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Allgemeine Zeitung, Nr. 37, 12. September 1914.

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Allgemeine Zeitung 12. September 1914.
[Spaltenumbruch] "daß wenn die Tatsache trotzdem richtig sei, so würde seine Re-
gierung nicht nur sofort auch Explosivgeschosse ausgeben, sondern
Baden als außerhalb des Völkerrechts stehend ansehen, es ver-
wüsten bis zur vollkommenen Vernichtung wie die Pfalz unter
Ludwig XIV. Selbst die Frauen hätten nicht auf Schonung zu
rechnen". In der Deputiertenkammer wurde die Lügerei amtlich
wiederholt, und dazu wurden folgende Vorschläge gemacht: "1. Ein
Volk, das sich Sprengkugeln bedient, ist der Rache des Heeres
preiszugeben, 2. der Armee wäre durch Tagesbefehl bekannt zu
machen, alle badischen Ortschaften seien der Plünderung preisgege-
ben." Der "Gaulois" knüpfte an diese Forderungen die Be-
merkung: "Unsere Turkos lecken sich schon die Schnauze, da sie
jetzt auf das Wild losgelassen sind, und man hat ihnen diesmal
keine Schonung anbefohlen. Sie werden alle Männer nieder-
metzeln und Wagen voll Frauen nach Frankreich bringen."
Es
schadet nichts, an diese Tatsachen zu erinnern, denn es unterliegt
keinem Zweifel, daß die "Kulturnation" Frankreich, wenn sie in
diesem Kriege siegreich vorgedrungen wäre, in Deutschland nach
jenen Rezepten verfahren und hinter den russischen Mördern und
Plünderern nicht zurückgeblieben wäre, auch ohne daß irgendeine
Verletzung des Völkerrechts vorgelegen hätte. Nun ist aber schon
wiederholt amtlich die Tatsache festgestellt worden, daß sowohl
französische wie englische Truppen sogenannte Dum-Dum-(Explo-
siv-) Geschosse verwenden. Diese Geschosse verursachen greuliche,
außerordentlich schmerzhafte Verwundungen, die selten heilbar
sind, und deshalb verbieten sie, um mit dem Franzosen von 1870
zu reden, "unter allen Umständen die Menschlichkeit und das ver-
dammende Urteil sämtlicher gesitteter Völker". So ist es, und da
Frankreich und England trotzdem jene Geschosse anwenden, so
haben sie sich selbst das "verdammende Urteil" gesprochen.
Das hilft aber unseren Söhnen und Brüdern nichts, die
jenen Menschen gegenüberstehen, die sie mit Dum-Dum-Geschossen
zerfleischen. Auch all die papiernen Einsprüche samt der Empö-
rung aller Gesitteten hilft ihnen nichts, und es erscheint die höchste
Zeit, hier durch Taten Abhilfe zu schaffen. Es muß sofort bekannt-
gegeben werden -- die nordamerikanische Regierung ist ja die gege-
bene Stelle zur Weitergabe nach Paris und London -- der deut-
schen Armee zur Nachachtung und den Hunderttausenden, die ihre
Angehörigen im Felde stehen haben, zur Beruhigung nachstehendes:
Jeder feindliche Soldat, bei dem Explosivgeschosse gefunden werden,
wird erschossen, einerlei, ob er verwundet oder unverwundet in
unsere Hände gerät. Für jeden durch ein Explosivgeschoß ver-
wundeten oder getöteten deutschen Soldaten werden je zehn Ge-
fangene der betreffenden Nationalität durch das Los zum Erschießen
verurteilt.

Alles andere ist wirkungslos, und wer die erbitterte Stim-
mung in den weitesten Kreisen unseres Volkes über diese neuesten
Schandtaten unserer Feinde kennt, wird auch wissen, daß jede falsch
angebrachte Humanität nach dieser Richtung für ein Verbrechen an
den vor dem Feinde stehenden Söhnen unseres Volkes gehalten
würde. Mit Recht.



Geschichtlich-politische Betrachtungen zum Krieg.

Es ist ein altes, ewig wahres Wort, daß erst der Krieg zeigt,
was an den Völkern ist. Erst unter dem Klirren der Waffen ent-
hüllt sich vor der Welt der Charakter der Nationen ganz und voll;
erst unter dem Donner der Geschütze zeigt es sich, welches Maß von
Idealismus, von seelischer Tiefe und Kraft des Charakters in ihnen
lebt.

Denn nicht alle Kräfte der Menschenseele vermag der Friede
zu entwickeln. Ja gerade die größten und herrlichsten pflegen unter
seiner milden Herrschaft zu schlummern: der weltverachtende Todes-
mut, die volle Hingabe der ganzen Person mit all ihrem Sehnen
und Wünschen an den Staat und das Vaterland, der Geist auf-
opfernder Treue, vor allem jener herrliche Idealismus der Tat, der
selbst die Massen erfaßt und sie lehrt, daß über allen irdischen Wün-
schen und allem Begehren es noch etwas Höheres, Ewiges, Unfaß-
bares gibt, das allein der menschlichen Brust den inneren Seelen-
frieden, die innere Befreiung, die höchste Seligkeit verleihen kann.

Wo bei den Völkern dieser Idealismus der Tat durchbricht, da
haben die Kriege auch stets eine neue große Epoche ihrer Geschichte
eingeleitet. Man denke an die Perserkriege der Griechen, an die
[Spaltenumbruch] punischen Kriege der Römer; man denke an die große innere
Wiedergeburt unseres Volkes in den Befreiungskriegen vor hundert
Jahren! Kriege, die von den Völkern mit echtem Heldensinn aufge-
nommen wurden, die zur Vertiefung und Veredlung einer ganzen
Nation führten, haben auch stets ein neues Zeitalter ihrer Entwick-
lung heraufgeführt.

So hoffen auch wir, daß der uns aufgedrungene furchtbare
Kampf nicht nur eine Abwehr des allerfrivolsten Angriffes bedeutet.
Sondern wir hoffen auch, daß von ihm ein neuer Abschnitt unserer
deutschen Geschichte datieren wird, daß er gleichsam die Pforte bildet
zu einer neuen Zeit für unser teures deutsches Vaterland.

In die hellen Töne der Freude über die neuen ersten deutschen
Siege, in die schmerzliche Klage über die gewaltigen Opfer dieses
Krieges mischt sich der laute Schrei der Entrüstung über einen Ueber-
fall durch tückische Feinde, der in der neueren Völkergeschichte an
Frivolität seinesgleichen nicht hat. Denn wie in Deutschland und
dem verbündeten Oesterreich alle großen und edlen Eigenschaften
des Volkes erwachen, so sehen wir mit Zorn und heiliger Ent-
rüstung, wie bei unseren Gegnern mit einem Male alle jene furcht-
baren Mächte des Hasses, des Neides, der feigen Niederträchtigkeit,
der entsetzlichen moralischen Verwilderung sich offenbaren, die an
sittlicher Verworfenheit in der Geschichte des neuen Europas geradezu
beispiellos dastehen. Besonders England, das so lange den Deut-
schen früher als Hort der Völkerfreiheit gegolten hatte, trifft mit
Recht die volle Verachtung, seit der Deutsche endlich den Charakter
der britischen Politik durchschaut. Man fragt mit heiligem Zorn,
ob es ein unnatürlicheres Bündnis geben könne, als das Bündnis
eines Landes, das die Freiheit und die Zivilisation zu vertreten vor-
gibt, mit der halbasiatischen Rohheit des autokratischen russischen
Staates, dessen Horden man losläßt gegen eins der alleredelsten
modernen Kulturvölker. Es scheint der Gipfel der Widersprüche zu
sein, wenn das radikale demokratische Frankreich, welches ebenfalls
seit seiner großen Revolution die Freiheit der Völker vertreten will,
sich mit einem Staate verbindet, der bis in die neueste Zeit der
Hort des Absolutismus in seiner rohesten, widerwärtigsten Gestalt
gewesen ist, und der den autokratischen Formen noch heute trotz der
verliehenen Verfassung nicht entwachsen ist. Ueberall scheinen sich
die wildesten, unversöhnbarsten Widersprüche, überall scheint sich
Feuer und Wasser gegen uns zu verbinden.

Unfaßbar ganz besonders scheint es dem Deutschen zu sein, daß
der Charakter der englischen Politik, zu der vor einigen
Jahrzehnten noch der deutsche Liberale bewundernd aufschaute, sich
heute in seiner ganzen Niederträchtigkeit enthüllt. Dies England,
das der junge Schiller noch in seinem schönen Gedichte "Die unüber-
windliche Flotte" als "der Freiheit Paradies", als "der Unter-
drückung letzter Felsendamm", "der Menschenwürde starker Schirm",
als "die Tyrannenwehre" gefeiert hatte, zeigt heute in widerwärtiger,
zynischer Offenheit den wahren Charakter seiner Politik, über die es
den gutmütigen Deutschen Jahrhunderte lang mit scheinheiligen
Phrasen hinweggetäuscht hat. Man schaudert vor dieser Politik, die
mit frechem Hohne sich über das Wohl und Wehe von Hunderten
von Millionen Menschen auf dem europäischen Festlande hinweg-
setzt, die unseren Erdteil in ein Meer von Blut und Tränen stürzt,
nur um die englische Handelssuprematie zu sichern, und man fragt,
ob denn der Fortschritt unserer modernen, im Christentum wurzeln-
den Kultur darin besteht, daß die wirtschaftlichen Interessen das
Recht geben sollen, ganze Völker christlicher Kultur zu morden und
zu vernichten? Das Wort Treitschkes, daß Kaufmannspolitik zu
allen Zeiten die unsittlichste gewesen sei, erfährt von seiten des heuti-
gen Englands eine neue erschreckende Bestätigung.

Aber so widerwärtig uns die zynischen Rohheiten berühren, mit
denen dieser Krieg entfesselt ward, und so scheinbar unnatürlich die
Bündnisse unserer Gegner sind, so drängt sich für den geschichtlichen
Blick auch noch eine andere Wahrheit auf, die wir in jedem Kriege
zu fühlen bekommen haben, den Preußen und Deutschland seit zwei-
hundert Jahren führen mußten. Denn für die Entwicklung unseres
Erdteils sollte es von entscheidender Bedeutung werden, daß die alte
überragende Macht, welche einst das mittelalterliche Deutschland be-
sessen hatte, mit dem Beginne der neuen Zeitrechnung, und noch
mehr seit dem dreißigjährigen Kriege, mehr und mehr zu sinken be-
gann und an seiner Stelle und auf Kosten Deutschlands die Nach-
barvölker in gefährlicher Weise emporkamen. Unaufhaltsam vor
allem dringt seit dem dreißigjährigen Kriege Frankreich gegen
den Rhein vor und zertrümmert mit nur allzu gutem Erfolge die
Machtstellung unseres Vaterlandes im Westen. Die Niederlande

Allgemeine Zeitung 12. September 1914.
[Spaltenumbruch] „daß wenn die Tatſache trotzdem richtig ſei, ſo würde ſeine Re-
gierung nicht nur ſofort auch Exploſivgeſchoſſe ausgeben, ſondern
Baden als außerhalb des Völkerrechts ſtehend anſehen, es ver-
wüſten bis zur vollkommenen Vernichtung wie die Pfalz unter
Ludwig XIV. Selbſt die Frauen hätten nicht auf Schonung zu
rechnen“. In der Deputiertenkammer wurde die Lügerei amtlich
wiederholt, und dazu wurden folgende Vorſchläge gemacht: „1. Ein
Volk, das ſich Sprengkugeln bedient, iſt der Rache des Heeres
preiszugeben, 2. der Armee wäre durch Tagesbefehl bekannt zu
machen, alle badiſchen Ortſchaften ſeien der Plünderung preisgege-
ben.“ Der „Gaulois“ knüpfte an dieſe Forderungen die Be-
merkung: „Unſere Turkos lecken ſich ſchon die Schnauze, da ſie
jetzt auf das Wild losgelaſſen ſind, und man hat ihnen diesmal
keine Schonung anbefohlen. Sie werden alle Männer nieder-
metzeln und Wagen voll Frauen nach Frankreich bringen.“
Es
ſchadet nichts, an dieſe Tatſachen zu erinnern, denn es unterliegt
keinem Zweifel, daß die „Kulturnation“ Frankreich, wenn ſie in
dieſem Kriege ſiegreich vorgedrungen wäre, in Deutſchland nach
jenen Rezepten verfahren und hinter den ruſſiſchen Mördern und
Plünderern nicht zurückgeblieben wäre, auch ohne daß irgendeine
Verletzung des Völkerrechts vorgelegen hätte. Nun iſt aber ſchon
wiederholt amtlich die Tatſache feſtgeſtellt worden, daß ſowohl
franzöſiſche wie engliſche Truppen ſogenannte Dum-Dum-(Explo-
ſiv-) Geſchoſſe verwenden. Dieſe Geſchoſſe verurſachen greuliche,
außerordentlich ſchmerzhafte Verwundungen, die ſelten heilbar
ſind, und deshalb verbieten ſie, um mit dem Franzoſen von 1870
zu reden, „unter allen Umſtänden die Menſchlichkeit und das ver-
dammende Urteil ſämtlicher geſitteter Völker“. So iſt es, und da
Frankreich und England trotzdem jene Geſchoſſe anwenden, ſo
haben ſie ſich ſelbſt das „verdammende Urteil“ geſprochen.
Das hilft aber unſeren Söhnen und Brüdern nichts, die
jenen Menſchen gegenüberſtehen, die ſie mit Dum-Dum-Geſchoſſen
zerfleiſchen. Auch all die papiernen Einſprüche ſamt der Empö-
rung aller Geſitteten hilft ihnen nichts, und es erſcheint die höchſte
Zeit, hier durch Taten Abhilfe zu ſchaffen. Es muß ſofort bekannt-
gegeben werden — die nordamerikaniſche Regierung iſt ja die gege-
bene Stelle zur Weitergabe nach Paris und London — der deut-
ſchen Armee zur Nachachtung und den Hunderttauſenden, die ihre
Angehörigen im Felde ſtehen haben, zur Beruhigung nachſtehendes:
Jeder feindliche Soldat, bei dem Exploſivgeſchoſſe gefunden werden,
wird erſchoſſen, einerlei, ob er verwundet oder unverwundet in
unſere Hände gerät. Für jeden durch ein Exploſivgeſchoß ver-
wundeten oder getöteten deutſchen Soldaten werden je zehn Ge-
fangene der betreffenden Nationalität durch das Los zum Erſchießen
verurteilt.

Alles andere iſt wirkungslos, und wer die erbitterte Stim-
mung in den weiteſten Kreiſen unſeres Volkes über dieſe neueſten
Schandtaten unſerer Feinde kennt, wird auch wiſſen, daß jede falſch
angebrachte Humanität nach dieſer Richtung für ein Verbrechen an
den vor dem Feinde ſtehenden Söhnen unſeres Volkes gehalten
würde. Mit Recht.



Geſchichtlich-politiſche Betrachtungen zum Krieg.

Es iſt ein altes, ewig wahres Wort, daß erſt der Krieg zeigt,
was an den Völkern iſt. Erſt unter dem Klirren der Waffen ent-
hüllt ſich vor der Welt der Charakter der Nationen ganz und voll;
erſt unter dem Donner der Geſchütze zeigt es ſich, welches Maß von
Idealismus, von ſeeliſcher Tiefe und Kraft des Charakters in ihnen
lebt.

Denn nicht alle Kräfte der Menſchenſeele vermag der Friede
zu entwickeln. Ja gerade die größten und herrlichſten pflegen unter
ſeiner milden Herrſchaft zu ſchlummern: der weltverachtende Todes-
mut, die volle Hingabe der ganzen Perſon mit all ihrem Sehnen
und Wünſchen an den Staat und das Vaterland, der Geiſt auf-
opfernder Treue, vor allem jener herrliche Idealismus der Tat, der
ſelbſt die Maſſen erfaßt und ſie lehrt, daß über allen irdiſchen Wün-
ſchen und allem Begehren es noch etwas Höheres, Ewiges, Unfaß-
bares gibt, das allein der menſchlichen Bruſt den inneren Seelen-
frieden, die innere Befreiung, die höchſte Seligkeit verleihen kann.

Wo bei den Völkern dieſer Idealismus der Tat durchbricht, da
haben die Kriege auch ſtets eine neue große Epoche ihrer Geſchichte
eingeleitet. Man denke an die Perſerkriege der Griechen, an die
[Spaltenumbruch] puniſchen Kriege der Römer; man denke an die große innere
Wiedergeburt unſeres Volkes in den Befreiungskriegen vor hundert
Jahren! Kriege, die von den Völkern mit echtem Heldenſinn aufge-
nommen wurden, die zur Vertiefung und Veredlung einer ganzen
Nation führten, haben auch ſtets ein neues Zeitalter ihrer Entwick-
lung heraufgeführt.

So hoffen auch wir, daß der uns aufgedrungene furchtbare
Kampf nicht nur eine Abwehr des allerfrivolſten Angriffes bedeutet.
Sondern wir hoffen auch, daß von ihm ein neuer Abſchnitt unſerer
deutſchen Geſchichte datieren wird, daß er gleichſam die Pforte bildet
zu einer neuen Zeit für unſer teures deutſches Vaterland.

In die hellen Töne der Freude über die neuen erſten deutſchen
Siege, in die ſchmerzliche Klage über die gewaltigen Opfer dieſes
Krieges miſcht ſich der laute Schrei der Entrüſtung über einen Ueber-
fall durch tückiſche Feinde, der in der neueren Völkergeſchichte an
Frivolität ſeinesgleichen nicht hat. Denn wie in Deutſchland und
dem verbündeten Oeſterreich alle großen und edlen Eigenſchaften
des Volkes erwachen, ſo ſehen wir mit Zorn und heiliger Ent-
rüſtung, wie bei unſeren Gegnern mit einem Male alle jene furcht-
baren Mächte des Haſſes, des Neides, der feigen Niederträchtigkeit,
der entſetzlichen moraliſchen Verwilderung ſich offenbaren, die an
ſittlicher Verworfenheit in der Geſchichte des neuen Europas geradezu
beiſpiellos daſtehen. Beſonders England, das ſo lange den Deut-
ſchen früher als Hort der Völkerfreiheit gegolten hatte, trifft mit
Recht die volle Verachtung, ſeit der Deutſche endlich den Charakter
der britiſchen Politik durchſchaut. Man fragt mit heiligem Zorn,
ob es ein unnatürlicheres Bündnis geben könne, als das Bündnis
eines Landes, das die Freiheit und die Ziviliſation zu vertreten vor-
gibt, mit der halbaſiatiſchen Rohheit des autokratiſchen ruſſiſchen
Staates, deſſen Horden man losläßt gegen eins der alleredelſten
modernen Kulturvölker. Es ſcheint der Gipfel der Widerſprüche zu
ſein, wenn das radikale demokratiſche Frankreich, welches ebenfalls
ſeit ſeiner großen Revolution die Freiheit der Völker vertreten will,
ſich mit einem Staate verbindet, der bis in die neueſte Zeit der
Hort des Abſolutismus in ſeiner roheſten, widerwärtigſten Geſtalt
geweſen iſt, und der den autokratiſchen Formen noch heute trotz der
verliehenen Verfaſſung nicht entwachſen iſt. Ueberall ſcheinen ſich
die wildeſten, unverſöhnbarſten Widerſprüche, überall ſcheint ſich
Feuer und Waſſer gegen uns zu verbinden.

Unfaßbar ganz beſonders ſcheint es dem Deutſchen zu ſein, daß
der Charakter der engliſchen Politik, zu der vor einigen
Jahrzehnten noch der deutſche Liberale bewundernd aufſchaute, ſich
heute in ſeiner ganzen Niederträchtigkeit enthüllt. Dies England,
das der junge Schiller noch in ſeinem ſchönen Gedichte „Die unüber-
windliche Flotte“ als „der Freiheit Paradies“, als „der Unter-
drückung letzter Felſendamm“, „der Menſchenwürde ſtarker Schirm“,
als „die Tyrannenwehre“ gefeiert hatte, zeigt heute in widerwärtiger,
zyniſcher Offenheit den wahren Charakter ſeiner Politik, über die es
den gutmütigen Deutſchen Jahrhunderte lang mit ſcheinheiligen
Phraſen hinweggetäuſcht hat. Man ſchaudert vor dieſer Politik, die
mit frechem Hohne ſich über das Wohl und Wehe von Hunderten
von Millionen Menſchen auf dem europäiſchen Feſtlande hinweg-
ſetzt, die unſeren Erdteil in ein Meer von Blut und Tränen ſtürzt,
nur um die engliſche Handelsſuprematie zu ſichern, und man fragt,
ob denn der Fortſchritt unſerer modernen, im Chriſtentum wurzeln-
den Kultur darin beſteht, daß die wirtſchaftlichen Intereſſen das
Recht geben ſollen, ganze Völker chriſtlicher Kultur zu morden und
zu vernichten? Das Wort Treitſchkes, daß Kaufmannspolitik zu
allen Zeiten die unſittlichſte geweſen ſei, erfährt von ſeiten des heuti-
gen Englands eine neue erſchreckende Beſtätigung.

Aber ſo widerwärtig uns die zyniſchen Rohheiten berühren, mit
denen dieſer Krieg entfeſſelt ward, und ſo ſcheinbar unnatürlich die
Bündniſſe unſerer Gegner ſind, ſo drängt ſich für den geſchichtlichen
Blick auch noch eine andere Wahrheit auf, die wir in jedem Kriege
zu fühlen bekommen haben, den Preußen und Deutſchland ſeit zwei-
hundert Jahren führen mußten. Denn für die Entwicklung unſeres
Erdteils ſollte es von entſcheidender Bedeutung werden, daß die alte
überragende Macht, welche einſt das mittelalterliche Deutſchland be-
ſeſſen hatte, mit dem Beginne der neuen Zeitrechnung, und noch
mehr ſeit dem dreißigjährigen Kriege, mehr und mehr zu ſinken be-
gann und an ſeiner Stelle und auf Koſten Deutſchlands die Nach-
barvölker in gefährlicher Weiſe emporkamen. Unaufhaltſam vor
allem dringt ſeit dem dreißigjährigen Kriege Frankreich gegen
den Rhein vor und zertrümmert mit nur allzu gutem Erfolge die
Machtſtellung unſeres Vaterlandes im Weſten. Die Niederlande

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[558/0008] Allgemeine Zeitung 12. September 1914. „daß wenn die Tatſache trotzdem richtig ſei, ſo würde ſeine Re- gierung nicht nur ſofort auch Exploſivgeſchoſſe ausgeben, ſondern Baden als außerhalb des Völkerrechts ſtehend anſehen, es ver- wüſten bis zur vollkommenen Vernichtung wie die Pfalz unter Ludwig XIV. Selbſt die Frauen hätten nicht auf Schonung zu rechnen“. In der Deputiertenkammer wurde die Lügerei amtlich wiederholt, und dazu wurden folgende Vorſchläge gemacht: „1. Ein Volk, das ſich Sprengkugeln bedient, iſt der Rache des Heeres preiszugeben, 2. der Armee wäre durch Tagesbefehl bekannt zu machen, alle badiſchen Ortſchaften ſeien der Plünderung preisgege- ben.“ Der „Gaulois“ knüpfte an dieſe Forderungen die Be- merkung: „Unſere Turkos lecken ſich ſchon die Schnauze, da ſie jetzt auf das Wild losgelaſſen ſind, und man hat ihnen diesmal keine Schonung anbefohlen. Sie werden alle Männer nieder- metzeln und Wagen voll Frauen nach Frankreich bringen.“ Es ſchadet nichts, an dieſe Tatſachen zu erinnern, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß die „Kulturnation“ Frankreich, wenn ſie in dieſem Kriege ſiegreich vorgedrungen wäre, in Deutſchland nach jenen Rezepten verfahren und hinter den ruſſiſchen Mördern und Plünderern nicht zurückgeblieben wäre, auch ohne daß irgendeine Verletzung des Völkerrechts vorgelegen hätte. Nun iſt aber ſchon wiederholt amtlich die Tatſache feſtgeſtellt worden, daß ſowohl franzöſiſche wie engliſche Truppen ſogenannte Dum-Dum-(Explo- ſiv-) Geſchoſſe verwenden. Dieſe Geſchoſſe verurſachen greuliche, außerordentlich ſchmerzhafte Verwundungen, die ſelten heilbar ſind, und deshalb verbieten ſie, um mit dem Franzoſen von 1870 zu reden, „unter allen Umſtänden die Menſchlichkeit und das ver- dammende Urteil ſämtlicher geſitteter Völker“. So iſt es, und da Frankreich und England trotzdem jene Geſchoſſe anwenden, ſo haben ſie ſich ſelbſt das „verdammende Urteil“ geſprochen. Das hilft aber unſeren Söhnen und Brüdern nichts, die jenen Menſchen gegenüberſtehen, die ſie mit Dum-Dum-Geſchoſſen zerfleiſchen. Auch all die papiernen Einſprüche ſamt der Empö- rung aller Geſitteten hilft ihnen nichts, und es erſcheint die höchſte Zeit, hier durch Taten Abhilfe zu ſchaffen. Es muß ſofort bekannt- gegeben werden — die nordamerikaniſche Regierung iſt ja die gege- bene Stelle zur Weitergabe nach Paris und London — der deut- ſchen Armee zur Nachachtung und den Hunderttauſenden, die ihre Angehörigen im Felde ſtehen haben, zur Beruhigung nachſtehendes: Jeder feindliche Soldat, bei dem Exploſivgeſchoſſe gefunden werden, wird erſchoſſen, einerlei, ob er verwundet oder unverwundet in unſere Hände gerät. Für jeden durch ein Exploſivgeſchoß ver- wundeten oder getöteten deutſchen Soldaten werden je zehn Ge- fangene der betreffenden Nationalität durch das Los zum Erſchießen verurteilt. Alles andere iſt wirkungslos, und wer die erbitterte Stim- mung in den weiteſten Kreiſen unſeres Volkes über dieſe neueſten Schandtaten unſerer Feinde kennt, wird auch wiſſen, daß jede falſch angebrachte Humanität nach dieſer Richtung für ein Verbrechen an den vor dem Feinde ſtehenden Söhnen unſeres Volkes gehalten würde. Mit Recht. Geſchichtlich-politiſche Betrachtungen zum Krieg. Von Wolfgang Eiſenhart. Es iſt ein altes, ewig wahres Wort, daß erſt der Krieg zeigt, was an den Völkern iſt. Erſt unter dem Klirren der Waffen ent- hüllt ſich vor der Welt der Charakter der Nationen ganz und voll; erſt unter dem Donner der Geſchütze zeigt es ſich, welches Maß von Idealismus, von ſeeliſcher Tiefe und Kraft des Charakters in ihnen lebt. Denn nicht alle Kräfte der Menſchenſeele vermag der Friede zu entwickeln. Ja gerade die größten und herrlichſten pflegen unter ſeiner milden Herrſchaft zu ſchlummern: der weltverachtende Todes- mut, die volle Hingabe der ganzen Perſon mit all ihrem Sehnen und Wünſchen an den Staat und das Vaterland, der Geiſt auf- opfernder Treue, vor allem jener herrliche Idealismus der Tat, der ſelbſt die Maſſen erfaßt und ſie lehrt, daß über allen irdiſchen Wün- ſchen und allem Begehren es noch etwas Höheres, Ewiges, Unfaß- bares gibt, das allein der menſchlichen Bruſt den inneren Seelen- frieden, die innere Befreiung, die höchſte Seligkeit verleihen kann. Wo bei den Völkern dieſer Idealismus der Tat durchbricht, da haben die Kriege auch ſtets eine neue große Epoche ihrer Geſchichte eingeleitet. Man denke an die Perſerkriege der Griechen, an die puniſchen Kriege der Römer; man denke an die große innere Wiedergeburt unſeres Volkes in den Befreiungskriegen vor hundert Jahren! Kriege, die von den Völkern mit echtem Heldenſinn aufge- nommen wurden, die zur Vertiefung und Veredlung einer ganzen Nation führten, haben auch ſtets ein neues Zeitalter ihrer Entwick- lung heraufgeführt. So hoffen auch wir, daß der uns aufgedrungene furchtbare Kampf nicht nur eine Abwehr des allerfrivolſten Angriffes bedeutet. Sondern wir hoffen auch, daß von ihm ein neuer Abſchnitt unſerer deutſchen Geſchichte datieren wird, daß er gleichſam die Pforte bildet zu einer neuen Zeit für unſer teures deutſches Vaterland. In die hellen Töne der Freude über die neuen erſten deutſchen Siege, in die ſchmerzliche Klage über die gewaltigen Opfer dieſes Krieges miſcht ſich der laute Schrei der Entrüſtung über einen Ueber- fall durch tückiſche Feinde, der in der neueren Völkergeſchichte an Frivolität ſeinesgleichen nicht hat. Denn wie in Deutſchland und dem verbündeten Oeſterreich alle großen und edlen Eigenſchaften des Volkes erwachen, ſo ſehen wir mit Zorn und heiliger Ent- rüſtung, wie bei unſeren Gegnern mit einem Male alle jene furcht- baren Mächte des Haſſes, des Neides, der feigen Niederträchtigkeit, der entſetzlichen moraliſchen Verwilderung ſich offenbaren, die an ſittlicher Verworfenheit in der Geſchichte des neuen Europas geradezu beiſpiellos daſtehen. Beſonders England, das ſo lange den Deut- ſchen früher als Hort der Völkerfreiheit gegolten hatte, trifft mit Recht die volle Verachtung, ſeit der Deutſche endlich den Charakter der britiſchen Politik durchſchaut. Man fragt mit heiligem Zorn, ob es ein unnatürlicheres Bündnis geben könne, als das Bündnis eines Landes, das die Freiheit und die Ziviliſation zu vertreten vor- gibt, mit der halbaſiatiſchen Rohheit des autokratiſchen ruſſiſchen Staates, deſſen Horden man losläßt gegen eins der alleredelſten modernen Kulturvölker. Es ſcheint der Gipfel der Widerſprüche zu ſein, wenn das radikale demokratiſche Frankreich, welches ebenfalls ſeit ſeiner großen Revolution die Freiheit der Völker vertreten will, ſich mit einem Staate verbindet, der bis in die neueſte Zeit der Hort des Abſolutismus in ſeiner roheſten, widerwärtigſten Geſtalt geweſen iſt, und der den autokratiſchen Formen noch heute trotz der verliehenen Verfaſſung nicht entwachſen iſt. Ueberall ſcheinen ſich die wildeſten, unverſöhnbarſten Widerſprüche, überall ſcheint ſich Feuer und Waſſer gegen uns zu verbinden. Unfaßbar ganz beſonders ſcheint es dem Deutſchen zu ſein, daß der Charakter der engliſchen Politik, zu der vor einigen Jahrzehnten noch der deutſche Liberale bewundernd aufſchaute, ſich heute in ſeiner ganzen Niederträchtigkeit enthüllt. Dies England, das der junge Schiller noch in ſeinem ſchönen Gedichte „Die unüber- windliche Flotte“ als „der Freiheit Paradies“, als „der Unter- drückung letzter Felſendamm“, „der Menſchenwürde ſtarker Schirm“, als „die Tyrannenwehre“ gefeiert hatte, zeigt heute in widerwärtiger, zyniſcher Offenheit den wahren Charakter ſeiner Politik, über die es den gutmütigen Deutſchen Jahrhunderte lang mit ſcheinheiligen Phraſen hinweggetäuſcht hat. Man ſchaudert vor dieſer Politik, die mit frechem Hohne ſich über das Wohl und Wehe von Hunderten von Millionen Menſchen auf dem europäiſchen Feſtlande hinweg- ſetzt, die unſeren Erdteil in ein Meer von Blut und Tränen ſtürzt, nur um die engliſche Handelsſuprematie zu ſichern, und man fragt, ob denn der Fortſchritt unſerer modernen, im Chriſtentum wurzeln- den Kultur darin beſteht, daß die wirtſchaftlichen Intereſſen das Recht geben ſollen, ganze Völker chriſtlicher Kultur zu morden und zu vernichten? Das Wort Treitſchkes, daß Kaufmannspolitik zu allen Zeiten die unſittlichſte geweſen ſei, erfährt von ſeiten des heuti- gen Englands eine neue erſchreckende Beſtätigung. Aber ſo widerwärtig uns die zyniſchen Rohheiten berühren, mit denen dieſer Krieg entfeſſelt ward, und ſo ſcheinbar unnatürlich die Bündniſſe unſerer Gegner ſind, ſo drängt ſich für den geſchichtlichen Blick auch noch eine andere Wahrheit auf, die wir in jedem Kriege zu fühlen bekommen haben, den Preußen und Deutſchland ſeit zwei- hundert Jahren führen mußten. Denn für die Entwicklung unſeres Erdteils ſollte es von entſcheidender Bedeutung werden, daß die alte überragende Macht, welche einſt das mittelalterliche Deutſchland be- ſeſſen hatte, mit dem Beginne der neuen Zeitrechnung, und noch mehr ſeit dem dreißigjährigen Kriege, mehr und mehr zu ſinken be- gann und an ſeiner Stelle und auf Koſten Deutſchlands die Nach- barvölker in gefährlicher Weiſe emporkamen. Unaufhaltſam vor allem dringt ſeit dem dreißigjährigen Kriege Frankreich gegen den Rhein vor und zertrümmert mit nur allzu gutem Erfolge die Machtſtellung unſeres Vaterlandes im Weſten. Die Niederlande

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 37, 12. September 1914, S. 558. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine37_1914/8>, abgerufen am 20.05.2024.