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Allgemeine Zeitung, Nr. 37, 12. September 1914.

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12. September 1914. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] lösen sich vom deutschen Reiche los, das völlig außer Stand ist, sie
gegen ihren spanischen Todfeind zu schützen. Die alte Seemacht der
deutschen Hansa ist längst verschwunden und von glücklicheren Riva-
len auf den Meeren verdrängt. Holland aber, das, vom Deutschen
Reiche losgelöst, sich zu einem selbständigen Staate entwickelt, ver-
mag ohne den Rückhalt an einem mächtigen deutschen Hinterlande
sich der portugiesischen, französischen und zuletzt englischen Rivalen
nicht mehr zu erwehren und scheidet zuletzt, nach Anfang so glor-
reichen Kämpfen, aus der Reihe der großen Mächte aus. Auf den
Trümmern aber der zerstörten spanischen, portugiesischen, franzö-
sischen und holländischen Seeherrschaft erhebt sich, alle übertreffend,
die englische Weltmacht, welche die Kriege und Händel des Fest-
landes geschickt benutzt, um die Herrschaft auf allen Meeren zu er-
ringen. Im Osten endlich, am baltischen Strande, gingen die küh-
nen kolonisatorischen Gründungen Deutschlands, das Werk seiner
Kaufleute und seiner geistlichen Ritterorden nicht minder dem
Vaterlande verloren oder kamen unter polnische oder schwedische
Oberhoheit. Das russische Volk, das bis Ende des siebzehnten Jahr-
hunderts so gut wie ohne allen Einfluß auf die Geschicke Mittel-
europas ist, dringt seit Peters des Großen genialem Regimente
gegen Westen vor. Estland und Livland, einst der Besitz des deutschen
Ritterordens, werden Bestandteile des ungeheuren russischen
Reiches, dem sich bei der zweiten Teilung Polens auch endlich
Kurland unterwirft. Katharina's II. intrigante Politik macht dem
trennenden polnischen Zwischenreiche ein Ende. Rußland wird un-
mittelbarer Nachbar Preußens und Oesterreichs, die beide nur, jenes
Posen und Westpreußen, dieses Galizien aus der großen polnischen
Beute erwerben, während der ganze übrige ungeheure polnische
Besitz an Rußland kommt.

Zu dem französischen Dränger im Westen erhält unser Vater-
land nun einen ebenso gefährlichen Nachbarn im Osten, der bei den
unaufhörlichen Kämpfen, für die nun einmal Deutschland seit dem
dreißigjährigen Kriege das Schlachtfeld geworden ist, immer mehr
Einfluß auf die Geschicke unseres Vaterlandes erhält, ein Einfluß,
der sich seit den napoleonischen Kriegen geradezu eine Zeitlang zur
russischen Hegemonie in Europa steigert.

Betrachtet man diesen für Deutschland so ungünstigen Entwick-
lungsgang, so sieht man unschwer, daß fast alle neueren europä-
ischen Kriege ihren tieferen Grund in der Schwächung Mittel-
europas und besonders Deutschlands seit dem Ausgange des Mittel-
alters, und vor allem seit dem dreißigjährigen Kriege, haben. An
die Stelle des machtvollen, nach allen Seiten hin Achtung und
Furcht erweckenden deutschen Kaisertums der großen sächsischen,
salischen und hohenstaufischen Herrscher ist allmählich ein innerlich
zerrüttetes, nach außen ohnmächtiges Deutsches Reich getreten, das
seine Grenzlande nicht mehr verteidigen konnte. Die Folge ist eine
völlige Verschiebung der Machtverhältnisse in Europa gewesen,
welche Frankreich, Rußland und England auf Deutschlands Kosten
zu einer Machtentwicklung gebracht hat, welche innerlich durchaus
ungeschichtlich ist, und weniger auf der eigenen Kraft jener Staaten,
als vielmehr auf der politischen Schwäche Mitteleuropas beruht hat.

Aber diese ungeschichtliche und ungebührliche Machtentwicklung
Englands, Rußlands und Frankreichs auf unsere Kosten mußte ins
Wanken kommen, sobald Deutschland dank der hohenzollerschen
Staatskunst und dem mit dem Beginne des vorigen Jahrhunderts
erwachsenden deutschen Nationalgefühl wieder innerlich zu erstarken
begann. Die Staatskunst der Hohenzollern und die siegreichen
Kriege, die Preußen seit dem Ausgange des dreißigjährigen Krieges
führte, sie bedeuteten für unsere Nachbarn in Europa den Beginn
eines rückläufigen Prozesses, durch welche der Machtverstärkung
unserer Nachbarn auf Kosten Deutschlands Halt geboten und wich-
tige Grenzländer wieder dem deutschen Vaterlande zurückgewonnen
wurden.

Früher als wir selber, hat das Ausland geahnt, was das
Emporkommen Preußens und die von dem Hohenzollernstaate zu
befürchtende Einigung Deutschlands für sie bedeute. Darum haben
schon auf dem Wiener Kongresse nach Beendigung der napoleoni-
schen Kriege England, Frankreich und Rußland die Einigung
Deutschlands mit leider nur allzu großem Erfolge zu verhindern
gewußt. England hat damals schon, vor hundert Jahren, viel
früher als wir erkannt, was die Einigung Deutschlands und dessen
langgestreckte Nord- und Ostseeküste, mit dem Ausblicke auf eine
sich entwickelnde deutsche Seemacht, für Englands Handel und Welt-
stellung bedeute.

[Spaltenumbruch]

Wie Englands, Rußlands und Frankreichs gefährliches Empor-
kommen geschichtlich beruhte auf einem geschwächten Mitteleuropa,
und vor allem einem schwachen Deutschland, so bedeutet Deutsch-
lands und Mitteleuropas Erstarken auch zugleich für sie eine Er-
schütterung, eine Bedrohung ihrer zur Zeit der deutschen Schwäche
gewonnenen unnatürlichen Machtstellung.

Wenn man also heute oft die Meinung hört, ein Bündnis des
liberalen Englands mit dem autokratischen Rußland und des demo-
kratisch-radikalen Frankreichs mit dem reaktionären Zarentum sei
der Gipfel politischer Unvernunft, so muß man dagegen sagen: Das
gleichmäßige Interesse an einem nicht allzu mächtigen Deutschland,
an einem schwachen Mitteleuropa, führt heute drei Mächte zusam-
men, welche ihre Machtentwicklung einst der Schwäche Deutschlands
und Mitteleuropas zu verdanken hatten. Alle drei Gegner sehen
in einer weiteren Erstarkung Deutschlands eine Bedrohung ihrer
zurzeit unserer Ohnmacht erschlichenen Macht. Das führt sie zu-
sammen.

So verrucht die Art ist, mit der dieser Krieg entzündet ist, seine
tieferen Ursachen, die Wurzeln des Deutschenhasses bei unseren
Rivalen liegen Jahrhunderte zurück und offenbaren sich heute
ebenso, nur noch in einem weit größeren Umfange, wie bei und
nach dem Kriege des Jahres 1870.

Man sehe sich die Landkarte Deutschlands zu Beginn des fünf-
zehnten Jahrhunderts an! Um das Jahr 1400 sind Burgund, Ober-
und Niederlothringen, Luxemburg, Hennegau und Brabant Teile
des Deutschen Reiches; Besancon, Verdun, Gent, Brüssel, Antwerpen
waren damals deutsche Städte. Im Osten aber gingen die Besitzun-
gen des deutschen Ordens bis Reval und Narva am finnischen
Meerbusen. Wäre das Emporkommen Frankreichs, Englands und
Rußlands, auch nur denkbar gewesen, wenn das alte Deutsche Reich
sich die Machtfülle erhalten hätte, die ihm unter den drei Kaiser-
geschlechtern der Sachsen, Salier und Hohenstaufen zu eigen war?

Wenn so die Feindschaft Englands, Frankreichs und Rußlands
gegen uns ihre geschichtliche Wurzel hat, so ist damit aber auch auf
der anderen Seite das Ziel gegeben, um das Deutschland in diesem
furchtbaren Kriege kämpfen muß. Unser Vaterland kämpft um die
ihm nach seiner Geschichte, seiner hervorragenden Kultur, seinem
Geistesleben und seinem inneren Werte gebührende Machtentwick-
lung. Ohne behaupten zu wollen, daß Deutschland nach der Wieder-
gewinnung aller ihm einst gehörenden Länder streben soll, möchte
ich doch sagen, daß die deutsche Geschichte die Richtung andeutet,
nach der die Machtentfaltung hinstreben soll, die wir uns bei einem,
wie wir hoffen, siegreichen Ausgange des Kampfes zum Ziele setzen
müssen. Im wesentlichen weist diese Richtung nach Westen, und
schon werden Stimmen laut, welche als Siegespreis Belgien für
Deutschland fordern. Das in die Nord- und Ostsee fast eingeschlos-
sene deutsche Seewesen drängt zum Weltmeer, zum atlantischen
Ozean, den England uns verschließen möchte. Wird man von Eng-
land einmal sagen können, daß es uns gegenüber die Rolle des
Bösen in dieser Welt heute gespielt habe, das stets das Gegenteil
erreicht von dem, was es verruchterweise erstrebt? Ist heute Eng-
land und Frankreich für uns auch nur "Ein Teil von jener Kraft,
die stets das Böse will, und stets das Gute schafft?"



Brief aus Oesterreich.

Wenn diese Zeilen in München eintreffen werden, weiß der
liebe Himmel. Der letzte von dort an mich gerichtete Brief hat glück-
lich 16 Tage gebraucht. In unserer, durch seine glänzenden Post-
verbindungen verwöhnten Zeit empfindet man diese unerwartete
Rückversetzung in die behaglich langsamen Tage, da "Großvater die
Großmutter nahm" und die "Eilpost" mit Hüh und Hott auf den
noch nicht von Telegraphenstangen begleiteten Heerstraßen hinrum-
pelte, besonders unangenehm, zumal dann, wenn man Berichte sen-
den soll. Allein es ist dafür gesorgt, daß diese Berichte, die bei sol-
cher Wegdauer sonst geschriebene Anachronismen wären, trotzdem
nicht veralten können: einfach deshalb nicht, weil es über die mili-
tärischen Weltereignisse nichts zu berichten gibt. Die Zensur waltet
argusäugig ihres Amtes und niemand erfährt anderes als offizielle

[irrelevantes Material]

12. September 1914. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] löſen ſich vom deutſchen Reiche los, das völlig außer Stand iſt, ſie
gegen ihren ſpaniſchen Todfeind zu ſchützen. Die alte Seemacht der
deutſchen Hanſa iſt längſt verſchwunden und von glücklicheren Riva-
len auf den Meeren verdrängt. Holland aber, das, vom Deutſchen
Reiche losgelöſt, ſich zu einem ſelbſtändigen Staate entwickelt, ver-
mag ohne den Rückhalt an einem mächtigen deutſchen Hinterlande
ſich der portugieſiſchen, franzöſiſchen und zuletzt engliſchen Rivalen
nicht mehr zu erwehren und ſcheidet zuletzt, nach Anfang ſo glor-
reichen Kämpfen, aus der Reihe der großen Mächte aus. Auf den
Trümmern aber der zerſtörten ſpaniſchen, portugieſiſchen, franzö-
ſiſchen und holländiſchen Seeherrſchaft erhebt ſich, alle übertreffend,
die engliſche Weltmacht, welche die Kriege und Händel des Feſt-
landes geſchickt benutzt, um die Herrſchaft auf allen Meeren zu er-
ringen. Im Oſten endlich, am baltiſchen Strande, gingen die küh-
nen koloniſatoriſchen Gründungen Deutſchlands, das Werk ſeiner
Kaufleute und ſeiner geiſtlichen Ritterorden nicht minder dem
Vaterlande verloren oder kamen unter polniſche oder ſchwediſche
Oberhoheit. Das ruſſiſche Volk, das bis Ende des ſiebzehnten Jahr-
hunderts ſo gut wie ohne allen Einfluß auf die Geſchicke Mittel-
europas iſt, dringt ſeit Peters des Großen genialem Regimente
gegen Weſten vor. Eſtland und Livland, einſt der Beſitz des deutſchen
Ritterordens, werden Beſtandteile des ungeheuren ruſſiſchen
Reiches, dem ſich bei der zweiten Teilung Polens auch endlich
Kurland unterwirft. Katharina’s II. intrigante Politik macht dem
trennenden polniſchen Zwiſchenreiche ein Ende. Rußland wird un-
mittelbarer Nachbar Preußens und Oeſterreichs, die beide nur, jenes
Poſen und Weſtpreußen, dieſes Galizien aus der großen polniſchen
Beute erwerben, während der ganze übrige ungeheure polniſche
Beſitz an Rußland kommt.

Zu dem franzöſiſchen Dränger im Weſten erhält unſer Vater-
land nun einen ebenſo gefährlichen Nachbarn im Oſten, der bei den
unaufhörlichen Kämpfen, für die nun einmal Deutſchland ſeit dem
dreißigjährigen Kriege das Schlachtfeld geworden iſt, immer mehr
Einfluß auf die Geſchicke unſeres Vaterlandes erhält, ein Einfluß,
der ſich ſeit den napoleoniſchen Kriegen geradezu eine Zeitlang zur
ruſſiſchen Hegemonie in Europa ſteigert.

Betrachtet man dieſen für Deutſchland ſo ungünſtigen Entwick-
lungsgang, ſo ſieht man unſchwer, daß faſt alle neueren europä-
iſchen Kriege ihren tieferen Grund in der Schwächung Mittel-
europas und beſonders Deutſchlands ſeit dem Ausgange des Mittel-
alters, und vor allem ſeit dem dreißigjährigen Kriege, haben. An
die Stelle des machtvollen, nach allen Seiten hin Achtung und
Furcht erweckenden deutſchen Kaiſertums der großen ſächſiſchen,
ſaliſchen und hohenſtaufiſchen Herrſcher iſt allmählich ein innerlich
zerrüttetes, nach außen ohnmächtiges Deutſches Reich getreten, das
ſeine Grenzlande nicht mehr verteidigen konnte. Die Folge iſt eine
völlige Verſchiebung der Machtverhältniſſe in Europa geweſen,
welche Frankreich, Rußland und England auf Deutſchlands Koſten
zu einer Machtentwicklung gebracht hat, welche innerlich durchaus
ungeſchichtlich iſt, und weniger auf der eigenen Kraft jener Staaten,
als vielmehr auf der politiſchen Schwäche Mitteleuropas beruht hat.

Aber dieſe ungeſchichtliche und ungebührliche Machtentwicklung
Englands, Rußlands und Frankreichs auf unſere Koſten mußte ins
Wanken kommen, ſobald Deutſchland dank der hohenzollerſchen
Staatskunſt und dem mit dem Beginne des vorigen Jahrhunderts
erwachſenden deutſchen Nationalgefühl wieder innerlich zu erſtarken
begann. Die Staatskunſt der Hohenzollern und die ſiegreichen
Kriege, die Preußen ſeit dem Ausgange des dreißigjährigen Krieges
führte, ſie bedeuteten für unſere Nachbarn in Europa den Beginn
eines rückläufigen Prozeſſes, durch welche der Machtverſtärkung
unſerer Nachbarn auf Koſten Deutſchlands Halt geboten und wich-
tige Grenzländer wieder dem deutſchen Vaterlande zurückgewonnen
wurden.

Früher als wir ſelber, hat das Ausland geahnt, was das
Emporkommen Preußens und die von dem Hohenzollernſtaate zu
befürchtende Einigung Deutſchlands für ſie bedeute. Darum haben
ſchon auf dem Wiener Kongreſſe nach Beendigung der napoleoni-
ſchen Kriege England, Frankreich und Rußland die Einigung
Deutſchlands mit leider nur allzu großem Erfolge zu verhindern
gewußt. England hat damals ſchon, vor hundert Jahren, viel
früher als wir erkannt, was die Einigung Deutſchlands und deſſen
langgeſtreckte Nord- und Oſtſeeküſte, mit dem Ausblicke auf eine
ſich entwickelnde deutſche Seemacht, für Englands Handel und Welt-
ſtellung bedeute.

[Spaltenumbruch]

Wie Englands, Rußlands und Frankreichs gefährliches Empor-
kommen geſchichtlich beruhte auf einem geſchwächten Mitteleuropa,
und vor allem einem ſchwachen Deutſchland, ſo bedeutet Deutſch-
lands und Mitteleuropas Erſtarken auch zugleich für ſie eine Er-
ſchütterung, eine Bedrohung ihrer zur Zeit der deutſchen Schwäche
gewonnenen unnatürlichen Machtſtellung.

Wenn man alſo heute oft die Meinung hört, ein Bündnis des
liberalen Englands mit dem autokratiſchen Rußland und des demo-
kratiſch-radikalen Frankreichs mit dem reaktionären Zarentum ſei
der Gipfel politiſcher Unvernunft, ſo muß man dagegen ſagen: Das
gleichmäßige Intereſſe an einem nicht allzu mächtigen Deutſchland,
an einem ſchwachen Mitteleuropa, führt heute drei Mächte zuſam-
men, welche ihre Machtentwicklung einſt der Schwäche Deutſchlands
und Mitteleuropas zu verdanken hatten. Alle drei Gegner ſehen
in einer weiteren Erſtarkung Deutſchlands eine Bedrohung ihrer
zurzeit unſerer Ohnmacht erſchlichenen Macht. Das führt ſie zu-
ſammen.

So verrucht die Art iſt, mit der dieſer Krieg entzündet iſt, ſeine
tieferen Urſachen, die Wurzeln des Deutſchenhaſſes bei unſeren
Rivalen liegen Jahrhunderte zurück und offenbaren ſich heute
ebenſo, nur noch in einem weit größeren Umfange, wie bei und
nach dem Kriege des Jahres 1870.

Man ſehe ſich die Landkarte Deutſchlands zu Beginn des fünf-
zehnten Jahrhunderts an! Um das Jahr 1400 ſind Burgund, Ober-
und Niederlothringen, Luxemburg, Hennegau und Brabant Teile
des Deutſchen Reiches; Beſancon, Verdun, Gent, Brüſſel, Antwerpen
waren damals deutſche Städte. Im Oſten aber gingen die Beſitzun-
gen des deutſchen Ordens bis Reval und Narva am finniſchen
Meerbuſen. Wäre das Emporkommen Frankreichs, Englands und
Rußlands, auch nur denkbar geweſen, wenn das alte Deutſche Reich
ſich die Machtfülle erhalten hätte, die ihm unter den drei Kaiſer-
geſchlechtern der Sachſen, Salier und Hohenſtaufen zu eigen war?

Wenn ſo die Feindſchaft Englands, Frankreichs und Rußlands
gegen uns ihre geſchichtliche Wurzel hat, ſo iſt damit aber auch auf
der anderen Seite das Ziel gegeben, um das Deutſchland in dieſem
furchtbaren Kriege kämpfen muß. Unſer Vaterland kämpft um die
ihm nach ſeiner Geſchichte, ſeiner hervorragenden Kultur, ſeinem
Geiſtesleben und ſeinem inneren Werte gebührende Machtentwick-
lung. Ohne behaupten zu wollen, daß Deutſchland nach der Wieder-
gewinnung aller ihm einſt gehörenden Länder ſtreben ſoll, möchte
ich doch ſagen, daß die deutſche Geſchichte die Richtung andeutet,
nach der die Machtentfaltung hinſtreben ſoll, die wir uns bei einem,
wie wir hoffen, ſiegreichen Ausgange des Kampfes zum Ziele ſetzen
müſſen. Im weſentlichen weiſt dieſe Richtung nach Weſten, und
ſchon werden Stimmen laut, welche als Siegespreis Belgien für
Deutſchland fordern. Das in die Nord- und Oſtſee faſt eingeſchloſ-
ſene deutſche Seeweſen drängt zum Weltmeer, zum atlantiſchen
Ozean, den England uns verſchließen möchte. Wird man von Eng-
land einmal ſagen können, daß es uns gegenüber die Rolle des
Böſen in dieſer Welt heute geſpielt habe, das ſtets das Gegenteil
erreicht von dem, was es verruchterweiſe erſtrebt? Iſt heute Eng-
land und Frankreich für uns auch nur „Ein Teil von jener Kraft,
die ſtets das Böſe will, und ſtets das Gute ſchafft?“



Brief aus Oeſterreich.

Wenn dieſe Zeilen in München eintreffen werden, weiß der
liebe Himmel. Der letzte von dort an mich gerichtete Brief hat glück-
lich 16 Tage gebraucht. In unſerer, durch ſeine glänzenden Poſt-
verbindungen verwöhnten Zeit empfindet man dieſe unerwartete
Rückverſetzung in die behaglich langſamen Tage, da „Großvater die
Großmutter nahm“ und die „Eilpoſt“ mit Hüh und Hott auf den
noch nicht von Telegraphenſtangen begleiteten Heerſtraßen hinrum-
pelte, beſonders unangenehm, zumal dann, wenn man Berichte ſen-
den ſoll. Allein es iſt dafür geſorgt, daß dieſe Berichte, die bei ſol-
cher Wegdauer ſonſt geſchriebene Anachronismen wären, trotzdem
nicht veralten können: einfach deshalb nicht, weil es über die mili-
täriſchen Weltereigniſſe nichts zu berichten gibt. Die Zenſur waltet
argusäugig ihres Amtes und niemand erfährt anderes als offizielle

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[559/0009] 12. September 1914. Allgemeine Zeitung löſen ſich vom deutſchen Reiche los, das völlig außer Stand iſt, ſie gegen ihren ſpaniſchen Todfeind zu ſchützen. Die alte Seemacht der deutſchen Hanſa iſt längſt verſchwunden und von glücklicheren Riva- len auf den Meeren verdrängt. Holland aber, das, vom Deutſchen Reiche losgelöſt, ſich zu einem ſelbſtändigen Staate entwickelt, ver- mag ohne den Rückhalt an einem mächtigen deutſchen Hinterlande ſich der portugieſiſchen, franzöſiſchen und zuletzt engliſchen Rivalen nicht mehr zu erwehren und ſcheidet zuletzt, nach Anfang ſo glor- reichen Kämpfen, aus der Reihe der großen Mächte aus. Auf den Trümmern aber der zerſtörten ſpaniſchen, portugieſiſchen, franzö- ſiſchen und holländiſchen Seeherrſchaft erhebt ſich, alle übertreffend, die engliſche Weltmacht, welche die Kriege und Händel des Feſt- landes geſchickt benutzt, um die Herrſchaft auf allen Meeren zu er- ringen. Im Oſten endlich, am baltiſchen Strande, gingen die küh- nen koloniſatoriſchen Gründungen Deutſchlands, das Werk ſeiner Kaufleute und ſeiner geiſtlichen Ritterorden nicht minder dem Vaterlande verloren oder kamen unter polniſche oder ſchwediſche Oberhoheit. Das ruſſiſche Volk, das bis Ende des ſiebzehnten Jahr- hunderts ſo gut wie ohne allen Einfluß auf die Geſchicke Mittel- europas iſt, dringt ſeit Peters des Großen genialem Regimente gegen Weſten vor. Eſtland und Livland, einſt der Beſitz des deutſchen Ritterordens, werden Beſtandteile des ungeheuren ruſſiſchen Reiches, dem ſich bei der zweiten Teilung Polens auch endlich Kurland unterwirft. Katharina’s II. intrigante Politik macht dem trennenden polniſchen Zwiſchenreiche ein Ende. Rußland wird un- mittelbarer Nachbar Preußens und Oeſterreichs, die beide nur, jenes Poſen und Weſtpreußen, dieſes Galizien aus der großen polniſchen Beute erwerben, während der ganze übrige ungeheure polniſche Beſitz an Rußland kommt. Zu dem franzöſiſchen Dränger im Weſten erhält unſer Vater- land nun einen ebenſo gefährlichen Nachbarn im Oſten, der bei den unaufhörlichen Kämpfen, für die nun einmal Deutſchland ſeit dem dreißigjährigen Kriege das Schlachtfeld geworden iſt, immer mehr Einfluß auf die Geſchicke unſeres Vaterlandes erhält, ein Einfluß, der ſich ſeit den napoleoniſchen Kriegen geradezu eine Zeitlang zur ruſſiſchen Hegemonie in Europa ſteigert. Betrachtet man dieſen für Deutſchland ſo ungünſtigen Entwick- lungsgang, ſo ſieht man unſchwer, daß faſt alle neueren europä- iſchen Kriege ihren tieferen Grund in der Schwächung Mittel- europas und beſonders Deutſchlands ſeit dem Ausgange des Mittel- alters, und vor allem ſeit dem dreißigjährigen Kriege, haben. An die Stelle des machtvollen, nach allen Seiten hin Achtung und Furcht erweckenden deutſchen Kaiſertums der großen ſächſiſchen, ſaliſchen und hohenſtaufiſchen Herrſcher iſt allmählich ein innerlich zerrüttetes, nach außen ohnmächtiges Deutſches Reich getreten, das ſeine Grenzlande nicht mehr verteidigen konnte. Die Folge iſt eine völlige Verſchiebung der Machtverhältniſſe in Europa geweſen, welche Frankreich, Rußland und England auf Deutſchlands Koſten zu einer Machtentwicklung gebracht hat, welche innerlich durchaus ungeſchichtlich iſt, und weniger auf der eigenen Kraft jener Staaten, als vielmehr auf der politiſchen Schwäche Mitteleuropas beruht hat. Aber dieſe ungeſchichtliche und ungebührliche Machtentwicklung Englands, Rußlands und Frankreichs auf unſere Koſten mußte ins Wanken kommen, ſobald Deutſchland dank der hohenzollerſchen Staatskunſt und dem mit dem Beginne des vorigen Jahrhunderts erwachſenden deutſchen Nationalgefühl wieder innerlich zu erſtarken begann. Die Staatskunſt der Hohenzollern und die ſiegreichen Kriege, die Preußen ſeit dem Ausgange des dreißigjährigen Krieges führte, ſie bedeuteten für unſere Nachbarn in Europa den Beginn eines rückläufigen Prozeſſes, durch welche der Machtverſtärkung unſerer Nachbarn auf Koſten Deutſchlands Halt geboten und wich- tige Grenzländer wieder dem deutſchen Vaterlande zurückgewonnen wurden. Früher als wir ſelber, hat das Ausland geahnt, was das Emporkommen Preußens und die von dem Hohenzollernſtaate zu befürchtende Einigung Deutſchlands für ſie bedeute. Darum haben ſchon auf dem Wiener Kongreſſe nach Beendigung der napoleoni- ſchen Kriege England, Frankreich und Rußland die Einigung Deutſchlands mit leider nur allzu großem Erfolge zu verhindern gewußt. England hat damals ſchon, vor hundert Jahren, viel früher als wir erkannt, was die Einigung Deutſchlands und deſſen langgeſtreckte Nord- und Oſtſeeküſte, mit dem Ausblicke auf eine ſich entwickelnde deutſche Seemacht, für Englands Handel und Welt- ſtellung bedeute. Wie Englands, Rußlands und Frankreichs gefährliches Empor- kommen geſchichtlich beruhte auf einem geſchwächten Mitteleuropa, und vor allem einem ſchwachen Deutſchland, ſo bedeutet Deutſch- lands und Mitteleuropas Erſtarken auch zugleich für ſie eine Er- ſchütterung, eine Bedrohung ihrer zur Zeit der deutſchen Schwäche gewonnenen unnatürlichen Machtſtellung. Wenn man alſo heute oft die Meinung hört, ein Bündnis des liberalen Englands mit dem autokratiſchen Rußland und des demo- kratiſch-radikalen Frankreichs mit dem reaktionären Zarentum ſei der Gipfel politiſcher Unvernunft, ſo muß man dagegen ſagen: Das gleichmäßige Intereſſe an einem nicht allzu mächtigen Deutſchland, an einem ſchwachen Mitteleuropa, führt heute drei Mächte zuſam- men, welche ihre Machtentwicklung einſt der Schwäche Deutſchlands und Mitteleuropas zu verdanken hatten. Alle drei Gegner ſehen in einer weiteren Erſtarkung Deutſchlands eine Bedrohung ihrer zurzeit unſerer Ohnmacht erſchlichenen Macht. Das führt ſie zu- ſammen. So verrucht die Art iſt, mit der dieſer Krieg entzündet iſt, ſeine tieferen Urſachen, die Wurzeln des Deutſchenhaſſes bei unſeren Rivalen liegen Jahrhunderte zurück und offenbaren ſich heute ebenſo, nur noch in einem weit größeren Umfange, wie bei und nach dem Kriege des Jahres 1870. Man ſehe ſich die Landkarte Deutſchlands zu Beginn des fünf- zehnten Jahrhunderts an! Um das Jahr 1400 ſind Burgund, Ober- und Niederlothringen, Luxemburg, Hennegau und Brabant Teile des Deutſchen Reiches; Beſancon, Verdun, Gent, Brüſſel, Antwerpen waren damals deutſche Städte. Im Oſten aber gingen die Beſitzun- gen des deutſchen Ordens bis Reval und Narva am finniſchen Meerbuſen. Wäre das Emporkommen Frankreichs, Englands und Rußlands, auch nur denkbar geweſen, wenn das alte Deutſche Reich ſich die Machtfülle erhalten hätte, die ihm unter den drei Kaiſer- geſchlechtern der Sachſen, Salier und Hohenſtaufen zu eigen war? Wenn ſo die Feindſchaft Englands, Frankreichs und Rußlands gegen uns ihre geſchichtliche Wurzel hat, ſo iſt damit aber auch auf der anderen Seite das Ziel gegeben, um das Deutſchland in dieſem furchtbaren Kriege kämpfen muß. Unſer Vaterland kämpft um die ihm nach ſeiner Geſchichte, ſeiner hervorragenden Kultur, ſeinem Geiſtesleben und ſeinem inneren Werte gebührende Machtentwick- lung. Ohne behaupten zu wollen, daß Deutſchland nach der Wieder- gewinnung aller ihm einſt gehörenden Länder ſtreben ſoll, möchte ich doch ſagen, daß die deutſche Geſchichte die Richtung andeutet, nach der die Machtentfaltung hinſtreben ſoll, die wir uns bei einem, wie wir hoffen, ſiegreichen Ausgange des Kampfes zum Ziele ſetzen müſſen. Im weſentlichen weiſt dieſe Richtung nach Weſten, und ſchon werden Stimmen laut, welche als Siegespreis Belgien für Deutſchland fordern. Das in die Nord- und Oſtſee faſt eingeſchloſ- ſene deutſche Seeweſen drängt zum Weltmeer, zum atlantiſchen Ozean, den England uns verſchließen möchte. Wird man von Eng- land einmal ſagen können, daß es uns gegenüber die Rolle des Böſen in dieſer Welt heute geſpielt habe, das ſtets das Gegenteil erreicht von dem, was es verruchterweiſe erſtrebt? Iſt heute Eng- land und Frankreich für uns auch nur „Ein Teil von jener Kraft, die ſtets das Böſe will, und ſtets das Gute ſchafft?“ Brief aus Oeſterreich. Th. Wien, 21. Auguſt. Wenn dieſe Zeilen in München eintreffen werden, weiß der liebe Himmel. Der letzte von dort an mich gerichtete Brief hat glück- lich 16 Tage gebraucht. In unſerer, durch ſeine glänzenden Poſt- verbindungen verwöhnten Zeit empfindet man dieſe unerwartete Rückverſetzung in die behaglich langſamen Tage, da „Großvater die Großmutter nahm“ und die „Eilpoſt“ mit Hüh und Hott auf den noch nicht von Telegraphenſtangen begleiteten Heerſtraßen hinrum- pelte, beſonders unangenehm, zumal dann, wenn man Berichte ſen- den ſoll. Allein es iſt dafür geſorgt, daß dieſe Berichte, die bei ſol- cher Wegdauer ſonſt geſchriebene Anachronismen wären, trotzdem nicht veralten können: einfach deshalb nicht, weil es über die mili- täriſchen Weltereigniſſe nichts zu berichten gibt. Die Zenſur waltet argusäugig ihres Amtes und niemand erfährt anderes als offizielle _

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 37, 12. September 1914, S. 559. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine37_1914/9>, abgerufen am 20.05.2024.