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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 47. Stuttgart/Tübingen, 23. November 1856.

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Goethe
von
Emerson.
( Schluß. )
[Beginn Spaltensatz]

Es ist nicht meine Absicht, auf eine Analyse
von Goethes zahlreichen Werken einzugehen. Sie be-
stehen aus Uebersetzungen, Kritiken, Dramen, Liedern
und Gedichten aller Art, literarischen Tagebüchern und
Schilderungen berühmter Männer. Doch kann ich nicht
umhin, den Wilhelm Meister näher zu besprechen.

Wilhelm Meister ist ein Roman in jedem Sinne
des Worts, der erste in seiner Art, und er gilt bei
seinen Bewunderern für die einzige Schilderung des
modernen Lebens; wenn andere Romane, die von Scott
z. B., sich nur um Gebräuche und Zustände drehen,
so habe es dieser mit dem Geiste des Lebens selbst zu
thun. Es ist ein Buch, über dem noch immer ein ge-
wisser Schleier liegt. Sehr begabte Personen lesen es
mit Bewunderung und Entzücken. Von manchen wird
es als ein Werk des Genius gar über den Hamlet
gestellt. Jch denke, kein Werk unseres Jahrhunderts
läßt sich ihm an köstlicher Süßigkeit vergleichen; es ist
so neu, so anregend für den Geist, es befruchtet ihn
mit so vielen probehaltigen Gedanken, mit so vielen
Blicken in das Leben, die Sitten und die menschlichen
Charaktere; es bietet so manchen guten Wink für die
Lebensführung, erschließt so überraschende Blicke in hö-
here Sphären, und nie stößt man dabei auf eine Spur
von langweiliger Wohlredenheit. Es ist ein Buch, das die
Neugier genialer junger Leute gewaltig reizt und doch
-- ein höchst unbefriedigendes. Liebhaber leichter Lek-
türe, die in ihm die Unterhaltung suchen, welche ein
Roman bietet, legen es enttäuscht aus der Hand. An-
dererseits haben auch solche, die es mit der höheren
Erwartung aufschlugen, darin einen würdigen Lebens-
lauf des Genius zu finden und denselben für alle Plage
und Entsagung am Ziele mit dem Lorbeer gekrönt zu
sehen, Grund genug, sich zu beklagen. Vor kurzem
kam uns ein englischer Roman zu, dessen Stoff, der
Ankündigung nach, die Verwirklichung der Hoffnungen
eines neuen Zeitalters und der politischen Ziele des so-
genannten "jungen Englands" seyn sollte, und in dem
der einzige Lohn der Tugend ein Parlamentssitz ist
und die Pairswürde. Goethes Roman hat einen eben
so lahmen und unmoralischen Ausgang. George Sand
hat in Consuelo und dessen Fortsetzung ein wahreres,
würdigeres Bild gezeichnet. Jm Verlauf der Geschichte
[Spaltenumbruch] entwickeln sich die Charaktere des Helden und der Hel-
din so gewaltig, daß das porzellanene Schachspiel ari-
stokratischen Uebereinkommens davor in Stücke geht.
Sie entsagen der Gesellschaft und den Gewohnheiten
ihres Ranges, sie verlieren ihr Vermögen, sie machen
sich zu den Trägern großer Jdeen, der edelsten socialen
Bestrebungen, bis am Ende der Held, der der Mittel-
punkt und die Seele eines großherzigen Vereins zur
Beglückung der Menschheit geworden ist, auf seinen ei-
genen vornehmen Namen nicht mehr hört: er klingt
fremd, wie aus weiter Ferne an sein Ohr. "Jch
bin nur Mensch," sagt er, "ich athme und wirke für
die Menschen;" und das thut er in Armuth und mit
äußerster Aufopferung. Goethes Held hat dagegen so
viele Schwächen und Unlauterkeiten an sich und be-
wegt sich in so schlechter Gesellschaft, daß das nüch-
terne englische Publikum, als das Buch übersetzt er-
schien, sich davon sehr abgestoßen fühlte. Und dennoch
ist es ein Werk voll Weisheit, so voll Kenntniß der
Welt und ihrer Gesetze, die Personen sind so wahr
und fein und mit so wenigen Strichen gezeichnet, da
steht kein Wort zu viel, und das Buch bleibt immer so
neu und unerschöpft, daß wir es eben seinen Weg ge-
hen lassen und daraus des Guten so viel nehmen
müssen, als wir eben können, überzeugt, daß es erst
am Beginn seiner Laufbahn steht und noch Millionen
von Lesern zum Segen wird.

Der Stoff ist, wie aus einem Demokraten ein
Aristokrat wird, beide Worte im besten Sinne genommen.
Und dieser Uebertritt erfolgt nicht auf gemeinen oder
Schleichwegen, sondern durch das große Thor. Na-
turell und Charakter helfen dazu, und der gesellschaft-
liche Rang wird durch die hohe Gesinnung und den
ächten Adel der Vornehmen zur Wahrheit. Dieser
Reiz der Realität im Buch kann bei keinem wohlbe-
schaffenen jungen Mann des größten Eindrucks verfeh-
len, und es muß auf Geist und Muth in hohem Grade
ermunternd wirken.

Der feurige und gottselige Novalis bezeichnete das
Buch als "durchaus prosaisch und modern." Keine
Spur darin von Romantik, von Naturpoesie, von
Wunder. Das Buch drehe sich um gemeine menschliche
Zustände; es sey nichts als eine poetisirte bürgerliche,
[Ende Spaltensatz]


Goethe
von
Emerson.
( Schluß. )
[Beginn Spaltensatz]

Es ist nicht meine Absicht, auf eine Analyse
von Goethes zahlreichen Werken einzugehen. Sie be-
stehen aus Uebersetzungen, Kritiken, Dramen, Liedern
und Gedichten aller Art, literarischen Tagebüchern und
Schilderungen berühmter Männer. Doch kann ich nicht
umhin, den Wilhelm Meister näher zu besprechen.

Wilhelm Meister ist ein Roman in jedem Sinne
des Worts, der erste in seiner Art, und er gilt bei
seinen Bewunderern für die einzige Schilderung des
modernen Lebens; wenn andere Romane, die von Scott
z. B., sich nur um Gebräuche und Zustände drehen,
so habe es dieser mit dem Geiste des Lebens selbst zu
thun. Es ist ein Buch, über dem noch immer ein ge-
wisser Schleier liegt. Sehr begabte Personen lesen es
mit Bewunderung und Entzücken. Von manchen wird
es als ein Werk des Genius gar über den Hamlet
gestellt. Jch denke, kein Werk unseres Jahrhunderts
läßt sich ihm an köstlicher Süßigkeit vergleichen; es ist
so neu, so anregend für den Geist, es befruchtet ihn
mit so vielen probehaltigen Gedanken, mit so vielen
Blicken in das Leben, die Sitten und die menschlichen
Charaktere; es bietet so manchen guten Wink für die
Lebensführung, erschließt so überraschende Blicke in hö-
here Sphären, und nie stößt man dabei auf eine Spur
von langweiliger Wohlredenheit. Es ist ein Buch, das die
Neugier genialer junger Leute gewaltig reizt und doch
— ein höchst unbefriedigendes. Liebhaber leichter Lek-
türe, die in ihm die Unterhaltung suchen, welche ein
Roman bietet, legen es enttäuscht aus der Hand. An-
dererseits haben auch solche, die es mit der höheren
Erwartung aufschlugen, darin einen würdigen Lebens-
lauf des Genius zu finden und denselben für alle Plage
und Entsagung am Ziele mit dem Lorbeer gekrönt zu
sehen, Grund genug, sich zu beklagen. Vor kurzem
kam uns ein englischer Roman zu, dessen Stoff, der
Ankündigung nach, die Verwirklichung der Hoffnungen
eines neuen Zeitalters und der politischen Ziele des so-
genannten „jungen Englands“ seyn sollte, und in dem
der einzige Lohn der Tugend ein Parlamentssitz ist
und die Pairswürde. Goethes Roman hat einen eben
so lahmen und unmoralischen Ausgang. George Sand
hat in Consuelo und dessen Fortsetzung ein wahreres,
würdigeres Bild gezeichnet. Jm Verlauf der Geschichte
[Spaltenumbruch] entwickeln sich die Charaktere des Helden und der Hel-
din so gewaltig, daß das porzellanene Schachspiel ari-
stokratischen Uebereinkommens davor in Stücke geht.
Sie entsagen der Gesellschaft und den Gewohnheiten
ihres Ranges, sie verlieren ihr Vermögen, sie machen
sich zu den Trägern großer Jdeen, der edelsten socialen
Bestrebungen, bis am Ende der Held, der der Mittel-
punkt und die Seele eines großherzigen Vereins zur
Beglückung der Menschheit geworden ist, auf seinen ei-
genen vornehmen Namen nicht mehr hört: er klingt
fremd, wie aus weiter Ferne an sein Ohr. „Jch
bin nur Mensch,“ sagt er, „ich athme und wirke für
die Menschen;“ und das thut er in Armuth und mit
äußerster Aufopferung. Goethes Held hat dagegen so
viele Schwächen und Unlauterkeiten an sich und be-
wegt sich in so schlechter Gesellschaft, daß das nüch-
terne englische Publikum, als das Buch übersetzt er-
schien, sich davon sehr abgestoßen fühlte. Und dennoch
ist es ein Werk voll Weisheit, so voll Kenntniß der
Welt und ihrer Gesetze, die Personen sind so wahr
und fein und mit so wenigen Strichen gezeichnet, da
steht kein Wort zu viel, und das Buch bleibt immer so
neu und unerschöpft, daß wir es eben seinen Weg ge-
hen lassen und daraus des Guten so viel nehmen
müssen, als wir eben können, überzeugt, daß es erst
am Beginn seiner Laufbahn steht und noch Millionen
von Lesern zum Segen wird.

Der Stoff ist, wie aus einem Demokraten ein
Aristokrat wird, beide Worte im besten Sinne genommen.
Und dieser Uebertritt erfolgt nicht auf gemeinen oder
Schleichwegen, sondern durch das große Thor. Na-
turell und Charakter helfen dazu, und der gesellschaft-
liche Rang wird durch die hohe Gesinnung und den
ächten Adel der Vornehmen zur Wahrheit. Dieser
Reiz der Realität im Buch kann bei keinem wohlbe-
schaffenen jungen Mann des größten Eindrucks verfeh-
len, und es muß auf Geist und Muth in hohem Grade
ermunternd wirken.

Der feurige und gottselige Novalis bezeichnete das
Buch als „durchaus prosaisch und modern.“ Keine
Spur darin von Romantik, von Naturpoesie, von
Wunder. Das Buch drehe sich um gemeine menschliche
Zustände; es sey nichts als eine poetisirte bürgerliche,
[Ende Spaltensatz]

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[1117/0013] 1117 Goethe von Emerson. ( Schluß. ) Es ist nicht meine Absicht, auf eine Analyse von Goethes zahlreichen Werken einzugehen. Sie be- stehen aus Uebersetzungen, Kritiken, Dramen, Liedern und Gedichten aller Art, literarischen Tagebüchern und Schilderungen berühmter Männer. Doch kann ich nicht umhin, den Wilhelm Meister näher zu besprechen. Wilhelm Meister ist ein Roman in jedem Sinne des Worts, der erste in seiner Art, und er gilt bei seinen Bewunderern für die einzige Schilderung des modernen Lebens; wenn andere Romane, die von Scott z. B., sich nur um Gebräuche und Zustände drehen, so habe es dieser mit dem Geiste des Lebens selbst zu thun. Es ist ein Buch, über dem noch immer ein ge- wisser Schleier liegt. Sehr begabte Personen lesen es mit Bewunderung und Entzücken. Von manchen wird es als ein Werk des Genius gar über den Hamlet gestellt. Jch denke, kein Werk unseres Jahrhunderts läßt sich ihm an köstlicher Süßigkeit vergleichen; es ist so neu, so anregend für den Geist, es befruchtet ihn mit so vielen probehaltigen Gedanken, mit so vielen Blicken in das Leben, die Sitten und die menschlichen Charaktere; es bietet so manchen guten Wink für die Lebensführung, erschließt so überraschende Blicke in hö- here Sphären, und nie stößt man dabei auf eine Spur von langweiliger Wohlredenheit. Es ist ein Buch, das die Neugier genialer junger Leute gewaltig reizt und doch — ein höchst unbefriedigendes. Liebhaber leichter Lek- türe, die in ihm die Unterhaltung suchen, welche ein Roman bietet, legen es enttäuscht aus der Hand. An- dererseits haben auch solche, die es mit der höheren Erwartung aufschlugen, darin einen würdigen Lebens- lauf des Genius zu finden und denselben für alle Plage und Entsagung am Ziele mit dem Lorbeer gekrönt zu sehen, Grund genug, sich zu beklagen. Vor kurzem kam uns ein englischer Roman zu, dessen Stoff, der Ankündigung nach, die Verwirklichung der Hoffnungen eines neuen Zeitalters und der politischen Ziele des so- genannten „jungen Englands“ seyn sollte, und in dem der einzige Lohn der Tugend ein Parlamentssitz ist und die Pairswürde. Goethes Roman hat einen eben so lahmen und unmoralischen Ausgang. George Sand hat in Consuelo und dessen Fortsetzung ein wahreres, würdigeres Bild gezeichnet. Jm Verlauf der Geschichte entwickeln sich die Charaktere des Helden und der Hel- din so gewaltig, daß das porzellanene Schachspiel ari- stokratischen Uebereinkommens davor in Stücke geht. Sie entsagen der Gesellschaft und den Gewohnheiten ihres Ranges, sie verlieren ihr Vermögen, sie machen sich zu den Trägern großer Jdeen, der edelsten socialen Bestrebungen, bis am Ende der Held, der der Mittel- punkt und die Seele eines großherzigen Vereins zur Beglückung der Menschheit geworden ist, auf seinen ei- genen vornehmen Namen nicht mehr hört: er klingt fremd, wie aus weiter Ferne an sein Ohr. „Jch bin nur Mensch,“ sagt er, „ich athme und wirke für die Menschen;“ und das thut er in Armuth und mit äußerster Aufopferung. Goethes Held hat dagegen so viele Schwächen und Unlauterkeiten an sich und be- wegt sich in so schlechter Gesellschaft, daß das nüch- terne englische Publikum, als das Buch übersetzt er- schien, sich davon sehr abgestoßen fühlte. Und dennoch ist es ein Werk voll Weisheit, so voll Kenntniß der Welt und ihrer Gesetze, die Personen sind so wahr und fein und mit so wenigen Strichen gezeichnet, da steht kein Wort zu viel, und das Buch bleibt immer so neu und unerschöpft, daß wir es eben seinen Weg ge- hen lassen und daraus des Guten so viel nehmen müssen, als wir eben können, überzeugt, daß es erst am Beginn seiner Laufbahn steht und noch Millionen von Lesern zum Segen wird. Der Stoff ist, wie aus einem Demokraten ein Aristokrat wird, beide Worte im besten Sinne genommen. Und dieser Uebertritt erfolgt nicht auf gemeinen oder Schleichwegen, sondern durch das große Thor. Na- turell und Charakter helfen dazu, und der gesellschaft- liche Rang wird durch die hohe Gesinnung und den ächten Adel der Vornehmen zur Wahrheit. Dieser Reiz der Realität im Buch kann bei keinem wohlbe- schaffenen jungen Mann des größten Eindrucks verfeh- len, und es muß auf Geist und Muth in hohem Grade ermunternd wirken. Der feurige und gottselige Novalis bezeichnete das Buch als „durchaus prosaisch und modern.“ Keine Spur darin von Romantik, von Naturpoesie, von Wunder. Das Buch drehe sich um gemeine menschliche Zustände; es sey nichts als eine poetisirte bürgerliche,

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 47. Stuttgart/Tübingen, 23. November 1856, S. 1117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt47_1856/13>, abgerufen am 14.06.2024.