lb/> vergangenen Zeiten in das Netz der ruſſiſch-franzöſiſchen Abmachun-<lb/> gen und Ränke zur Umklammerung und Feſſelung der deutſchen<lb/> Mächte mindeſtens moraliſch zu ſehr verwickelt, als daß es in der<lb/> Wirklichkeit die unbedingte freie Hand und Wahl hätte, auf die es<lb/> mit Worten pocht.</p><lb/> <byline> <hi rendition="#et"> <hi rendition="#aq">-ay.</hi> </hi> </byline><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"><lb/> <p><hi rendition="#g">Der reichsparteiliche Verein Augsburg</hi> hielt<lb/> am 25. 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Er verurteilte dabei<lb/> die Haltung, die neben der „Rheiniſch-Weſtfäliſchen Zeitung“ vor<lb/> allem die reichsparteiliche „Poſt“ in Berlin in den letzten Tagen<lb/> eingenommen hat, und die Verſammlung vernahm die Aeußerungen<lb/> dieſer Preſſe mit einſtimmigem Ausdruck des Unwillens. Während<lb/> der Redner dann bei einer Beſprechung unſerer innerpolitiſchen<lb/> Lage u. a. auch auf den Erlaß des bayeriſchen Kultusminiſters<lb/> gegen den religionsloſen Moralunterricht einging, den er im Inter-<lb/> eſſe der Grundlagen unſeres Staates begrüßte, wurde ihm aus der<lb/> Verſammlung das Telegramm überreicht, das den Abbruch der<lb/> diplomatiſchen Beziehungen zwiſchen Oeſterreich-Ungarn und Ser-<lb/> bien anzeigte. Jubelnd ſtimmte die Verſammlung der Verſicherung<lb/> zu, daß die Donaumonarchie das Deutſche Reich einmütig an ihrer<lb/><cb/> Seite finden werde, und ebenfalls mit lebhafter innerer Bewegung<lb/> nahmen die Anweſenden die Erinnerungen auf, von denen der<lb/> Redner aus der Zeit des großen Krieges 1870/71 zum Vergleiche<lb/> mit den heutigen Zuſtänden ſprach. 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Nicht einmal die Behauptung, daß Calmette bei einer<lb/> raſchen Operation hätte gerettet werden können, ließ ſich aufrecht<lb/> halten. Auch in den Motiven der Tat war trotz der wochenlangen<lb/> Verhandlung nichts zu entdecken, was die Anſchuldigung auf Mord<lb/> entkräftet oder nur entſchuldigt hätte. Das einzige Motiv war, in<lb/> Calmette den Mann zu töten, der Caillaux’ politiſche Laufbahn ver-<lb/> nichten konnte. Lächerlich wirkte es geradezu, daß Madame Cail-<lb/> laux jedesmal in Ohnmacht fiel, wenn immer ihre Trugbeweiſe miß-<lb/> glückten oder ein Gegner ſie bloßſtellte! Dagegen hatte ſie beim<lb/> Anblick der Leiche Calmettes keinen einzigen Schwächeanfall. Lächer-<lb/> lich und für die Art und Weiſe, wie man in Frankreich die Politik<lb/> in den Schwurgerichtsſaal hereinträgt, bezeichnend waren auch die<lb/> Schlußworte ihres Verteidigers: „Sprechen Sie Frau Caillaux frei,<lb/> ſparen wir unſern Zorn für unſere äußeren Feinde auf und ver-<lb/> laſſen wir alle dieſen Saal mit dem Entſchluß, uns einträchtig gegen<lb/> die Gefahr zu wenden, die uns bedroht!“ Eine derartige gewaltſame<lb/> Hereinzerrung von hoher Politik in eine hochnotpeinliche Schwur-<lb/> gerichtsſache iſt doch einzig und allein in Frankreich möglich! Der<lb/> Figaro hat nicht unrecht, wenn er ſagt, daß durch den ungeheuer-<lb/> lichen Skandal der Freiſprechung einer Mörderin ſich die radikalen<lb/> Republikaner mit Kot und Blut beſchmutzt hätten. 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Man feiert<lb/> ſeine patriotiſche Geſinnung, die ſich bei allen Wehr- und Flotten-<lb/> vorlagen betätigt hätte; man ſchreibt es ſeiner Führung zu, wenn<lb/> die Zahl der organiſierten Parteigenoſſen unter ihm bedeutend ge-<lb/> wachſen ſei.</p><lb/> <p>Wir Vertreter der rechtsſtehenden Parteien reden natürlich an<lb/> ſich nicht in die inneren Verhältniſſe anderer Parteien hinein und<lb/> überlaſſen es jeder derſelben, welche Führer ſie ſich erwählen will.<lb/> Nur von zwei Geſichtspunkten aus prüfen wir die Wirkſamkeit ihrer<lb/> Führer: Erſtens auf die Frage, ob und wie weit durch ſie die<lb/> großen nationalen Aufgaben, an denen doch alle Parteien arbeiten<lb/> ſollen, gefördert oder gehindert werden? Und zweitens, ob durch<lb/> die Vorſtände anderer Parteien das Verhältnis dieſer Parteien zu<lb/> uns verbeſſert oder verſchlechtert wird?</p><lb/> <p>Gerade bezüglich der letzten Frage fordert aber die Tätigkeit<lb/> des Herrn Baſſermann zur ſchärſſten Kritik heraus. Herr Baſſer-<lb/> mann übernahm die Führung der nationalliberalen Partei unter<lb/> der Herrſchaft des alten Bismarckſchen Kartells, das von dem frü-<lb/> heren Vorſitzenden ſeiner Partei, dem edlen und vornehmen Herrn<lb/> von Bennigſen geſchaffen war. Dies Kartell zwiſchen Konſervativen<lb/> und Nationalliberalen ruhte auf dem ſo natürlichen Gedanken, daß<lb/> die ſchaffenden Stände in Stadt und Land ſich verbinden müßten,<lb/> daß Landwirtſchaft, Handwerk und Induſtrie nicht Feinde ſeien,<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [489/0003]
1. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung
der ſtattgehabten Aufſtellung von fünf neuen ruſſiſchen Armeekorps
unrichtig iſt; dieſe Armeekorps exiſtieren nicht. Auf die allgemeine
Beurteilung der Armeen weiterer Großmächte einzugehen, möchten
wir zurzeit unterlaſſen, das aber kann ohne Ueberhebung ausge-
ſprochen werden, daß die deutſche Wehrmacht ſeit dem großen Kriege
1870/71 unabläſſig, mit größter Intenſität und andauerndem Fleiß
an ſich gearbeitet hat. Alle militäriſchen Vorbereitungen zum
Kriege, welcher Art ſie auch ſeien, ſind mit bekannter deutſcher
Gründlichkeit und Ordnung getroffen; man wird daher ohne Ueber-
hebung ſagen dürfen, daß Deutſchland dem Entritt ernſter Ereigniſſe
mit voller Ruhe im Vertrauen auf Gott und ſeine eigene Stärke
entgegenſehen kann.“
England und die Kriegskriſe.
Nichts kann beſſer
den Umſchwung in der Außenpolitik Englands ſeit dem Abflauen
der Ententebegeiſterung Eduardſcher Zeit ins Licht ſtellen als ein
Vergleich der Stellungnahme des Foreign Office wie der öffentlichen
Meinung im britiſchen Reich bei der bosniſchen Auseinanderſetzung
und bei der heutigen durch den ſerbiſchen Konflikt heraufbeſchworenen
europäiſchen Kriegskriſe. Damals war die Stimmung wie der Kurs
der verantwortlichen Regierungsſtellen durchaus feindlich gegen
Oeſterreich, durch deſſen Niederdrückung zugleich Deutſchland ge-
troffen werden ſollte. Heute erkennt man das Recht des Habs-
burgiſchen Reichs, gegen die Hintertreppenpolitik und die revo-
lutionären Aufwiegeleien eines böswilligen Nachbarn ſich mit dem
Schwert in der Hand zur Wehr zu ſetzen, in weitgehendem Maß
an und iſt weit entfernt — einzig die Harmsworthpreſſe mit der
Times als oberſtem Orakel macht davon eine gewiſſe Ausnahme —,
Deutſchland irgendeine Schuld an der drohenden Kataſtrophe bei-
zumeſſen. Selbſt die Berliner Ablehnung des unpraktiſchen und
unfruchtbaren Vorſchlags Sir E. Greys zur Einberufung einer
internationalen Konferenz hat daran nichts geändert. Kurz, es
iſt nicht zu viel behauptet, wenn man ſagt, daß von irgendwelcher
Kongruenz der Politik Englands und der Taktik ſeiner beiden
Ententenfreunde keine Rede ſein kann. Ja, es ſteht außer Zwei-
fel, daß die weitaus überwiegende Mehrheit des britiſchen Volkes
von dem aufrichtigen Wunſch beſeelt iſt, im Fall die Balkankriegs-
flamme zum europäiſchen Weltbrand ſich entfacht, in neutraler
Stellung zu verharren; und zwar um ſo mehr, als die iriſchen
Sorgen von Tag zu Tag größer werden und der Regierung den
Arm binden. Dennoch wäre es natürlich ein leichtfertiger Optimis-
mus, auf eine ſolche Selbſtiſolierung Englands in einem feſt-
ländiſchen Drama von unabſehbaren Entwicklungs- und Fern-
wirkungsmöglichkeiten zu vertrauen: ganz abgeſehen von allen
möglichen Zufälligkeiten, die in ſolchen kritiſchen Zeiten eine aus-
ſchlaggebende Rolle ſpielen können, iſt Großbritannien doch aus
vergangenen Zeiten in das Netz der ruſſiſch-franzöſiſchen Abmachun-
gen und Ränke zur Umklammerung und Feſſelung der deutſchen
Mächte mindeſtens moraliſch zu ſehr verwickelt, als daß es in der
Wirklichkeit die unbedingte freie Hand und Wahl hätte, auf die es
mit Worten pocht.
-ay.
Der reichsparteiliche Verein Augsburg hielt
am 25. Juli eine ſehr gut beſuchte Verſammlung ab, in der der
Vereinsvorſitzende, Herr Fabrikbeſitzer Deſchler, vor allem als
Redner des Abends den allverehrten Vorſitzenden der Partei, Herrn
Geheimrat D. W. Frhrn. v. Pechmann, dann aber auch den
Generalſekretär der Partei, Herrn Dr. Vogel (München) und den
1. Vorſitzenden des reichsparteilichen Vereins Hof, Herrn K. Real-
lehrer Neudecker, begrüßen konnte. Herr Baron Pechmann
ſprach über „Die gegenwärtige politiſche Lage“ und
begann ſeine Ausführungen mit einer Würdigung der augenblick-
lichen Hochſpannung in der äußeren Politik. Er verurteilte dabei
die Haltung, die neben der „Rheiniſch-Weſtfäliſchen Zeitung“ vor
allem die reichsparteiliche „Poſt“ in Berlin in den letzten Tagen
eingenommen hat, und die Verſammlung vernahm die Aeußerungen
dieſer Preſſe mit einſtimmigem Ausdruck des Unwillens. Während
der Redner dann bei einer Beſprechung unſerer innerpolitiſchen
Lage u. a. auch auf den Erlaß des bayeriſchen Kultusminiſters
gegen den religionsloſen Moralunterricht einging, den er im Inter-
eſſe der Grundlagen unſeres Staates begrüßte, wurde ihm aus der
Verſammlung das Telegramm überreicht, das den Abbruch der
diplomatiſchen Beziehungen zwiſchen Oeſterreich-Ungarn und Ser-
bien anzeigte. Jubelnd ſtimmte die Verſammlung der Verſicherung
zu, daß die Donaumonarchie das Deutſche Reich einmütig an ihrer
Seite finden werde, und ebenfalls mit lebhafter innerer Bewegung
nahmen die Anweſenden die Erinnerungen auf, von denen der
Redner aus der Zeit des großen Krieges 1870/71 zum Vergleiche
mit den heutigen Zuſtänden ſprach. Unter dem lebhafteſten, von
ganzem Herzen kommenden Beifall ſchloß Herr Baron Pechmann
ſeine 1¼ſtündige Rede, und nach einer kurzen Ausſprache, an der
die Herren Ingenieur Fiſcher, Kaufmann Sieger und Dr. Vogel
(München) teilnahmen, wurde die begeiſtert verlaufene Verſamm-
lung mit dem Liede „Deutſchland, Deutſchland über alles“ geſchloſſen.
Der Freiſpruch im Caillauxprozeß war, wie uns
aus Paris geſchrieben wird, nach der ganzen Verhandlung und
allem was ihr voranging, zu erwarten. Für die franzöſiſche Juſtiz
bedeutet er einen ſchwarzen Fleck. Denn alle Verſuche ſich von
dem Mord reinzuwaſchen ſind doch trotz dem Aufgebot eines ganz
enormen Zeugenapparats der angeklagten Miniſtersgattin gänzlich
mißglückt. Alle Merkmale des Mords waren in dem Prozeſſe ge-
geben. Nicht einmal die Behauptung, daß Calmette bei einer
raſchen Operation hätte gerettet werden können, ließ ſich aufrecht
halten. Auch in den Motiven der Tat war trotz der wochenlangen
Verhandlung nichts zu entdecken, was die Anſchuldigung auf Mord
entkräftet oder nur entſchuldigt hätte. Das einzige Motiv war, in
Calmette den Mann zu töten, der Caillaux’ politiſche Laufbahn ver-
nichten konnte. Lächerlich wirkte es geradezu, daß Madame Cail-
laux jedesmal in Ohnmacht fiel, wenn immer ihre Trugbeweiſe miß-
glückten oder ein Gegner ſie bloßſtellte! Dagegen hatte ſie beim
Anblick der Leiche Calmettes keinen einzigen Schwächeanfall. Lächer-
lich und für die Art und Weiſe, wie man in Frankreich die Politik
in den Schwurgerichtsſaal hereinträgt, bezeichnend waren auch die
Schlußworte ihres Verteidigers: „Sprechen Sie Frau Caillaux frei,
ſparen wir unſern Zorn für unſere äußeren Feinde auf und ver-
laſſen wir alle dieſen Saal mit dem Entſchluß, uns einträchtig gegen
die Gefahr zu wenden, die uns bedroht!“ Eine derartige gewaltſame
Hereinzerrung von hoher Politik in eine hochnotpeinliche Schwur-
gerichtsſache iſt doch einzig und allein in Frankreich möglich! Der
Figaro hat nicht unrecht, wenn er ſagt, daß durch den ungeheuer-
lichen Skandal der Freiſprechung einer Mörderin ſich die radikalen
Republikaner mit Kot und Blut beſchmutzt hätten. Für Frank-
reich mag es ein Unglück ſein, daß dieſe Partei in Frankreich die
maßgebende iſt — für Deutſchland iſt es vielleicht ein Glück.
L.
Politik und Wirtſchaft
Die Leitung der nationalliberalen Partei
durch Herrn Gaſſermann.
In ſchwungvollen Artikeln feierte in dieſen Tagen die Preſſe
der nationalliberalen Partei ihren Führer Baſſermann bei deſſen
ſechzigſtem Geburtstage. Man rühmt ihm nach, daß er die Partei
unter den ſchwierigſten Verhältniſſen zuſammengehalten, daß er
Sezeſſionen aus ihr ſtets erfolgreich verhindert habe. Man feiert
ſeine patriotiſche Geſinnung, die ſich bei allen Wehr- und Flotten-
vorlagen betätigt hätte; man ſchreibt es ſeiner Führung zu, wenn
die Zahl der organiſierten Parteigenoſſen unter ihm bedeutend ge-
wachſen ſei.
Wir Vertreter der rechtsſtehenden Parteien reden natürlich an
ſich nicht in die inneren Verhältniſſe anderer Parteien hinein und
überlaſſen es jeder derſelben, welche Führer ſie ſich erwählen will.
Nur von zwei Geſichtspunkten aus prüfen wir die Wirkſamkeit ihrer
Führer: Erſtens auf die Frage, ob und wie weit durch ſie die
großen nationalen Aufgaben, an denen doch alle Parteien arbeiten
ſollen, gefördert oder gehindert werden? Und zweitens, ob durch
die Vorſtände anderer Parteien das Verhältnis dieſer Parteien zu
uns verbeſſert oder verſchlechtert wird?
Gerade bezüglich der letzten Frage fordert aber die Tätigkeit
des Herrn Baſſermann zur ſchärſſten Kritik heraus. Herr Baſſer-
mann übernahm die Führung der nationalliberalen Partei unter
der Herrſchaft des alten Bismarckſchen Kartells, das von dem frü-
heren Vorſitzenden ſeiner Partei, dem edlen und vornehmen Herrn
von Bennigſen geſchaffen war. Dies Kartell zwiſchen Konſervativen
und Nationalliberalen ruhte auf dem ſo natürlichen Gedanken, daß
die ſchaffenden Stände in Stadt und Land ſich verbinden müßten,
daß Landwirtſchaft, Handwerk und Induſtrie nicht Feinde ſeien,
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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