Allgemeine Zeitung, Nr. 31, 1. August 1914.1. August 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Die Grüngekleidete (Tochter des Dovre-Alten) Anitra repräsentiert die Seelenlosigkeit in der aus- Saeterinnen (Sennerinnen), die ihn auch tief in Dr. Begriffenfeld, der Direktor des Irrenhauses, Der fremde Passagier, der Peer Gynt auf dem Der Knopfgießer: "Die Menschheit wäre ein miß- Der Magere = der Teufel ist im Gegensatz dazu Der große Krumme bedeutet die Gewalt, welche "Die Knäuel", die dem Helden zuletzt über den Berg Das Gesamturteil Weiningers aber, das wohl kaum all- Trotz allen Tiefsinns, den Deuter und Erklärer aus Kunst und Literatur Johann Sperl + (geb. am 3. November 1840 in Buch bei Nürnberg, gest. in Aibling am 28. Juli 1914). Wenn man aus der Großstadt in die Berge gefahren ist und Wenn man dann am Abend nach der längeren Wanderung Man sieht nicht mehr bloß die ßenische Aufmachung, Bauern 1. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Die Grüngekleidete (Tochter des Dovre-Alten) Anitra repräſentiert die Seelenloſigkeit in der aus- Saeterinnen (Sennerinnen), die ihn auch tief in Dr. Begriffenfeld, der Direktor des Irrenhauſes, Der fremde Paſſagier, der Peer Gynt auf dem Der Knopfgießer: „Die Menſchheit wäre ein miß- Der Magere = der Teufel iſt im Gegenſatz dazu Der große Krumme bedeutet die Gewalt, welche „Die Knäuel“, die dem Helden zuletzt über den Berg Das Geſamturteil Weiningers aber, das wohl kaum all- Trotz allen Tiefſinns, den Deuter und Erklärer aus Kunſt und Literatur Johann Sperl † (geb. am 3. November 1840 in Buch bei Nürnberg, geſt. in Aibling am 28. Juli 1914). Wenn man aus der Großſtadt in die Berge gefahren iſt und Wenn man dann am Abend nach der längeren Wanderung Man ſieht nicht mehr bloß die ſzeniſche Aufmachung, Bauern <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div type="jArticle" n="4"> <pb facs="#f0009" n="495"/> <fw place="top" type="header">1. Auguſt 1914. <hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi></fw><lb/> <cb/> <p><hi rendition="#g">Die Grüngekleidete</hi> (Tochter des Dovre-Alten)<lb/> verlockt ihn mit ihrem tierhaften Sinnenreize in das Reich<lb/> der Trolle, wo er im Tierhaften verſinkt (angedeutet durch den<lb/> Eber, auf dem ſie reiten, und durch den Affenſchwanz), um<lb/> ſich aber doch endlich unter der Einwirkung ſeines höheren<lb/> Ich (Solvejg) wieder daraus zu befreien.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Anitra</hi> repräſentiert die Seelenloſigkeit in der aus-<lb/> gebildetſten Geſtalt, in der ſie bei Menſchen möglich iſt. Sie<lb/> ſucht nichts als das Materielle (Edelſteine); während Peer<lb/> Gynt doch nie ganz den Drang verliert, ſich zu ſeinem wahren<lb/> Selbſt durchzuringen. 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Man ſaß, um es<lb/> ehrlich zu ſagen, zum Teil mit recht gemiſchten Stimmungen<lb/> vor den einzelnen Bühnenbildern, und wenn manche, wie die<lb/> herrliche Schlußſzene des dritten Aktes, Aaſes Tod, und der<lb/> Schluß des fünften eine ſtarke Wirkung ausübten, ſo muß<lb/> man dieſe zum guten Teil der Grieg’ſchen Muſik zuſchreiben.<lb/><cb/> Und die Frage, ob denn die Bühne des Künſtlertheaters wirk-<lb/> lich geeignet ſei, ſolchen Problemdichtungen, die in zahlreiche<lb/> Bilder aus aller Herrgottswelt auseinanderfallen, zur größten<lb/> Wirkung zu verhelfen, wird immer wieder lebendig, wenn<lb/> man als Zuſchauer in dieſem vielberufenen Theater ſitzt.<lb/> Schon der da außen geſchaffene neutrale Schauplatz der Dich-<lb/> tung, eine flache, nach rechts und links anſteigende Gras-<lb/> mulde, an die alle andern Schauplätze: Meer, Küſte, Bauern-<lb/> hütte, Bergwerk, Friedhof ꝛc. ſozuſagen angeſtückelt werden,<lb/> iſt der Stimmung der Bilder und, was wichtiger iſt, den<lb/> Schauſpielern nicht immer günſtig. Und leider muß man von<lb/> dieſen wieder ſagen, daß ſich unter dieſen keine einzige her-<lb/> vorragende Perſönlichkeit befindet. Ein ſehr gutes Provinz-<lb/> enſemble, nichts weiter. Frau Dumont bot als Aaſe die beſte<lb/> Leiſtung des Abends; aber ſie tritt nur in einigen Szenen<lb/> hervor. Und welche Anklänge an allerlei liebliche norddeutſche<lb/> Dialekte bekam man wieder zu hören! Und wie wurde das<lb/> Tempo verſchleppt! Und wie wurde, nach dem bekannten<lb/> Reinhardtſchen Muſter, gelärmt und geſchrien, um jene<lb/> Lebendigkeit zu erreichen, die mit dem wahren Bühnenleben<lb/> zuweilen, aber nicht immer identiſch iſt! Bei dieſen Ausſtel-<lb/> lungen bleibt allerdings ſtets zu erwägen, daß ſich der Ver-<lb/> lebendigkeit des barocken Gedichts auf der Bühne die aller-<lb/> größten Schwierigkeiten entgegenſtellen. Wer die Dichtung<lb/> genießen will, muß immer wieder zum Buche greifen. Dem<lb/> Leſer iſt die Phantaſie eine willigere Dienerin als dem Zu-<lb/> ſchauer, den tauſend Dinge an die Unzulänglichkeit aller<lb/> Bühnen erinnern können. Und wenn man vollends mit dem<lb/> Gefühl vor der Rampe ſitzt, das draußen in der wirklichen<lb/> Welt, vielleicht im Augenblick über das Schickſal einer Welt<lb/> entſchieden wird, bekommt die Theaterſpielerei ein ganz merk-<lb/> würdiges Geſicht. Ein Teil des Publikums ſpendete nach dem<lb/> dritten Akt und zum Schluß herzlichen Beifall, während der<lb/> größere wohl mit dem Gefühl hinausging, daß die ehrlichſten<lb/> Bemühungen nicht immer den Erfolg verbürgen, der unaus-<lb/> löſchliche Eindrücke hinterläßt.</p> <byline> <hi rendition="#aq">J. V.</hi> </byline> </div> </div> </div><lb/> <fw place="top" type="header"/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Kunſt und Literatur</hi> </head><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <head><hi rendition="#b">Johann Sperl †</hi><lb/> (geb. am 3. 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Und dann geht man<lb/> weiter und denkt irgendwie an ein Defreggerſches Bild.</p><lb/> <p>Wenn man dann am Abend nach der längeren Wanderung<lb/> wieder in einem Dorfwirtshaus raſtet, dann nimmt man ſich ſchon<lb/> ſo einen dieſer Bauern genauer vor, und blickt ihm ins Geſicht, geht<lb/> all’ den Runzeln und Furchen nach, und ſtudiert ſo eine Hand, und<lb/> ſo eine Haltung und ſo einen Ausdruck, mit dem er zuhört, mit<lb/> dem er ſeine Worte herausknollt, daß ſie wie ſchwere Steine auf<lb/> den Tiſch fallen. Und dann denkt man irgendwie an ein Bild von<lb/> Leibl.</p><lb/> <p>Man ſieht nicht mehr bloß die ſzeniſche Aufmachung, Bauern<lb/> in der Unterhaltung, ein Schlierſeer Bauernſtück, man ſieht einen<lb/> Typus, einen Charakter, einen andern Menſchen, eine realiſtiſche<lb/> Szene in einem wirklichen Dorfwirtshaus. Und wenn man am<lb/> andern Morgen vor Sonnenaufgang über die Bäume und Wieſen<lb/> und Bauernhäuſer an den Bergwänden hinaufſchaut, dann ſieht<lb/> man kein Alpenpanorama, ſondern man empfindet die Natur; man<lb/> iſt garnicht mehr Beobachter, man iſt ſelbſt etwas in der Natur;<lb/> man ſieht nicht mehr die Form eines Baumes, die Farbe einer<lb/> Wieſe, die Höhe eines Berges, die Figur eines Bauern, man ver-<lb/> gleicht nicht mehr, man erinnert ſich nicht mehr — man atmet mit<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [495/0009]
1. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung
Die Grüngekleidete (Tochter des Dovre-Alten)
verlockt ihn mit ihrem tierhaften Sinnenreize in das Reich
der Trolle, wo er im Tierhaften verſinkt (angedeutet durch den
Eber, auf dem ſie reiten, und durch den Affenſchwanz), um
ſich aber doch endlich unter der Einwirkung ſeines höheren
Ich (Solvejg) wieder daraus zu befreien.
Anitra repräſentiert die Seelenloſigkeit in der aus-
gebildetſten Geſtalt, in der ſie bei Menſchen möglich iſt. Sie
ſucht nichts als das Materielle (Edelſteine); während Peer
Gynt doch nie ganz den Drang verliert, ſich zu ſeinem wahren
Selbſt durchzuringen. Dies zeigt ſich auch nach ſeinem wüſten
Abenteuer mit den
Saeterinnen (Sennerinnen), die ihn auch tief in
den Sumpf des Triebhaft-Tieriſchen hinabzogen.
Dr. Begriffenfeld, der Direktor des Irrenhauſes,
iſt nicht bloß eine Karikatur des deutſchen Gelehrten, ſondern
er, der durch den Umgang mit Irren ſelbſt verrückt geworden
iſt, fühlt gerade deshalb das Irre in Peer Gynts Weſen. Er
„erkennt ihn“ und erkennt ihn an als Kaiſer — im Irren-
hauſe, das heißt unter denen, die ihre höhere Beſtimmung
nicht erfüllt (wie z. B. die Feder, mit der nie geſchrieben
wurde).
Der fremde Paſſagier, der Peer Gynt auf dem
geſcheiterten Schiffe erſcheint, iſt der Tod. Durch ihn und
durch das fallende Meteor wird Peer Gynt ſich klar über die
Nichtigkeit ſeiner irdiſchen Exiſtenz.
Der Knopfgießer: „Die Menſchheit wäre ein miß-
glückter Verſuch der Gottheit und müßte umgegoſſen werden,
wenn ſie ihrer Beſtimmung Trotz böte bis zum Schluß, d. h.
ſich bis ans Ende untreu erwieſe im Dienſte des ihr inne-
wohnenden Höheren. Der Knopfgießer ſtellt, ſo unpathetiſch
als nur möglich, die Gottheit und ihre Anſprüche an die
Menſchheit dar.“ — Er hat daher auch die Kraft, die Men-
ſchen, welche hienieden nicht das geworden, was ſie nach ihrer
höheren Beſtimmung hätten werden ſollen und können, in
eine beſſere Form „umzugießen“.
Der Magere = der Teufel iſt im Gegenſatz dazu
auf der Suche nach wahren Sündern „wirklich großen Stiles“.
Die Halb und Halben lehnt er ab. Für die iſt der Knopf-
gießer da.
Der große Krumme bedeutet die Gewalt, welche
den Menſchen immer wieder treulos gegen ſich ſelbſt werden
läßt. Der Krumme iſt alſo das die Erlöſung negierende
Prinzip. Er wird deshalb auch von Solvejg (= Prinzip der
Erlöſung durch die Liebe) überwunden. Und dies zweimal:
im II. und V. Akte. — Er iſt zugleich — und daher hat er
ſeinen Namen — das Prinzip der Lüge.
„Die Knäuel“, die dem Helden zuletzt über den Berg
rollen, ſind die Forderungen, die Peer Gynt nicht erfüllt hat
(„Wir ſind Lieder, haſt du uns geſungen?“).
Das Geſamturteil Weiningers aber, das wohl kaum all-
gemeine Zuſtimmung finden dürfte, lautet: „Peer Gynt iſt ein
Erlöſungsdrama, und zwar der größten eines, um es nur gleich
zu bekennen. Reicher und umfaſſender als irgend ein Drama
Shakeſpeares, ohne an Schönheit hinter dieſen zurückzublei-
ben, an ſinnlichem Glanze unter allen Werken Ibſens
überlegen, ſteht es an Bedeutung der Konzeption ebenbürtig
neben, an Gewalt der Durchführung über Goethes „Fauſt“
und reicht beinahe hinan zu den Höhen des „Triſtan“ und
„Parſifal“ von Richard Wagner. Mit dieſen drei Dichtungen
gemeinſam iſt ihm die Stellung des Menſchheitsproblems im
allergrößten Umfang und mit den allerunerbittlichſten Alter-
nativen.“
Trotz allen Tiefſinns, den Deuter und Erklärer aus
Peer Gynt herausleſen, bleibt das dramatiſche Gedicht
eine formloſe Dichtung, und die Aufführung am 30. Juli
offenbarte dieſe Formloſigkeit, die ja bei einem Leſe-
drama weniger bedeutet als bei einem Stück, das für die
Bühne lebendig werden ſoll, mit der Deutlichkeit, die nun ein-
mal an allen Bühnenvorgängen haftet. Man ſaß, um es
ehrlich zu ſagen, zum Teil mit recht gemiſchten Stimmungen
vor den einzelnen Bühnenbildern, und wenn manche, wie die
herrliche Schlußſzene des dritten Aktes, Aaſes Tod, und der
Schluß des fünften eine ſtarke Wirkung ausübten, ſo muß
man dieſe zum guten Teil der Grieg’ſchen Muſik zuſchreiben.
Und die Frage, ob denn die Bühne des Künſtlertheaters wirk-
lich geeignet ſei, ſolchen Problemdichtungen, die in zahlreiche
Bilder aus aller Herrgottswelt auseinanderfallen, zur größten
Wirkung zu verhelfen, wird immer wieder lebendig, wenn
man als Zuſchauer in dieſem vielberufenen Theater ſitzt.
Schon der da außen geſchaffene neutrale Schauplatz der Dich-
tung, eine flache, nach rechts und links anſteigende Gras-
mulde, an die alle andern Schauplätze: Meer, Küſte, Bauern-
hütte, Bergwerk, Friedhof ꝛc. ſozuſagen angeſtückelt werden,
iſt der Stimmung der Bilder und, was wichtiger iſt, den
Schauſpielern nicht immer günſtig. Und leider muß man von
dieſen wieder ſagen, daß ſich unter dieſen keine einzige her-
vorragende Perſönlichkeit befindet. Ein ſehr gutes Provinz-
enſemble, nichts weiter. Frau Dumont bot als Aaſe die beſte
Leiſtung des Abends; aber ſie tritt nur in einigen Szenen
hervor. Und welche Anklänge an allerlei liebliche norddeutſche
Dialekte bekam man wieder zu hören! Und wie wurde das
Tempo verſchleppt! Und wie wurde, nach dem bekannten
Reinhardtſchen Muſter, gelärmt und geſchrien, um jene
Lebendigkeit zu erreichen, die mit dem wahren Bühnenleben
zuweilen, aber nicht immer identiſch iſt! Bei dieſen Ausſtel-
lungen bleibt allerdings ſtets zu erwägen, daß ſich der Ver-
lebendigkeit des barocken Gedichts auf der Bühne die aller-
größten Schwierigkeiten entgegenſtellen. Wer die Dichtung
genießen will, muß immer wieder zum Buche greifen. Dem
Leſer iſt die Phantaſie eine willigere Dienerin als dem Zu-
ſchauer, den tauſend Dinge an die Unzulänglichkeit aller
Bühnen erinnern können. Und wenn man vollends mit dem
Gefühl vor der Rampe ſitzt, das draußen in der wirklichen
Welt, vielleicht im Augenblick über das Schickſal einer Welt
entſchieden wird, bekommt die Theaterſpielerei ein ganz merk-
würdiges Geſicht. Ein Teil des Publikums ſpendete nach dem
dritten Akt und zum Schluß herzlichen Beifall, während der
größere wohl mit dem Gefühl hinausging, daß die ehrlichſten
Bemühungen nicht immer den Erfolg verbürgen, der unaus-
löſchliche Eindrücke hinterläßt.
J. V.
Kunſt und Literatur
Johann Sperl †
(geb. am 3. November 1840 in Buch bei Nürnberg, geſt. in Aibling
am 28. Juli 1914).
Wenn man aus der Großſtadt in die Berge gefahren iſt und
nach einigen Stunden der Wanderung in ein Dorfwirtshaus kommt,
dann ſetzt man ſich an einen Nebentiſch in der Ecke und betrachtet
die Bauern bei ihrer Unterhaltung. Das legt ſich breit mit ſchweren
Armen in den Tiſch und ſtarrt auf den Erzähler, der den Hut auf
die linke Kopfſeite geſchoben hat, ſich auf den linken Arm ſtützt
und mit dem rechten Arm und der rechten Fauſt ſeine Schilderung
bekräftigt. Darnach ſieht man im Vorbeigehen vielleicht durch ein
geranienbeſtelltes Fenſter in einer Bauernſtube Leute am Tiſch
ſitzen und gemeinſam aus der Schüſſel eſſen. Und dann geht man
weiter und denkt irgendwie an ein Defreggerſches Bild.
Wenn man dann am Abend nach der längeren Wanderung
wieder in einem Dorfwirtshaus raſtet, dann nimmt man ſich ſchon
ſo einen dieſer Bauern genauer vor, und blickt ihm ins Geſicht, geht
all’ den Runzeln und Furchen nach, und ſtudiert ſo eine Hand, und
ſo eine Haltung und ſo einen Ausdruck, mit dem er zuhört, mit
dem er ſeine Worte herausknollt, daß ſie wie ſchwere Steine auf
den Tiſch fallen. Und dann denkt man irgendwie an ein Bild von
Leibl.
Man ſieht nicht mehr bloß die ſzeniſche Aufmachung, Bauern
in der Unterhaltung, ein Schlierſeer Bauernſtück, man ſieht einen
Typus, einen Charakter, einen andern Menſchen, eine realiſtiſche
Szene in einem wirklichen Dorfwirtshaus. Und wenn man am
andern Morgen vor Sonnenaufgang über die Bäume und Wieſen
und Bauernhäuſer an den Bergwänden hinaufſchaut, dann ſieht
man kein Alpenpanorama, ſondern man empfindet die Natur; man
iſt garnicht mehr Beobachter, man iſt ſelbſt etwas in der Natur;
man ſieht nicht mehr die Form eines Baumes, die Farbe einer
Wieſe, die Höhe eines Berges, die Figur eines Bauern, man ver-
gleicht nicht mehr, man erinnert ſich nicht mehr — man atmet mit
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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