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Sonntags-Blatt. Nr. 8. Berlin, 23. Februar 1868.

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Sonntags=Blatt
für
Jedermann aus dem Volke.
Nr. 8. -- 1868.Ernst Dohm.Am 23. Februar.


Erscheint jeden Sonntag. Preis bei allen Postämtern vierteljährlich 9 Sgr., bei allen Buchhandlungen und Zeitungs=Spediteuren vierteljährlich 9 Sgr., wöchentlich 9 Pf. frei ins Haus.
Beim Selbstabholen aus der Expedition des Sonntags=Blattes ( Taubenstraße Nr. 27 ) kostet die Nummer nur 6 Pf.



Posthuma.
Eine friesische Novelle
von
Wilhelm Jensen.
( Fortsetzung. )
[Beginn Spaltensatz]

Der Kopf einer starken, freundlichen Frau erschien jetzt auf der
Thürschwelle vor ihnen und rief: "Posthuma!" so daß die Kleine
sich hastig umwandte. Die Gerufene flog auf sie zu, und die
Frau hob sie mit ihren kräftigen Armen wie eine Puppe in
die Höhe.

"Was habt Jhr denn meiner Kleinen gethan," fragte sie mit
einer zarten Stimme, die man von ihrer robusten Figur nicht erwartet
hätte, "daß mein Püppchen weint?"

Das Mädchen hatte sich vertraulich dicht an die Brust geschmiegt,
zu der die Hände sie emporgehoben, und die Frau legte ihren derben
rothbackigen Kopf zärtlich an die feine rosige Kinderwange.

"Nichts, Mutter", erwiderte der Mann, der, vergnüglich die
Gruppe betrachtend, stehen geblieben war; "Paula weint, daß sie
wieder hinüber soll, und Paul will sie nicht fort lassen."

"Deine Mama wartet ja, mein Liebchen", sagte die Frau, mit
ihren großen Händen sanft die Thränen von den Wimpern der Klei-
nen abtrocknend, "und Du kommst bald wieder zu uns, Posthuma,
und suchst Muscheln mit Paul."

Die Vorsicht, mit der sie das Mädchen zu Boden setzte, und die
liebreichen Küsse, mit denen sie zum Abschied Stirn und Wangen
desselben bedeckte, verriethen, daß die Kleine ihrem Herzen näher als
nur eine entfernte vornehme Verwandte stehen mußte. Die Frau Paul
Steens, des Eigenthümers der Hallig, war eine Base der Baronin
von Torwisch; aber sie war mehr als eine Tante der kleinen Posthuma,
sie war vom ersten Tag, da die Erbin des alten Amtmanns-
geschlechtes die Welt begrüßte, ihre Amme gewesen, und Paul war
zugleich der Vetter und der Milchbruder der kleinen Freiherrin. Sie
betrachtete diese, deren Gesundheit im Beginn zart und schwankend
gewesen, und die deßhalb jeden Sommer wochenlang in der stärkenden
Sommerluft zubrachte, auch fast als ihr eigenes Kind. Nur hatte
sie sich nicht daran gewöhnt, wie die Anderen, die Kleine "Paula" zu
nennen, wie es auch für die älteste Tochter in den von Paul Steen
abstammenden Familien herkömmlich war. Die Erinnerung an das
freiherrliche Schloß und die mürrischen Ahnengesichter war ihr lebendig
geblieben und verknüpfte sich ihr mit dem Namen Posthuma, bei
dessen Klang sie eine heimliche Empfindung hatte, daß er doch eine
andere Bedeutung und Zukunft besitze, als die Paula's aus der
großen Familie, die hier und da auf den Jnseln zerstreut den Namen
Steen trugen.

Sie blickte nun lächelnd den Kindern nach, die jetzt versöhnt Hand
in Hand neben dem Vater zum Landungsplatz hinunter gingen, wo
das schwere Segelboot, das bei Ebbe in einer Strandvertiefung lag,
bereits auf hoch anrauschenden Wellen schaukelte. Hinter ihnen
schlug, vom moosigen Dachfirst verhallend, fern und ferner die Drossel,
die schwarze verzauberte Prinzessin; die Sonne stand schon tief am
Horizont, und über die Wasser kam kühle Abendluft.



Das Mädchen bewegte sich unruhig im Traum auf dem Bette.
Die kühle Nachtluft strich durch das geöffnete Fenster über sie hin
[Spaltenumbruch] und durchfröstelte ihr die leicht bekleideten Schultern und Arme, von
denen sie die Decke zurückgestreift hatte.

"Mich friert, Paul", murmelte sie zusammenschauernd im Schlaf.
Dann streckte sie die Hand aus, als ob sie Etwas in Empfang neh-
men wollte, und ergriff die niedergesunkene Decke, die sie lächelnd
sorgsam bis an ihren Hals empor zog. "Nun bin ich warm genug,
Paul", sagte sie vergnügt; "die Sonne scheint ja so schön", murmelte
sie nach einer kleinen Pause, in der sie den Kopf auf dem gestickten
Kissen umgewendet hatte. Dann lag sie regungslos und athmete nur
in tiefem Schlaf gleichmäßig weiter.

Es waren Minuten gewesen, aber für sie waren es Jahre. Sie
stand wieder an dem einsamen Jnselstrand, doch fast doppelt so groß,
als damals, da sie Muscheln dort gesucht hatte. Auch Paul war
neben ihr, wie damals, nur ebenfalls viel größer, schon mit einer
Seemannsjacke bekleidet und mit einem blanken Wachstaffethut auf
dem langen blonden Haar. Es war Sommernachmittagsstille, kein See-
vogel kreischte über ihnen; unabsehbar um die Jnsel her lag die graue,
von der Hitze fast ausgedörrte Sandfläche. Das Ufer des Fest-
landes verschwand in blauem Duft, doch die andern kleinen Eilande
umher schienen näher zu liegen als sonst. Es mochte eine Spie-
gelung der Luft sein, die sie deutlicher erkennen ließ, aber man unter-
schied bestimmt auch die kleineren Gegenstände auf ihnen. Ja, es
war, als sähe man Menschen und Thiere sich auf dem grünen
Sommerüberzug bewegen.

"Das ist der Vetter Claus", sagte Paul auf einmal, indem er
die Hand auf Posthuma's Schulter legte und ihren Kopf nach der
Richtung wandte, wohin er geblickt. "Glaubst Du nicht auch,
Paula?"

Das Mädchen heftete die Augen auf den verlangten Gegenstand.
Es war eine kleine Jnsel, ungefähr wie die, auf welcher die Kinder sich
befanden. Sie mochte die nächste von den zerstreut umherliegenden
sein; in der Mitte stand ebenfalls ein mäßig großes Gebäude, von
dem man eine dünne blaue Rauchsäule kerzengrade gegen den Himmel
aufsteigen sah. Jn einem Fenster des Hauses, das wahrscheinlich, wie
es häufig in der Gegend bei Bauernhäusern war, eine Buckelscheibe
besaß, spiegelte sich die Sonne und blitzte gerade auf den Fleck herüber,
auf dem Paul und Posthuma standen. Es war wie eine aus gol-
denen Fäden gewebte Strahlenbrücke, die sich für Elfen oder sonstige
Wesen von gewichtlosem Körper von einer Jnsel zur andern aus-
gespannt.

Das Mädchen betrachtete aufmerksam den dunklen Punkt, der sich
auf dem grünen Teppich jener Jnsel unterscheidbar fortbewegte.

"Nein, Paul", sagte sie lachend, "es ist eine Kuh."

Der Knabe machte eine verneinende Geberde, die ein wenig ge-
kränkten Stolz durchschimmern ließ, denn, wie alle Seebewohner, that
er sich auf seine Fernsichtigkeit etwas zu gut.

"Es mag Claus nicht sein", erwiderte er, "aber ein Mensch ist
es jedenfalls."

"Jedenfalls ist es die schwarze Bleßkuh der Muhme Steen",
entgegnete Pusthuma unbeirrt. "Ein Mensch wäre viel zu klein, als
daß man ihn erkennen könnte."

"Aber ich kann es", sagte Paul eifrig, "ganz deutlich."

[Ende Spaltensatz]
Sonntags=Blatt
für
Jedermann aus dem Volke.
Nr. 8. — 1868.Ernst Dohm.Am 23. Februar.


Erscheint jeden Sonntag. Preis bei allen Postämtern vierteljährlich 9 Sgr., bei allen Buchhandlungen und Zeitungs=Spediteuren vierteljährlich 9 Sgr., wöchentlich 9 Pf. frei ins Haus.
Beim Selbstabholen aus der Expedition des Sonntags=Blattes ( Taubenstraße Nr. 27 ) kostet die Nummer nur 6 Pf.



Posthuma.
Eine friesische Novelle
von
Wilhelm Jensen.
( Fortsetzung. )
[Beginn Spaltensatz]

Der Kopf einer starken, freundlichen Frau erschien jetzt auf der
Thürschwelle vor ihnen und rief: „Posthuma!“ so daß die Kleine
sich hastig umwandte. Die Gerufene flog auf sie zu, und die
Frau hob sie mit ihren kräftigen Armen wie eine Puppe in
die Höhe.

„Was habt Jhr denn meiner Kleinen gethan,“ fragte sie mit
einer zarten Stimme, die man von ihrer robusten Figur nicht erwartet
hätte, „daß mein Püppchen weint?“

Das Mädchen hatte sich vertraulich dicht an die Brust geschmiegt,
zu der die Hände sie emporgehoben, und die Frau legte ihren derben
rothbackigen Kopf zärtlich an die feine rosige Kinderwange.

„Nichts, Mutter“, erwiderte der Mann, der, vergnüglich die
Gruppe betrachtend, stehen geblieben war; „Paula weint, daß sie
wieder hinüber soll, und Paul will sie nicht fort lassen.“

„Deine Mama wartet ja, mein Liebchen“, sagte die Frau, mit
ihren großen Händen sanft die Thränen von den Wimpern der Klei-
nen abtrocknend, „und Du kommst bald wieder zu uns, Posthuma,
und suchst Muscheln mit Paul.“

Die Vorsicht, mit der sie das Mädchen zu Boden setzte, und die
liebreichen Küsse, mit denen sie zum Abschied Stirn und Wangen
desselben bedeckte, verriethen, daß die Kleine ihrem Herzen näher als
nur eine entfernte vornehme Verwandte stehen mußte. Die Frau Paul
Steens, des Eigenthümers der Hallig, war eine Base der Baronin
von Torwisch; aber sie war mehr als eine Tante der kleinen Posthuma,
sie war vom ersten Tag, da die Erbin des alten Amtmanns-
geschlechtes die Welt begrüßte, ihre Amme gewesen, und Paul war
zugleich der Vetter und der Milchbruder der kleinen Freiherrin. Sie
betrachtete diese, deren Gesundheit im Beginn zart und schwankend
gewesen, und die deßhalb jeden Sommer wochenlang in der stärkenden
Sommerluft zubrachte, auch fast als ihr eigenes Kind. Nur hatte
sie sich nicht daran gewöhnt, wie die Anderen, die Kleine „Paula“ zu
nennen, wie es auch für die älteste Tochter in den von Paul Steen
abstammenden Familien herkömmlich war. Die Erinnerung an das
freiherrliche Schloß und die mürrischen Ahnengesichter war ihr lebendig
geblieben und verknüpfte sich ihr mit dem Namen Posthuma, bei
dessen Klang sie eine heimliche Empfindung hatte, daß er doch eine
andere Bedeutung und Zukunft besitze, als die Paula's aus der
großen Familie, die hier und da auf den Jnseln zerstreut den Namen
Steen trugen.

Sie blickte nun lächelnd den Kindern nach, die jetzt versöhnt Hand
in Hand neben dem Vater zum Landungsplatz hinunter gingen, wo
das schwere Segelboot, das bei Ebbe in einer Strandvertiefung lag,
bereits auf hoch anrauschenden Wellen schaukelte. Hinter ihnen
schlug, vom moosigen Dachfirst verhallend, fern und ferner die Drossel,
die schwarze verzauberte Prinzessin; die Sonne stand schon tief am
Horizont, und über die Wasser kam kühle Abendluft.



Das Mädchen bewegte sich unruhig im Traum auf dem Bette.
Die kühle Nachtluft strich durch das geöffnete Fenster über sie hin
[Spaltenumbruch] und durchfröstelte ihr die leicht bekleideten Schultern und Arme, von
denen sie die Decke zurückgestreift hatte.

„Mich friert, Paul“, murmelte sie zusammenschauernd im Schlaf.
Dann streckte sie die Hand aus, als ob sie Etwas in Empfang neh-
men wollte, und ergriff die niedergesunkene Decke, die sie lächelnd
sorgsam bis an ihren Hals empor zog. „Nun bin ich warm genug,
Paul“, sagte sie vergnügt; „die Sonne scheint ja so schön“, murmelte
sie nach einer kleinen Pause, in der sie den Kopf auf dem gestickten
Kissen umgewendet hatte. Dann lag sie regungslos und athmete nur
in tiefem Schlaf gleichmäßig weiter.

Es waren Minuten gewesen, aber für sie waren es Jahre. Sie
stand wieder an dem einsamen Jnselstrand, doch fast doppelt so groß,
als damals, da sie Muscheln dort gesucht hatte. Auch Paul war
neben ihr, wie damals, nur ebenfalls viel größer, schon mit einer
Seemannsjacke bekleidet und mit einem blanken Wachstaffethut auf
dem langen blonden Haar. Es war Sommernachmittagsstille, kein See-
vogel kreischte über ihnen; unabsehbar um die Jnsel her lag die graue,
von der Hitze fast ausgedörrte Sandfläche. Das Ufer des Fest-
landes verschwand in blauem Duft, doch die andern kleinen Eilande
umher schienen näher zu liegen als sonst. Es mochte eine Spie-
gelung der Luft sein, die sie deutlicher erkennen ließ, aber man unter-
schied bestimmt auch die kleineren Gegenstände auf ihnen. Ja, es
war, als sähe man Menschen und Thiere sich auf dem grünen
Sommerüberzug bewegen.

„Das ist der Vetter Claus“, sagte Paul auf einmal, indem er
die Hand auf Posthuma's Schulter legte und ihren Kopf nach der
Richtung wandte, wohin er geblickt. „Glaubst Du nicht auch,
Paula?“

Das Mädchen heftete die Augen auf den verlangten Gegenstand.
Es war eine kleine Jnsel, ungefähr wie die, auf welcher die Kinder sich
befanden. Sie mochte die nächste von den zerstreut umherliegenden
sein; in der Mitte stand ebenfalls ein mäßig großes Gebäude, von
dem man eine dünne blaue Rauchsäule kerzengrade gegen den Himmel
aufsteigen sah. Jn einem Fenster des Hauses, das wahrscheinlich, wie
es häufig in der Gegend bei Bauernhäusern war, eine Buckelscheibe
besaß, spiegelte sich die Sonne und blitzte gerade auf den Fleck herüber,
auf dem Paul und Posthuma standen. Es war wie eine aus gol-
denen Fäden gewebte Strahlenbrücke, die sich für Elfen oder sonstige
Wesen von gewichtlosem Körper von einer Jnsel zur andern aus-
gespannt.

Das Mädchen betrachtete aufmerksam den dunklen Punkt, der sich
auf dem grünen Teppich jener Jnsel unterscheidbar fortbewegte.

„Nein, Paul“, sagte sie lachend, „es ist eine Kuh.“

Der Knabe machte eine verneinende Geberde, die ein wenig ge-
kränkten Stolz durchschimmern ließ, denn, wie alle Seebewohner, that
er sich auf seine Fernsichtigkeit etwas zu gut.

„Es mag Claus nicht sein“, erwiderte er, „aber ein Mensch ist
es jedenfalls.“

„Jedenfalls ist es die schwarze Bleßkuh der Muhme Steen“,
entgegnete Pusthuma unbeirrt. „Ein Mensch wäre viel zu klein, als
daß man ihn erkennen könnte.“

„Aber ich kann es“, sagte Paul eifrig, „ganz deutlich.“

[Ende Spaltensatz]
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Die Erinnerung an das freiherrliche Schloß und die mürrischen Ahnengesichter war ihr lebendig geblieben und verknüpfte sich ihr mit dem Namen Posthuma, bei dessen Klang sie eine heimliche Empfindung hatte, daß er doch eine andere Bedeutung und Zukunft besitze, als die Paula's aus der großen Familie, die hier und da auf den Jnseln zerstreut den Namen Steen trugen. Sie blickte nun lächelnd den Kindern nach, die jetzt versöhnt Hand in Hand neben dem Vater zum Landungsplatz hinunter gingen, wo das schwere Segelboot, das bei Ebbe in einer Strandvertiefung lag, bereits auf hoch anrauschenden Wellen schaukelte. Hinter ihnen schlug, vom moosigen Dachfirst verhallend, fern und ferner die Drossel, die schwarze verzauberte Prinzessin; die Sonne stand schon tief am Horizont, und über die Wasser kam kühle Abendluft. Das Mädchen bewegte sich unruhig im Traum auf dem Bette. Die kühle Nachtluft strich durch das geöffnete Fenster über sie hin und durchfröstelte ihr die leicht bekleideten Schultern und Arme, von denen sie die Decke zurückgestreift hatte. „Mich friert, Paul“, murmelte sie zusammenschauernd im Schlaf. Dann streckte sie die Hand aus, als ob sie Etwas in Empfang neh- men wollte, und ergriff die niedergesunkene Decke, die sie lächelnd sorgsam bis an ihren Hals empor zog. „Nun bin ich warm genug, Paul“, sagte sie vergnügt; „die Sonne scheint ja so schön“, murmelte sie nach einer kleinen Pause, in der sie den Kopf auf dem gestickten Kissen umgewendet hatte. Dann lag sie regungslos und athmete nur in tiefem Schlaf gleichmäßig weiter. Es waren Minuten gewesen, aber für sie waren es Jahre. Sie stand wieder an dem einsamen Jnselstrand, doch fast doppelt so groß, als damals, da sie Muscheln dort gesucht hatte. Auch Paul war neben ihr, wie damals, nur ebenfalls viel größer, schon mit einer Seemannsjacke bekleidet und mit einem blanken Wachstaffethut auf dem langen blonden Haar. Es war Sommernachmittagsstille, kein See- vogel kreischte über ihnen; unabsehbar um die Jnsel her lag die graue, von der Hitze fast ausgedörrte Sandfläche. Das Ufer des Fest- landes verschwand in blauem Duft, doch die andern kleinen Eilande umher schienen näher zu liegen als sonst. Es mochte eine Spie- gelung der Luft sein, die sie deutlicher erkennen ließ, aber man unter- schied bestimmt auch die kleineren Gegenstände auf ihnen. Ja, es war, als sähe man Menschen und Thiere sich auf dem grünen Sommerüberzug bewegen. „Das ist der Vetter Claus“, sagte Paul auf einmal, indem er die Hand auf Posthuma's Schulter legte und ihren Kopf nach der Richtung wandte, wohin er geblickt. „Glaubst Du nicht auch, Paula?“ Das Mädchen heftete die Augen auf den verlangten Gegenstand. Es war eine kleine Jnsel, ungefähr wie die, auf welcher die Kinder sich befanden. Sie mochte die nächste von den zerstreut umherliegenden sein; in der Mitte stand ebenfalls ein mäßig großes Gebäude, von dem man eine dünne blaue Rauchsäule kerzengrade gegen den Himmel aufsteigen sah. Jn einem Fenster des Hauses, das wahrscheinlich, wie es häufig in der Gegend bei Bauernhäusern war, eine Buckelscheibe besaß, spiegelte sich die Sonne und blitzte gerade auf den Fleck herüber, auf dem Paul und Posthuma standen. Es war wie eine aus gol- denen Fäden gewebte Strahlenbrücke, die sich für Elfen oder sonstige Wesen von gewichtlosem Körper von einer Jnsel zur andern aus- gespannt. Das Mädchen betrachtete aufmerksam den dunklen Punkt, der sich auf dem grünen Teppich jener Jnsel unterscheidbar fortbewegte. „Nein, Paul“, sagte sie lachend, „es ist eine Kuh.“ Der Knabe machte eine verneinende Geberde, die ein wenig ge- kränkten Stolz durchschimmern ließ, denn, wie alle Seebewohner, that er sich auf seine Fernsichtigkeit etwas zu gut. „Es mag Claus nicht sein“, erwiderte er, „aber ein Mensch ist es jedenfalls.“ „Jedenfalls ist es die schwarze Bleßkuh der Muhme Steen“, entgegnete Pusthuma unbeirrt. „Ein Mensch wäre viel zu klein, als daß man ihn erkennen könnte.“ „Aber ich kann es“, sagte Paul eifrig, „ganz deutlich.“

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 8. Berlin, 23. Februar 1868, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt08_1868/1>, abgerufen am 17.05.2024.