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Allgemeine Zeitung, Nr. 31, 1. August 1914.

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Allgemeine Zeitung 1. August 1914.
[Spaltenumbruch] baren Mutter, genährt durch Beispiel und Schicksal, heraus-
wochsend aus einem nationalen Boden, der die phantastischen
Züge der Wikinger erzeugt hat. Ein so angelegter Charakter,
dem noch dazu die Dißiplin der Erziehung und Bildung fehli,
verwechselt leicht sein und Vorstellung; er sieht nicht bloß mit
andern Augen, er verkehrt die Dinge und setzt seine Vor-
stellung an die Stelle der Dinge selbst. Gehörtes wird ihm
zum eigenen Erlebnis. Nicht bloß die Wolke nimmt ihm
menschliche Gestalt an; nicht bloß der Baum, den er fällt,
ist ihm ein stahlgepanzerter Ritter; auch die einfachsten Ver-
hältnisse färbte er gleichsam mit seiner Phantasie. Eine Hir-
tin mit einem zerrissenen Rock wird ihm zu einer Prinzessin.
Bei dem Versuche, sich mit der Familie der Verführten zu
stellen, spielt er sich als Prinz auf und sieht ihren Vater als
Dovrekönig. Ueberall fließt Traumleben und Wirklichkeit
ineinander, bald selbst für den ruhigen Zuschauer nicht mehr
trennbar. Es gelten nicht die gewöhnlichen Bedingungen
des Orts und der Zeit. Was in ihm ist, ist zugleich außer
ihm! seine bloßen phantastischen Vorstellungen werden Er-
lebnisse, die für ihn Existenz haben. Gedankensünden werden
zu Vergehungen, die ihm in quälendster Weise den Weg zum
Glück sperren. Alles wird ihm äußere Erscheinung. Selbst
sein Gewissen nimmt je nach der Lage verschiedene Gestalt
an. Bald ist es "der Krumme", bald ein "fremder Passagier",
bald ein "Knopfgießer" und ein "Magerer", stets ein Greif-
bares außer ihm. Immer bleibt er der "Märtyrer der Phan-
tasie"", die ihn kaum einen Augenblick zu sich selbst kommen
läßt, die ihm nicht nur die reale, sondern auch die sittliche
Welt verkehrt. Früh schon bringt ihr Uebermaß ihn in Kon-
flikte mit der Gesellschaft, der er nichts als ein arbeitsscheuer,
verlogener, verlumpter, großprahlerischer Bursche ist. Ihr
Lächeln reizt, ihr Spott verletzt ihn; ihr Widerspruch führt ihn
zu Uebertreibungen, zur Mißachtung gesellschaftlicher Formen
und Gesetze. So sieht er sich genötigt, die Heimat zu verlassen,
nachdem er seine Mutter begraben hat. Er tut es, obwohl
eine, die an ihn glaubte und die er liebt, ihm treu geblieben
und selbst in die Wildnis gefolgt ist, weil er in seinem phan-
tastisch übertriebenen Schuldbewußtsein sich ihrer Reinheit
nicht gewachsen fühlt.

Diese verlassene Geliebte, die auf der Rückkehr des Flüch-
tigen viele Jahrzehnte mit Zuversicht wartet, ist der ruhende
Pol in der Flucht trauriger Erscheinungen, die sich "im Aus-
lande" an die Person des Helden knüpfen. Der Phantast will
sich nicht damit begnügen, aus sich heraus eine Traumwelt
aufzubauen. Was er träumt, soll womöglich Wirklichkeit für
ihn haben. Auf den Mittelstufen, die zu einer hervorragen-
den Lebensstellung führen, hält er sich selbst in Gedanken
nicht auf. Das Höchste, was das irdische Dasein den Bevor-
zugtesten bietet, erscheint seinem unruhigen Streben nur
gerade hoch genug. Kaiser zu werden und die ganze Welt
zu beherrschen, das stachelt seinen Ehrgeiz. Sobald er praktisch
einen Anfang zur Verwirklichung seiner hochfliegenden Pläne
macht, verliert er den sittlichen Boden gänzlich unter den
Füßen. Jedes Mittel, das Gewissenlosigkeit und sittlicher In-
disferentismus wählen kann, ist ihm recht, wenn es nur dem
Zwecke entspricht, dem Zwecke, ungeheuere Reichtümer zu
sammeln und sich zum Herrn der Situation zu machen. Sich
zu einem vollkommenen Egoisten auszubilden, ist sein be-
wußtes Problem. "Sich selbst genug" zu sein, in dem Sinne
nur sich selbst gelten zu lassen, erscheint ihm höchste Lebens-
weisheit.

Wenn wir ihn wieder treffen, hat er sich bereits in den
gesetzt, zügellos seiner Begierde nach einem abenteuernden
Leben folgen zu können. Seine Phantasie hat den Blüten-
staub des dichterischen Empfindens gänzlich abgestreist. Sie
strebt ins Ungeheuerliche, Absurde. Er ironisiert sich und die
Welt außer sich, spielt mit den Menschen und gelegentlich auch
mit dem lieben Gott, für dessen Auserwählten er sich gera
bei sich selbst ausgeben möchte. Mehr und mehr wird er
zum unruhigen Projektenmacher. Es gilt von ihm das Dan-
tische: "Jeder Schritt des Lebens ein tieferer." Was er auch
angreift, es gelingt freilich, aber das gewonnene Resultat geht
durch seine Haltlosigkeit und Unbesonnenheit stets verloren.
Eine Unternehmung löst die andere ab, ein Standpunkt den
andern. Der Krösus wird zum Propheten, er will die Sahara
[Spaltenumbruch] in ein Meer verwandeln und ein Reich gründen, läßt sich
aber durch die rein sinnliche Neigung zu einer Beduinen-
tochter, deren Mutterwitz er weit unterschätzt, zu den albernsten
Dingen verleiten und ist schließlich der Gefoppte. Ohne
wissenschaftlichen Ernst wird er Altertumsforscher und leidet
schließlich vollkommenen Schiffbruch, da der Phantast sich von
der absoluten Phantasie, dem Wahnsinn, übertrumpft sieht.
Hier findet auch sein Verlangen nach einem Kaisertum, der
Traum seines Lebens, eine eigentümliche Lösung.

Aus dieser Katastrophe geht der Held vollkommen um-
gewandelt hervor: er wird der krasse Realist und Egoist.
Aber auch das auf dieser Grundlage gezimmerte Gebäude
muß er zusammenbrechen sehn, um schließlich todmüde, bei der
verlassenen Geliebten, nun einem alten Mütterlein, zu er-
kennen, daß das Einfach-Menschliche auch für ihn das Einzig-
Beglückende gewesen wäre."

Die Leitung des Künstlertheaters sorgt dafür, daß der
eigentliche Sinn des Gedichtes ihrem Publikum auch bekannt
werde, indem sie Auszüge aus den Deutungen Otto Weinin-
gers (aus dessen Schrift "Ueber die letzten Dinge" auf einem
Flugblatt mit den Zetteln abgibt. Demnach wäre der "eigent-
liche Sinn" des Gedichtes:

"Peer Gynt ist die Tragödie des Menschen, der seine
Seele sucht." "Der Mensch -- jeder Mensch -- ist nie so sehr
er selbst, als wenn er liebt. Die Liebe ist für den Menschen
eine Möglichkeit, und wohl die häufigste, leichteste Möglichkeit,
zum Bewußtsein seiner selbst, seiner Individualität, seiner
Seele zu gelangen."

Peer Gynt ist der Typus der zahllofen Menschen,
die nicht Größe genug haben, um das Moralische zu ver-
neinen, um einen erklärten Unglauben offen durch die Tat
zu dokumentieren, sondern die selbst zu glauben vermeinen,
doch ohne innere Frömmigkeit. Sie sind also nicht Verbrecher
durch die Tat und doch Verbrecher an sich selbst, weil Be-
trüger ihrer selbst. Peer Gynt glaubt ein selbstherrlicher In-
dividualist zu sein, während er bloß ein feiger Egoist war.
Er hat nicht dem von Gott in ihn gelegten höheren und wah-
ren Selbst die Macht über sich eingeräumt, sondern der Lüge.
Er spielt sich daher fortgesetzt als etwas ganz anderes auf,
als er eigentlich ist. Weil er keinen Wert in sich selbst hat,
sucht er ihn als Aufschneider und Prahlhans in der Sensa-
tion, die er bei anderen, bei der Masse hervorruft. Er versucht
den eigenen Wert durch fremde Bewunderung zu steigern;
sogar durch vollständige Umwertung und Mißdeutung der
Wirklichkeit. Dies steigert sich immer toller, bis er endlich gar
als Prophet erscheint und ganz zuletzt gar als -- Kaiser, dies
freilich im Irrenhause. Er ist der Kaiser der vertierten Mensch-
heit, Derer, denen das Ich fehlt und das Soll. -- Vor seinem
Ende, gepeinigt von der Angst vor dem Vergehen, erkennt
Peer in dem Gedanken an Solvejg, was er hätte sein kön-
nen und was er nicht gewesen ist, und wie die Liebe das
einzige ist, in dem er "Er selbst" war. Und wie die Liebe die
einzige Kraft war, welche ihn über sein verlogenes Erdendasein
emporheben konnte, so ist es die Liebe (Solvejg) nun auch,
welche ihn von diesem Erdendasein erlöst. Nur im höheren
Leben, in der Ewigkeit kann er sein wahres Selbst finden
und behaupten -- nicht auf Erden.

Solvejg: "nicht die lebende, leibhafte Solvejg -- son-
dern die Solvejg in ihm" gibt Peer Gynt diese Möglichkeit.
"Diese Möglichkeit, durch Solvejg und in der Liebe zu ihr zu
seinem besseren Selbst zu gelangen, hat er sein Leben lang
vernachlässigt. Nur darum kann ihm Solvejg sagen: "Du,
dein wahres Wesen, war bei mir dein ganzes Leben lang."

Der Dovre-Alte und die Trolle: durch die
Vernachlässigung seines höheren "Ich" sinkt Peer Gynt ins
Reich der Trolle, deren Losung lautet: sei dir selbst genug.
Sich selbst genug sind die Tiere. Darum verdient Peer Gynt
den Affenschwanz. -- "Wird der sittliche Gedanke siegen oder
der Mensch seelenlos, wertlos zugrunde gehen? Das ist die
Frage, die Ibsen mit der Person des Peer Gynt stellt." Die
Operation, die der Dovre-Alte an Peer Gynts Auge vor-
nimmt, bedeutet dessen Herabsinken zur Tierheit. Das Tier
hat keine Träne, die aus dem Auge quillt.

Allgemeine Zeitung 1. Auguſt 1914.
[Spaltenumbruch] baren Mutter, genährt durch Beiſpiel und Schickſal, heraus-
wochſend aus einem nationalen Boden, der die phantaſtiſchen
Züge der Wikinger erzeugt hat. Ein ſo angelegter Charakter,
dem noch dazu die Diſziplin der Erziehung und Bildung fehli,
verwechſelt leicht ſein und Vorſtellung; er ſieht nicht bloß mit
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ſtellung an die Stelle der Dinge ſelbſt. Gehörtes wird ihm
zum eigenen Erlebnis. Nicht bloß die Wolke nimmt ihm
menſchliche Geſtalt an; nicht bloß der Baum, den er fällt,
iſt ihm ein ſtahlgepanzerter Ritter; auch die einfachſten Ver-
hältniſſe färbte er gleichſam mit ſeiner Phantaſie. Eine Hir-
tin mit einem zerriſſenen Rock wird ihm zu einer Prinzeſſin.
Bei dem Verſuche, ſich mit der Familie der Verführten zu
ſtellen, ſpielt er ſich als Prinz auf und ſieht ihren Vater als
Dovrekönig. Ueberall fließt Traumleben und Wirklichkeit
ineinander, bald ſelbſt für den ruhigen Zuſchauer nicht mehr
trennbar. Es gelten nicht die gewöhnlichen Bedingungen
des Orts und der Zeit. Was in ihm iſt, iſt zugleich außer
ihm! ſeine bloßen phantaſtiſchen Vorſtellungen werden Er-
lebniſſe, die für ihn Exiſtenz haben. Gedankenſünden werden
zu Vergehungen, die ihm in quälendſter Weiſe den Weg zum
Glück ſperren. Alles wird ihm äußere Erſcheinung. Selbſt
ſein Gewiſſen nimmt je nach der Lage verſchiedene Geſtalt
an. Bald iſt es „der Krumme“, bald ein „fremder Paſſagier“,
bald ein „Knopfgießer“ und ein „Magerer“, ſtets ein Greif-
bares außer ihm. Immer bleibt er der „Märtyrer der Phan-
taſie““, die ihn kaum einen Augenblick zu ſich ſelbſt kommen
läßt, die ihm nicht nur die reale, ſondern auch die ſittliche
Welt verkehrt. Früh ſchon bringt ihr Uebermaß ihn in Kon-
flikte mit der Geſellſchaft, der er nichts als ein arbeitsſcheuer,
verlogener, verlumpter, großprahleriſcher Burſche iſt. Ihr
Lächeln reizt, ihr Spott verletzt ihn; ihr Widerſpruch führt ihn
zu Uebertreibungen, zur Mißachtung geſellſchaftlicher Formen
und Geſetze. So ſieht er ſich genötigt, die Heimat zu verlaſſen,
nachdem er ſeine Mutter begraben hat. Er tut es, obwohl
eine, die an ihn glaubte und die er liebt, ihm treu geblieben
und ſelbſt in die Wildnis gefolgt iſt, weil er in ſeinem phan-
taſtiſch übertriebenen Schuldbewußtſein ſich ihrer Reinheit
nicht gewachſen fühlt.

Dieſe verlaſſene Geliebte, die auf der Rückkehr des Flüch-
tigen viele Jahrzehnte mit Zuverſicht wartet, iſt der ruhende
Pol in der Flucht trauriger Erſcheinungen, die ſich „im Aus-
lande“ an die Perſon des Helden knüpfen. Der Phantaſt will
ſich nicht damit begnügen, aus ſich heraus eine Traumwelt
aufzubauen. Was er träumt, ſoll womöglich Wirklichkeit für
ihn haben. Auf den Mittelſtufen, die zu einer hervorragen-
den Lebensſtellung führen, hält er ſich ſelbſt in Gedanken
nicht auf. Das Höchſte, was das irdiſche Daſein den Bevor-
zugteſten bietet, erſcheint ſeinem unruhigen Streben nur
gerade hoch genug. Kaiſer zu werden und die ganze Welt
zu beherrſchen, das ſtachelt ſeinen Ehrgeiz. Sobald er praktiſch
einen Anfang zur Verwirklichung ſeiner hochfliegenden Pläne
macht, verliert er den ſittlichen Boden gänzlich unter den
Füßen. Jedes Mittel, das Gewiſſenloſigkeit und ſittlicher In-
diſferentismus wählen kann, iſt ihm recht, wenn es nur dem
Zwecke entſpricht, dem Zwecke, ungeheuere Reichtümer zu
ſammeln und ſich zum Herrn der Situation zu machen. Sich
zu einem vollkommenen Egoiſten auszubilden, iſt ſein be-
wußtes Problem. „Sich ſelbſt genug“ zu ſein, in dem Sinne
nur ſich ſelbſt gelten zu laſſen, erſcheint ihm höchſte Lebens-
weisheit.

Wenn wir ihn wieder treffen, hat er ſich bereits in den
geſetzt, zügellos ſeiner Begierde nach einem abenteuernden
Leben folgen zu können. Seine Phantaſie hat den Blüten-
ſtaub des dichteriſchen Empfindens gänzlich abgeſtreiſt. Sie
ſtrebt ins Ungeheuerliche, Abſurde. Er ironiſiert ſich und die
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mit dem lieben Gott, für deſſen Auserwählten er ſich gera
bei ſich ſelbſt ausgeben möchte. Mehr und mehr wird er
zum unruhigen Projektenmacher. Es gilt von ihm das Dan-
tiſche: „Jeder Schritt des Lebens ein tieferer.“ Was er auch
angreift, es gelingt freilich, aber das gewonnene Reſultat geht
durch ſeine Haltloſigkeit und Unbeſonnenheit ſtets verloren.
Eine Unternehmung löſt die andere ab, ein Standpunkt den
andern. Der Kröſus wird zum Propheten, er will die Sahara
[Spaltenumbruch] in ein Meer verwandeln und ein Reich gründen, läßt ſich
aber durch die rein ſinnliche Neigung zu einer Beduinen-
tochter, deren Mutterwitz er weit unterſchätzt, zu den albernſten
Dingen verleiten und iſt ſchließlich der Gefoppte. Ohne
wiſſenſchaftlichen Ernſt wird er Altertumsforſcher und leidet
ſchließlich vollkommenen Schiffbruch, da der Phantaſt ſich von
der abſoluten Phantaſie, dem Wahnſinn, übertrumpft ſieht.
Hier findet auch ſein Verlangen nach einem Kaiſertum, der
Traum ſeines Lebens, eine eigentümliche Löſung.

Aus dieſer Kataſtrophe geht der Held vollkommen um-
gewandelt hervor: er wird der kraſſe Realiſt und Egoiſt.
Aber auch das auf dieſer Grundlage gezimmerte Gebäude
muß er zuſammenbrechen ſehn, um ſchließlich todmüde, bei der
verlaſſenen Geliebten, nun einem alten Mütterlein, zu er-
kennen, daß das Einfach-Menſchliche auch für ihn das Einzig-
Beglückende geweſen wäre.“

Die Leitung des Künſtlertheaters ſorgt dafür, daß der
eigentliche Sinn des Gedichtes ihrem Publikum auch bekannt
werde, indem ſie Auszüge aus den Deutungen Otto Weinin-
gers (aus deſſen Schrift „Ueber die letzten Dinge“ auf einem
Flugblatt mit den Zetteln abgibt. Demnach wäre der „eigent-
liche Sinn“ des Gedichtes:

„Peer Gynt iſt die Tragödie des Menſchen, der ſeine
Seele ſucht.“ „Der Menſch — jeder Menſch — iſt nie ſo ſehr
er ſelbſt, als wenn er liebt. Die Liebe iſt für den Menſchen
eine Möglichkeit, und wohl die häufigſte, leichteſte Möglichkeit,
zum Bewußtſein ſeiner ſelbſt, ſeiner Individualität, ſeiner
Seele zu gelangen.“

Peer Gynt iſt der Typus der zahllofen Menſchen,
die nicht Größe genug haben, um das Moraliſche zu ver-
neinen, um einen erklärten Unglauben offen durch die Tat
zu dokumentieren, ſondern die ſelbſt zu glauben vermeinen,
doch ohne innere Frömmigkeit. Sie ſind alſo nicht Verbrecher
durch die Tat und doch Verbrecher an ſich ſelbſt, weil Be-
trüger ihrer ſelbſt. Peer Gynt glaubt ein ſelbſtherrlicher In-
dividualiſt zu ſein, während er bloß ein feiger Egoiſt war.
Er hat nicht dem von Gott in ihn gelegten höheren und wah-
ren Selbſt die Macht über ſich eingeräumt, ſondern der Lüge.
Er ſpielt ſich daher fortgeſetzt als etwas ganz anderes auf,
als er eigentlich iſt. Weil er keinen Wert in ſich ſelbſt hat,
ſucht er ihn als Aufſchneider und Prahlhans in der Senſa-
tion, die er bei anderen, bei der Maſſe hervorruft. Er verſucht
den eigenen Wert durch fremde Bewunderung zu ſteigern;
ſogar durch vollſtändige Umwertung und Mißdeutung der
Wirklichkeit. Dies ſteigert ſich immer toller, bis er endlich gar
als Prophet erſcheint und ganz zuletzt gar als — Kaiſer, dies
freilich im Irrenhauſe. Er iſt der Kaiſer der vertierten Menſch-
heit, Derer, denen das Ich fehlt und das Soll. — Vor ſeinem
Ende, gepeinigt von der Angſt vor dem Vergehen, erkennt
Peer in dem Gedanken an Solvejg, was er hätte ſein kön-
nen und was er nicht geweſen iſt, und wie die Liebe das
einzige iſt, in dem er „Er ſelbſt“ war. Und wie die Liebe die
einzige Kraft war, welche ihn über ſein verlogenes Erdendaſein
emporheben konnte, ſo iſt es die Liebe (Solvejg) nun auch,
welche ihn von dieſem Erdendaſein erlöſt. Nur im höheren
Leben, in der Ewigkeit kann er ſein wahres Selbſt finden
und behaupten — nicht auf Erden.

Solvejg: „nicht die lebende, leibhafte Solvejg — ſon-
dern die Solvejg in ihm“ gibt Peer Gynt dieſe Möglichkeit.
„Dieſe Möglichkeit, durch Solvejg und in der Liebe zu ihr zu
ſeinem beſſeren Selbſt zu gelangen, hat er ſein Leben lang
vernachläſſigt. Nur darum kann ihm Solvejg ſagen: „Du,
dein wahres Weſen, war bei mir dein ganzes Leben lang.“

Der Dovre-Alte und die Trolle: durch die
Vernachläſſigung ſeines höheren „Ich“ ſinkt Peer Gynt ins
Reich der Trolle, deren Loſung lautet: ſei dir ſelbſt genug.
Sich ſelbſt genug ſind die Tiere. Darum verdient Peer Gynt
den Affenſchwanz. — „Wird der ſittliche Gedanke ſiegen oder
der Menſch ſeelenlos, wertlos zugrunde gehen? Das iſt die
Frage, die Ibſen mit der Perſon des Peer Gynt ſtellt.“ Die
Operation, die der Dovre-Alte an Peer Gynts Auge vor-
nimmt, bedeutet deſſen Herabſinken zur Tierheit. Das Tier
hat keine Träne, die aus dem Auge quillt.

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[494/0008] Allgemeine Zeitung 1. Auguſt 1914. baren Mutter, genährt durch Beiſpiel und Schickſal, heraus- wochſend aus einem nationalen Boden, der die phantaſtiſchen Züge der Wikinger erzeugt hat. Ein ſo angelegter Charakter, dem noch dazu die Diſziplin der Erziehung und Bildung fehli, verwechſelt leicht ſein und Vorſtellung; er ſieht nicht bloß mit andern Augen, er verkehrt die Dinge und ſetzt ſeine Vor- ſtellung an die Stelle der Dinge ſelbſt. Gehörtes wird ihm zum eigenen Erlebnis. Nicht bloß die Wolke nimmt ihm menſchliche Geſtalt an; nicht bloß der Baum, den er fällt, iſt ihm ein ſtahlgepanzerter Ritter; auch die einfachſten Ver- hältniſſe färbte er gleichſam mit ſeiner Phantaſie. Eine Hir- tin mit einem zerriſſenen Rock wird ihm zu einer Prinzeſſin. Bei dem Verſuche, ſich mit der Familie der Verführten zu ſtellen, ſpielt er ſich als Prinz auf und ſieht ihren Vater als Dovrekönig. Ueberall fließt Traumleben und Wirklichkeit ineinander, bald ſelbſt für den ruhigen Zuſchauer nicht mehr trennbar. Es gelten nicht die gewöhnlichen Bedingungen des Orts und der Zeit. Was in ihm iſt, iſt zugleich außer ihm! ſeine bloßen phantaſtiſchen Vorſtellungen werden Er- lebniſſe, die für ihn Exiſtenz haben. Gedankenſünden werden zu Vergehungen, die ihm in quälendſter Weiſe den Weg zum Glück ſperren. Alles wird ihm äußere Erſcheinung. Selbſt ſein Gewiſſen nimmt je nach der Lage verſchiedene Geſtalt an. Bald iſt es „der Krumme“, bald ein „fremder Paſſagier“, bald ein „Knopfgießer“ und ein „Magerer“, ſtets ein Greif- bares außer ihm. Immer bleibt er der „Märtyrer der Phan- taſie““, die ihn kaum einen Augenblick zu ſich ſelbſt kommen läßt, die ihm nicht nur die reale, ſondern auch die ſittliche Welt verkehrt. Früh ſchon bringt ihr Uebermaß ihn in Kon- flikte mit der Geſellſchaft, der er nichts als ein arbeitsſcheuer, verlogener, verlumpter, großprahleriſcher Burſche iſt. Ihr Lächeln reizt, ihr Spott verletzt ihn; ihr Widerſpruch führt ihn zu Uebertreibungen, zur Mißachtung geſellſchaftlicher Formen und Geſetze. So ſieht er ſich genötigt, die Heimat zu verlaſſen, nachdem er ſeine Mutter begraben hat. Er tut es, obwohl eine, die an ihn glaubte und die er liebt, ihm treu geblieben und ſelbſt in die Wildnis gefolgt iſt, weil er in ſeinem phan- taſtiſch übertriebenen Schuldbewußtſein ſich ihrer Reinheit nicht gewachſen fühlt. Dieſe verlaſſene Geliebte, die auf der Rückkehr des Flüch- tigen viele Jahrzehnte mit Zuverſicht wartet, iſt der ruhende Pol in der Flucht trauriger Erſcheinungen, die ſich „im Aus- lande“ an die Perſon des Helden knüpfen. Der Phantaſt will ſich nicht damit begnügen, aus ſich heraus eine Traumwelt aufzubauen. Was er träumt, ſoll womöglich Wirklichkeit für ihn haben. Auf den Mittelſtufen, die zu einer hervorragen- den Lebensſtellung führen, hält er ſich ſelbſt in Gedanken nicht auf. Das Höchſte, was das irdiſche Daſein den Bevor- zugteſten bietet, erſcheint ſeinem unruhigen Streben nur gerade hoch genug. Kaiſer zu werden und die ganze Welt zu beherrſchen, das ſtachelt ſeinen Ehrgeiz. Sobald er praktiſch einen Anfang zur Verwirklichung ſeiner hochfliegenden Pläne macht, verliert er den ſittlichen Boden gänzlich unter den Füßen. Jedes Mittel, das Gewiſſenloſigkeit und ſittlicher In- diſferentismus wählen kann, iſt ihm recht, wenn es nur dem Zwecke entſpricht, dem Zwecke, ungeheuere Reichtümer zu ſammeln und ſich zum Herrn der Situation zu machen. Sich zu einem vollkommenen Egoiſten auszubilden, iſt ſein be- wußtes Problem. „Sich ſelbſt genug“ zu ſein, in dem Sinne nur ſich ſelbſt gelten zu laſſen, erſcheint ihm höchſte Lebens- weisheit. Wenn wir ihn wieder treffen, hat er ſich bereits in den geſetzt, zügellos ſeiner Begierde nach einem abenteuernden Leben folgen zu können. Seine Phantaſie hat den Blüten- ſtaub des dichteriſchen Empfindens gänzlich abgeſtreiſt. Sie ſtrebt ins Ungeheuerliche, Abſurde. Er ironiſiert ſich und die Welt außer ſich, ſpielt mit den Menſchen und gelegentlich auch mit dem lieben Gott, für deſſen Auserwählten er ſich gera bei ſich ſelbſt ausgeben möchte. Mehr und mehr wird er zum unruhigen Projektenmacher. Es gilt von ihm das Dan- tiſche: „Jeder Schritt des Lebens ein tieferer.“ Was er auch angreift, es gelingt freilich, aber das gewonnene Reſultat geht durch ſeine Haltloſigkeit und Unbeſonnenheit ſtets verloren. Eine Unternehmung löſt die andere ab, ein Standpunkt den andern. Der Kröſus wird zum Propheten, er will die Sahara in ein Meer verwandeln und ein Reich gründen, läßt ſich aber durch die rein ſinnliche Neigung zu einer Beduinen- tochter, deren Mutterwitz er weit unterſchätzt, zu den albernſten Dingen verleiten und iſt ſchließlich der Gefoppte. Ohne wiſſenſchaftlichen Ernſt wird er Altertumsforſcher und leidet ſchließlich vollkommenen Schiffbruch, da der Phantaſt ſich von der abſoluten Phantaſie, dem Wahnſinn, übertrumpft ſieht. Hier findet auch ſein Verlangen nach einem Kaiſertum, der Traum ſeines Lebens, eine eigentümliche Löſung. Aus dieſer Kataſtrophe geht der Held vollkommen um- gewandelt hervor: er wird der kraſſe Realiſt und Egoiſt. Aber auch das auf dieſer Grundlage gezimmerte Gebäude muß er zuſammenbrechen ſehn, um ſchließlich todmüde, bei der verlaſſenen Geliebten, nun einem alten Mütterlein, zu er- kennen, daß das Einfach-Menſchliche auch für ihn das Einzig- Beglückende geweſen wäre.“ Die Leitung des Künſtlertheaters ſorgt dafür, daß der eigentliche Sinn des Gedichtes ihrem Publikum auch bekannt werde, indem ſie Auszüge aus den Deutungen Otto Weinin- gers (aus deſſen Schrift „Ueber die letzten Dinge“ auf einem Flugblatt mit den Zetteln abgibt. Demnach wäre der „eigent- liche Sinn“ des Gedichtes: „Peer Gynt iſt die Tragödie des Menſchen, der ſeine Seele ſucht.“ „Der Menſch — jeder Menſch — iſt nie ſo ſehr er ſelbſt, als wenn er liebt. Die Liebe iſt für den Menſchen eine Möglichkeit, und wohl die häufigſte, leichteſte Möglichkeit, zum Bewußtſein ſeiner ſelbſt, ſeiner Individualität, ſeiner Seele zu gelangen.“ Peer Gynt iſt der Typus der zahllofen Menſchen, die nicht Größe genug haben, um das Moraliſche zu ver- neinen, um einen erklärten Unglauben offen durch die Tat zu dokumentieren, ſondern die ſelbſt zu glauben vermeinen, doch ohne innere Frömmigkeit. Sie ſind alſo nicht Verbrecher durch die Tat und doch Verbrecher an ſich ſelbſt, weil Be- trüger ihrer ſelbſt. Peer Gynt glaubt ein ſelbſtherrlicher In- dividualiſt zu ſein, während er bloß ein feiger Egoiſt war. Er hat nicht dem von Gott in ihn gelegten höheren und wah- ren Selbſt die Macht über ſich eingeräumt, ſondern der Lüge. Er ſpielt ſich daher fortgeſetzt als etwas ganz anderes auf, als er eigentlich iſt. Weil er keinen Wert in ſich ſelbſt hat, ſucht er ihn als Aufſchneider und Prahlhans in der Senſa- tion, die er bei anderen, bei der Maſſe hervorruft. Er verſucht den eigenen Wert durch fremde Bewunderung zu ſteigern; ſogar durch vollſtändige Umwertung und Mißdeutung der Wirklichkeit. Dies ſteigert ſich immer toller, bis er endlich gar als Prophet erſcheint und ganz zuletzt gar als — Kaiſer, dies freilich im Irrenhauſe. Er iſt der Kaiſer der vertierten Menſch- heit, Derer, denen das Ich fehlt und das Soll. — Vor ſeinem Ende, gepeinigt von der Angſt vor dem Vergehen, erkennt Peer in dem Gedanken an Solvejg, was er hätte ſein kön- nen und was er nicht geweſen iſt, und wie die Liebe das einzige iſt, in dem er „Er ſelbſt“ war. Und wie die Liebe die einzige Kraft war, welche ihn über ſein verlogenes Erdendaſein emporheben konnte, ſo iſt es die Liebe (Solvejg) nun auch, welche ihn von dieſem Erdendaſein erlöſt. Nur im höheren Leben, in der Ewigkeit kann er ſein wahres Selbſt finden und behaupten — nicht auf Erden. Solvejg: „nicht die lebende, leibhafte Solvejg — ſon- dern die Solvejg in ihm“ gibt Peer Gynt dieſe Möglichkeit. „Dieſe Möglichkeit, durch Solvejg und in der Liebe zu ihr zu ſeinem beſſeren Selbſt zu gelangen, hat er ſein Leben lang vernachläſſigt. Nur darum kann ihm Solvejg ſagen: „Du, dein wahres Weſen, war bei mir dein ganzes Leben lang.“ Der Dovre-Alte und die Trolle: durch die Vernachläſſigung ſeines höheren „Ich“ ſinkt Peer Gynt ins Reich der Trolle, deren Loſung lautet: ſei dir ſelbſt genug. Sich ſelbſt genug ſind die Tiere. Darum verdient Peer Gynt den Affenſchwanz. — „Wird der ſittliche Gedanke ſiegen oder der Menſch ſeelenlos, wertlos zugrunde gehen? Das iſt die Frage, die Ibſen mit der Perſon des Peer Gynt ſtellt.“ Die Operation, die der Dovre-Alte an Peer Gynts Auge vor- nimmt, bedeutet deſſen Herabſinken zur Tierheit. Das Tier hat keine Träne, die aus dem Auge quillt.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 31, 1. August 1914, S. 494. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine31_1914/8>, abgerufen am 31.05.2024.