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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 47. Stuttgart/Tübingen, 23. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] häusliche Geschichte; das Wunderbare darin sey aus-
drücklich als Wahn und schwärmerische Träumerei be-
handelt. Und doch -- ein sehr bezeichnender Umstand --
kehrte Novalis bald darauf zu dem Buche zurück und
es blieb bis an's Lebensende seine Lieblingslektüre.

Was Goethe für englische und französische Leser
besonders bedeutend macht, ist eine Eigenschaft, die er
mit seiner Nation theilt -- die durchgängige Richtung
zur inneren Wahrheit. Jn England und Amerika ist
das Talent geachtet, und wird damit irgend eine bekannte
oder augenfällige Sache oder Partei, oder das Gegen-
theil davon verfochten, so ist das Publikum zufrieden
gestellt. Jn Frankreich erfreut man sich an glänzender
geistiger Begabung noch mehr um ihrer selbst willen,
und in allen diesen Ländern schreiben Männer von Ta-
lent eben nur mit ihrem Talent. Es genügt, wenn
der Verstand beschäftigt, der Geschmack gewahrt wird,
wenn so und so viele Blattseiten und Stunden in leben-
diger und anständiger Weise ausgefüllt werden. Dem
deutschen Geiste mangelt die sprudelnde französische Le-
bendigkeit, das feine praktische Verständniß des Eng-
länders und der verwegene Unternehmungssinn des
Amerikaners; aber er besitzt eine gewisse moralische
Strenge, die sich niemals an oberflächlichen Leistungen
befriedigt, sondern immer fragt: Zu welchem Zweck?
Ein deutsches Publikum verlangt vom Schriftsteller Ge-
wissenhaftigkeit gegen sich selbst: "Hier ist reges geistiges
Leben, aber zu welchem Ende? Was will der Mann?
Woher alle diese Gedanken?"

Talent allein kann den Schriftsteller nicht ausma-
chen. Es muß ein Mann hinter dem Buche stehen,
eine Persönlichkeit, welche mit ihrem eingeborenen, ur-
sprünglichen Wesen für das darin Vorgebrachte einsteht,
die darum da ist, um die Dinge so und nicht anders
zu sehen und aufzufassen, und die Dinge fest hält,
weil sie Dinge sind. Jst er heute nicht im Stande
den richtigen Ausdruck zu finden, so bleibt die Sache
auf sich beruhen und mag sich ihm morgen offenbaren.
Aber es liegt wie eine Last auf seinem Gemüthe -- die
Last der Wahrheit, die, mehr oder weniger begriffen,
heraus will, und es ist eben sein Amt und Beruf in
der Welt, solche Fälle zu schlichten und bekannt zu
machen. Was thut's, daß er strauchelt und stottert,
daß seine Stimme zu tief oder zu hoch klingt, daß seine
Methode oder seine Bilder nicht eben richtig sind? Jst
nur die Sendung da, so finden sich wohl auch Methode
und Styl und der rechte Tonfall! Und wäre er stumm,
sie spräche für ihn. Wo nicht, ist kein solches Got-
teswort im Menschen -- was fragen wir dann darnach,
wie gewandt, wie beredt, wie glänzend begabt er ist?

Handelt es sich von der Bedeutung eines Ausspruchs,
[Spaltenumbruch] so kommt gewaltig viel darauf an, ob ein Mann da-
hinter steht oder nicht. Jm gelehrten Journal, in der
einflußreichen Zeitung kommt mir keine Gestalt zur An-
schauung, nichts als unverantwortliche Schatten, häufi-
ger noch ein Capitalistenverein, oder irgend ein Wind-
beutel, der in der Maske und dem Staatskleide seines
Artikels etwas zu gelten denkt. Aber aus jedem Rede-
theil und Satz eines tüchtigen Buches blicken mich die
Augen des entschiedensten Mannes an. Seine Kraft
und Gewalt überfluthet alle Worte, Commas und Punkte
sind lebendig, die Schrift ist voll Kraft und gut auf
den Beinen, und so mag sie weit kommen und lange
leben.

Jn England und Amerika mag einer griechische
oder lateinische Gedichte machen, ohne allen Sinn und
Geschmack für Poesie. Hat sich einer auch jahrelang
mit Plato oder Proclus abgegeben, so wird keineswegs
vorausgesetzt, daß er deßhalb von heroischer Sinnesart
sey und auf die Tagesmoden seiner Stadt tief herab-
sehe. Aber die deutsche Nation hat in dieser Hinsicht
den allerlächerlichsten guten Glauben. Auch außer dem
Hörsaal brütet der Student über seiner Lektion, und der
Professor kann sich der Einbildung nicht erwehren, daß
die philosophischen Wahrheiten in Berlin und München
einen gewissen Einfluß äußern müssen. Dieses Ernst-
nehmen setzt sie in den Stand, weit begabtere Män-
ner, als sie selbst, zu übersehen. Auf diese Weise sind
fast all die bedeutsamen Distinctionen, die in der
höheren Conversation gebräuchlich sind, uns aus
Deutschland zugekommen. Aber während in Frankreich
und England Leute von Geist und Bildung ihre Stu-
dien und ihren Beruf mit einer gewissen Leichtfertigkeit
wählen und ihnen keiner zutraut, daß sie von Seiten
des Charakters mit dem gewählten Fache besonders
stark verwachsen, läßt Goethe, das Haupt der deut-
schen Nation nach Leib und Seele, sein Talent kein
Wort sprechen, ohne daß die Wahrheit durchleuchtet.
Er ist ein sehr weiser Mann, wenn auch sein Talent
nicht selten seine Weisheit überschleiert. Wie vortreff-
lich auch sein Spruch seyn mag, er zeigt noch etwas
Besseres in der Ferne; er hält immer meine Neugierde rege.
Er besitzt die Achtung gebietende Unabhängigkeit, wie der
Umgang mit der Wahrheit sie verleiht. Höre ihm zu,
oder lasse es; was er bringt, bleibt so wie so, und
dein Jnteresse am Schriftsteller beschränkt sich nicht
auf seinen Vortrag, und du vergißst seiner nicht, wenn
er seine Aufgabe zu deinem Beifall hinter sich gebracht
hat, wie der Bäcker den Laib; sein Werk ist nur der
geringste Theil seiner selbst. Der ewige Geist, der Er-
bauer dieser Welt, hat diesem Manne mehr vertraut, als
jedem andern. Jch sage nicht, daß Goethe die höchste
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] häusliche Geschichte; das Wunderbare darin sey aus-
drücklich als Wahn und schwärmerische Träumerei be-
handelt. Und doch — ein sehr bezeichnender Umstand —
kehrte Novalis bald darauf zu dem Buche zurück und
es blieb bis an's Lebensende seine Lieblingslektüre.

Was Goethe für englische und französische Leser
besonders bedeutend macht, ist eine Eigenschaft, die er
mit seiner Nation theilt — die durchgängige Richtung
zur inneren Wahrheit. Jn England und Amerika ist
das Talent geachtet, und wird damit irgend eine bekannte
oder augenfällige Sache oder Partei, oder das Gegen-
theil davon verfochten, so ist das Publikum zufrieden
gestellt. Jn Frankreich erfreut man sich an glänzender
geistiger Begabung noch mehr um ihrer selbst willen,
und in allen diesen Ländern schreiben Männer von Ta-
lent eben nur mit ihrem Talent. Es genügt, wenn
der Verstand beschäftigt, der Geschmack gewahrt wird,
wenn so und so viele Blattseiten und Stunden in leben-
diger und anständiger Weise ausgefüllt werden. Dem
deutschen Geiste mangelt die sprudelnde französische Le-
bendigkeit, das feine praktische Verständniß des Eng-
länders und der verwegene Unternehmungssinn des
Amerikaners; aber er besitzt eine gewisse moralische
Strenge, die sich niemals an oberflächlichen Leistungen
befriedigt, sondern immer fragt: Zu welchem Zweck?
Ein deutsches Publikum verlangt vom Schriftsteller Ge-
wissenhaftigkeit gegen sich selbst: „Hier ist reges geistiges
Leben, aber zu welchem Ende? Was will der Mann?
Woher alle diese Gedanken?“

Talent allein kann den Schriftsteller nicht ausma-
chen. Es muß ein Mann hinter dem Buche stehen,
eine Persönlichkeit, welche mit ihrem eingeborenen, ur-
sprünglichen Wesen für das darin Vorgebrachte einsteht,
die darum da ist, um die Dinge so und nicht anders
zu sehen und aufzufassen, und die Dinge fest hält,
weil sie Dinge sind. Jst er heute nicht im Stande
den richtigen Ausdruck zu finden, so bleibt die Sache
auf sich beruhen und mag sich ihm morgen offenbaren.
Aber es liegt wie eine Last auf seinem Gemüthe — die
Last der Wahrheit, die, mehr oder weniger begriffen,
heraus will, und es ist eben sein Amt und Beruf in
der Welt, solche Fälle zu schlichten und bekannt zu
machen. Was thut's, daß er strauchelt und stottert,
daß seine Stimme zu tief oder zu hoch klingt, daß seine
Methode oder seine Bilder nicht eben richtig sind? Jst
nur die Sendung da, so finden sich wohl auch Methode
und Styl und der rechte Tonfall! Und wäre er stumm,
sie spräche für ihn. Wo nicht, ist kein solches Got-
teswort im Menschen — was fragen wir dann darnach,
wie gewandt, wie beredt, wie glänzend begabt er ist?

Handelt es sich von der Bedeutung eines Ausspruchs,
[Spaltenumbruch] so kommt gewaltig viel darauf an, ob ein Mann da-
hinter steht oder nicht. Jm gelehrten Journal, in der
einflußreichen Zeitung kommt mir keine Gestalt zur An-
schauung, nichts als unverantwortliche Schatten, häufi-
ger noch ein Capitalistenverein, oder irgend ein Wind-
beutel, der in der Maske und dem Staatskleide seines
Artikels etwas zu gelten denkt. Aber aus jedem Rede-
theil und Satz eines tüchtigen Buches blicken mich die
Augen des entschiedensten Mannes an. Seine Kraft
und Gewalt überfluthet alle Worte, Commas und Punkte
sind lebendig, die Schrift ist voll Kraft und gut auf
den Beinen, und so mag sie weit kommen und lange
leben.

Jn England und Amerika mag einer griechische
oder lateinische Gedichte machen, ohne allen Sinn und
Geschmack für Poesie. Hat sich einer auch jahrelang
mit Plato oder Proclus abgegeben, so wird keineswegs
vorausgesetzt, daß er deßhalb von heroischer Sinnesart
sey und auf die Tagesmoden seiner Stadt tief herab-
sehe. Aber die deutsche Nation hat in dieser Hinsicht
den allerlächerlichsten guten Glauben. Auch außer dem
Hörsaal brütet der Student über seiner Lektion, und der
Professor kann sich der Einbildung nicht erwehren, daß
die philosophischen Wahrheiten in Berlin und München
einen gewissen Einfluß äußern müssen. Dieses Ernst-
nehmen setzt sie in den Stand, weit begabtere Män-
ner, als sie selbst, zu übersehen. Auf diese Weise sind
fast all die bedeutsamen Distinctionen, die in der
höheren Conversation gebräuchlich sind, uns aus
Deutschland zugekommen. Aber während in Frankreich
und England Leute von Geist und Bildung ihre Stu-
dien und ihren Beruf mit einer gewissen Leichtfertigkeit
wählen und ihnen keiner zutraut, daß sie von Seiten
des Charakters mit dem gewählten Fache besonders
stark verwachsen, läßt Goethe, das Haupt der deut-
schen Nation nach Leib und Seele, sein Talent kein
Wort sprechen, ohne daß die Wahrheit durchleuchtet.
Er ist ein sehr weiser Mann, wenn auch sein Talent
nicht selten seine Weisheit überschleiert. Wie vortreff-
lich auch sein Spruch seyn mag, er zeigt noch etwas
Besseres in der Ferne; er hält immer meine Neugierde rege.
Er besitzt die Achtung gebietende Unabhängigkeit, wie der
Umgang mit der Wahrheit sie verleiht. Höre ihm zu,
oder lasse es; was er bringt, bleibt so wie so, und
dein Jnteresse am Schriftsteller beschränkt sich nicht
auf seinen Vortrag, und du vergißst seiner nicht, wenn
er seine Aufgabe zu deinem Beifall hinter sich gebracht
hat, wie der Bäcker den Laib; sein Werk ist nur der
geringste Theil seiner selbst. Der ewige Geist, der Er-
bauer dieser Welt, hat diesem Manne mehr vertraut, als
jedem andern. Jch sage nicht, daß Goethe die höchste
[Ende Spaltensatz]

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Es genügt, wenn der Verstand beschäftigt, der Geschmack gewahrt wird, wenn so und so viele Blattseiten und Stunden in leben- diger und anständiger Weise ausgefüllt werden. Dem deutschen Geiste mangelt die sprudelnde französische Le- bendigkeit, das feine praktische Verständniß des Eng- länders und der verwegene Unternehmungssinn des Amerikaners; aber er besitzt eine gewisse moralische Strenge, die sich niemals an oberflächlichen Leistungen befriedigt, sondern immer fragt: Zu welchem Zweck? Ein deutsches Publikum verlangt vom Schriftsteller Ge- wissenhaftigkeit gegen sich selbst: „Hier ist reges geistiges Leben, aber zu welchem Ende? Was will der Mann? Woher alle diese Gedanken?“ Talent allein kann den Schriftsteller nicht ausma- chen. Es muß ein Mann hinter dem Buche stehen, eine Persönlichkeit, welche mit ihrem eingeborenen, ur- sprünglichen Wesen für das darin Vorgebrachte einsteht, die darum da ist, um die Dinge so und nicht anders zu sehen und aufzufassen, und die Dinge fest hält, weil sie Dinge sind. Jst er heute nicht im Stande den richtigen Ausdruck zu finden, so bleibt die Sache auf sich beruhen und mag sich ihm morgen offenbaren. Aber es liegt wie eine Last auf seinem Gemüthe — die Last der Wahrheit, die, mehr oder weniger begriffen, heraus will, und es ist eben sein Amt und Beruf in der Welt, solche Fälle zu schlichten und bekannt zu machen. Was thut's, daß er strauchelt und stottert, daß seine Stimme zu tief oder zu hoch klingt, daß seine Methode oder seine Bilder nicht eben richtig sind? Jst nur die Sendung da, so finden sich wohl auch Methode und Styl und der rechte Tonfall! Und wäre er stumm, sie spräche für ihn. Wo nicht, ist kein solches Got- teswort im Menschen — was fragen wir dann darnach, wie gewandt, wie beredt, wie glänzend begabt er ist? Handelt es sich von der Bedeutung eines Ausspruchs, so kommt gewaltig viel darauf an, ob ein Mann da- hinter steht oder nicht. Jm gelehrten Journal, in der einflußreichen Zeitung kommt mir keine Gestalt zur An- schauung, nichts als unverantwortliche Schatten, häufi- ger noch ein Capitalistenverein, oder irgend ein Wind- beutel, der in der Maske und dem Staatskleide seines Artikels etwas zu gelten denkt. Aber aus jedem Rede- theil und Satz eines tüchtigen Buches blicken mich die Augen des entschiedensten Mannes an. Seine Kraft und Gewalt überfluthet alle Worte, Commas und Punkte sind lebendig, die Schrift ist voll Kraft und gut auf den Beinen, und so mag sie weit kommen und lange leben. Jn England und Amerika mag einer griechische oder lateinische Gedichte machen, ohne allen Sinn und Geschmack für Poesie. Hat sich einer auch jahrelang mit Plato oder Proclus abgegeben, so wird keineswegs vorausgesetzt, daß er deßhalb von heroischer Sinnesart sey und auf die Tagesmoden seiner Stadt tief herab- sehe. Aber die deutsche Nation hat in dieser Hinsicht den allerlächerlichsten guten Glauben. Auch außer dem Hörsaal brütet der Student über seiner Lektion, und der Professor kann sich der Einbildung nicht erwehren, daß die philosophischen Wahrheiten in Berlin und München einen gewissen Einfluß äußern müssen. Dieses Ernst- nehmen setzt sie in den Stand, weit begabtere Män- ner, als sie selbst, zu übersehen. Auf diese Weise sind fast all die bedeutsamen Distinctionen, die in der höheren Conversation gebräuchlich sind, uns aus Deutschland zugekommen. Aber während in Frankreich und England Leute von Geist und Bildung ihre Stu- dien und ihren Beruf mit einer gewissen Leichtfertigkeit wählen und ihnen keiner zutraut, daß sie von Seiten des Charakters mit dem gewählten Fache besonders stark verwachsen, läßt Goethe, das Haupt der deut- schen Nation nach Leib und Seele, sein Talent kein Wort sprechen, ohne daß die Wahrheit durchleuchtet. Er ist ein sehr weiser Mann, wenn auch sein Talent nicht selten seine Weisheit überschleiert. Wie vortreff- lich auch sein Spruch seyn mag, er zeigt noch etwas Besseres in der Ferne; er hält immer meine Neugierde rege. Er besitzt die Achtung gebietende Unabhängigkeit, wie der Umgang mit der Wahrheit sie verleiht. Höre ihm zu, oder lasse es; was er bringt, bleibt so wie so, und dein Jnteresse am Schriftsteller beschränkt sich nicht auf seinen Vortrag, und du vergißst seiner nicht, wenn er seine Aufgabe zu deinem Beifall hinter sich gebracht hat, wie der Bäcker den Laib; sein Werk ist nur der geringste Theil seiner selbst. Der ewige Geist, der Er- bauer dieser Welt, hat diesem Manne mehr vertraut, als jedem andern. Jch sage nicht, daß Goethe die höchste

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 47. Stuttgart/Tübingen, 23. November 1856, S. 1118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt47_1856/14>, abgerufen am 01.06.2024.