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Sonntags-Blatt. Nr. 8. Berlin, 23. Februar 1868.

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[Beginn Spaltensatz]

"Es giebt gar keine solchen Augen", unterbrach ihn das Mädchen
hartnäckig. Der Knabe schwieg beleidigt und wandte sich ab. Das
war nicht ihre Absicht; sie trat auf ihn zu und faßte seine Hand.
"Was hast Du, Paul?" fragte sie.

Dem Knaben stand eine Thräne in den blauen Augen, als er zu
ihr aufblickte.

"Jch weiß wohl, daß Du mehr lernst und viel klüger bist als
ich, Paula", antwortete er stockend, "aber Augen hab' ich doch so
gut und besser als Du, und weiß, was ich damit sehe."

Das Mädchen machte ein bekümmertes Gesicht.

"Sei mir nicht böse, Paul", bat sie, ihm schmeichelnd mit der
Hand über die Wangen streichend; "ich habe ja Niemand lieber, als
Dich, und wollte Dir doch gewiß nicht wehe thun." Sie sah ihn
einen Augenblick nachdenklich an. "Es ist wahr, Paul", setzte sie
dann mit ernsthafter Miene hinzu, "ich will Mama sagen, Du
müßtest auch das lernen, was ich lerne."

Die Augen des Knaben leuchteten auf.

"Ja, Paula, das thue!" rief er heftig. "Dann kann die Mutter
nicht mehr sagen, es würde bald aus mit uns sein und wir würden
nicht mehr zusammen passen."

Posthuma blickte ihn vergnügt an.

"Nein, gewiß nicht", sagte sie, seine Hände fassend. "Aber eine
Kuh bleibt es doch, Paul", setzte sie schelmisch hinzu.

Das Gesicht des Knaben strahlte noch vor Freude. Es war ein
Glanz darüber gebreitet, als ob plötzlich eine Reihe von Schatten,
die sich mehr und mehr verdichtend darauf gelagert, mit einem Schlage
zerrissen worden. Er ließ die Hände des Mädchens los und schlang
seine Arme ungestüm um ihren Nacken zusammen.

"Ja, Alles lernen, was Du lernst; dann bleiben wir immer gleich
und immer beisammen", stotterte er.

Das schöne Mädchen nickte ihm freudig ins Gesicht, doch zugleich
suchte sie sich unwillkürlich von ihm los zu machen. Sie wußte nicht,
weßhalb, aber er las es in ihren kaum handbreit von den seinen ent-
fernten Augen, daß er ihr zu heftig gewesen. Er zog seine Arme
zurück und sagte lachend, den Ton ihrer Stimme nachahmend:

"Aber Vetter Claus ist es doch, Paula!" Nun lachte sie auch
fröhlich auf. Doch er hatte schon wieder ihre Hand gefaßt und sagte:
"Weißt Du was, Paula? Wir wollen hinüber gehen und sehen,
wer Recht hat."

Sie sah ihn fragend an.

"Es geht ja keine Rinne dorthin", meinte sie.

"Wir gehen", antwortete er schnell; "es ist ganz trocken, und
wenn es irgendwo feucht wird, trage ich Dich."

Das Mädchen blickte träumerisch nach dem sonnenbeglänzten Ziel
der besprochenen Reise hinüber.

"Jch möchte wohl", sagte sie, "aber wenn die Flut kommt, Paul?"

Paul hob die Augen zur Sonne.

"Es kann nicht mehr als drei Uhr sein", erwiderte er, "und die
Flut kommt nicht vor sechs."

"Und wie lange gehen wir, Paul? Bist Du schon hinüber
gegangen?"

"Nein", versetzte er; "aber das sieht man ja; eine halbe Stunde
höchstens, und wir brauchen ja auch nicht ganz hinüber zu gehen.
Komm, Paula."

Das Mädchen nahm ihr kurzes Kleidchen achtsam zusammen, und
sie gingen Hand in Hand über den feinen Sand dahin. Ab und zu
stand Posthuma, die noch nie so weit auf die Watte gekommen war,
still und betrachtete neugierig die Reste, welche die Flut bei ihrem
Zurücktreten hinterlassen. Kleine silberschuppige Fische, die zappelnd
auf dem Rücken lagen, und Schalthiere aller Art, mühselig über den
trocknen Boden fortkrabbelnd.

"So geht's", sagte Paul ernst, "wenn man aus dem Wasser ge-
räth! Mir würde auch so sein, wenn ich drüben aufs trockne Land
hinüber müßte."

Das Mädchen nickte mit dem Kopf.

"Mir ist's auch oft so", antwortete sie. Dann bückte sie sich
wieder und zog eine halb im Schlamm vergrabene breite Muschel-
schale aus dem Boden, deren Jnnenseite im Sonnenlicht perlmutter-
haft glänzte.

"Die habe ich noch nie gefunden", sagte sie.

Paul nahm die Muschel in die Hand.

"Sie kommen auch nicht bis ans Land", erwiderte er; es ist
schade, daß keine Perlen darin sind, sonst machte ich Dir ein Halsband
daraus."

"Giebt's denn auch Perlen hier, Paul?" fragte Posthuma. "Jch
dachte, nur in Afrika oder Jndien."

"Jch glaube doch, manchmal", versetzte der Knabe unschlüssig.
"Warum sollte es hier keine geben? Das Meer ist hier so gut wie
dort", fügte er entschiedener hinzu, "man muß sie nur finden."

"Jch bin ein Sonntagskind", sagte Posthuma lächelnd, "vielleicht
glückt es mir."

[Spaltenumbruch]

Sie gingen suchend vorwärts; hin und wieder trafen sie eine
Muschel, aber es war keine Perle darin, obgleich sie jede genau unter-
suchten. Sie vergaßen in ihrem Eifer ganz die Absicht, weßhalb sie
ausgegangen, und liefen kreuz und quer. Endlich sah das Mädchen
einmal auf. Die Jnsel, die sie erreichen wollten, lag mit ihren Ge-
genständen noch ebenso klein und unerkennbar vor ihnen; es schien
kaum, als ob sie nur einen Schritt näher gekommen. Nun blickte
Posthuma sich verwundernd um und schaute nach der Stelle, von wo
sie ausgegangen. Sie suchte mit den Augen rund herum.

"Wo ist denn unsere Jnsel, Paul?" fragte sie betroffen.

Der Knabe blickte ebenfalls zurück.

"Die da", entgegnete er, die Hand nach einem kleinen grünen
Eiland streckend, das schon fast ebenso weit wie die andere Jnsel
hinter ihnen zu liegen schien.

Seine Begleiterin folgte scheu der Richtung, nach welcher er deutete:

"Wir sind ja erst eben fortgegangen", sagte sie zweifelnd, "und
die ist ja fast so weit, wie das Festland!"

Sie waren an eine kleine schmale Rinne gelangt, die sich, mit
Wasser gefüllt, durch den Sand hinzog. Paul war stehen geblieben
und betrachtete die Fische, die darin lustig hin und her schnellten.

"Wir können doch nicht weiter; laß uns zurück gehen, Paul", bat
das Mädchen.

"Wie Du furchtsam bist, Paula", erwiderte er; "es ist ja nichts
dabei". Er hob die Widerstrebende auf den Arm, nahm einen kurzen
Anlauf und sprang leicht mit ihr hinüber. "Jetzt haben wir ebenen
Weg", sagte er, sie niedersetzend, und sie gingen weiter. Nur das
Mädchen blickte sich ab und zu unruhig nach der immer kleiner wer-
denden Heimatinsel um.

"Es ist doch viel weiter, als Du dachtest, Paul", sagte sie
schüchtern.

"Wir sind ja hin und her gegangen; zurück kommen wir leicht",
meinte er. "Wir sind jetzt ja auch gleich dort."

Die ersehnte Jnsel lag nun in der That nicht mehr weit vor
ihnen, so daß man die Fenster des Gebäudes, ja selbst kleine Gegen-
stände vor derselben deutlich zu unterscheiden vermochte. Sie lag wie
ausgestorben und nichts regte sich auf ihr; die Bewohner mußten
anderswo beschäftigt sein. Die Kinder überblickten den ganzen Raum;
auch der dunkle Punkt, der vorher den Streit zwischen ihnen und
ihren Weg veranlaßt hatte, war verschwunden. Nur die Sonne über-
goß das grüne Eiland mit einsam goldigem Schimmer.

"Die Jnsel sieht aus, wie die Jnsel aus dem Märchen, das
Deine Mutter uns erzählte, auf der gar keine Menschen, sondern nur
Nixen und Meerfrauen lebten, Paula", flüsterte Paul geheimnißvoll.
"Jch glaube, es war auch weder ein Mensch, noch eine Kuh, was
wir sahen, sondern solch ein Gespenst, das die Vorüberfahrenden an-
lockt, heranzukommen."

Das Mädchen starrte ihn mit ängstlichen Augen an.

"Ach, laß uns rasch gehen, Paul", unterbrach sie ihn.

Er drückte lachend die Hand, welche die seine gefaßt hatte.

"Du wirst Dich doch nicht fürchten, wenn Du bei mir bist?"
antwortete er keck.

"Nein", sagte sie zögernd; "aber ich wollte, wir wären schon
zurück. Deine Aeltern wissen auch gar nicht, wo wir sind", fügte sie
begründend bei.

"Da sieht man doch, daß Du eine Baronin bist", scherzte er;
"wenn Du wirklich meine Schwester wärst, so wärst Du nicht so
furchtsam."

Das Mädchen hörte es kaum, wenigstens erwiderte sie nichts
darauf, sondern ging eilig den Weg zurück. Sie machten größere
Schritte als vorher, man sah es an den kleinen Spuren, welche ihre
Füße in dem weißen Sand hinterlassen hatten: sie überholten jetzt fast
um den dritten Theil ihre frühere Entfernung. Sie schritten nun
gegen die Sonne auf, die ihnen gerade ins Gesicht blitzte und ihre
schon ziemlich verlängerten Schatten hinter sie zurück warf. Posthuma
ging unbekümmert an den Muscheln vorüber, die vor ihr am Boden
aus dem Schlamm aufglänzten. Von Zeit zu Zeit nur warf sie
einen Blick voraus; dann setzte sie ihren Weg beschleunigt fort.

Sie hatten die Rinne wieder erreicht, über die Paul sie auf dem
Heimweg geschwungen. Er nahm sie, wie damals, auf den Arm und
sprang mit ihr hinüber; doch der Sprung war etwas zu kurz, und
auf der andern Seite spritzte das Wasser unter seinen Füßen auf.
Er war nicht in die Vertiefung selbst gerathen, in der er keinen
Grund gefunden hätte; das Wasser, in das er hineingesprungen, war
kaum einen halben Zoll hoch und überschwemmte nur vielleicht auf
Fußbreite von der Rinne den festen Sandboden.

"Du bist naß geworden", sagte Posthuma, als er sie niedergleiten
ließ; "mich dünkt, die Rinne ist breiter, als vorhin."

"Es ist nur das Wasser, das über ihren Rand getreten ist",
antwortete Paul.

Sie blickte ihn ängstlich an.

"Thut es das nicht eben vorher, wann die Flut kommt?" fragte sie.

[Ende Spaltensatz]
[Beginn Spaltensatz]

„Es giebt gar keine solchen Augen“, unterbrach ihn das Mädchen
hartnäckig. Der Knabe schwieg beleidigt und wandte sich ab. Das
war nicht ihre Absicht; sie trat auf ihn zu und faßte seine Hand.
„Was hast Du, Paul?“ fragte sie.

Dem Knaben stand eine Thräne in den blauen Augen, als er zu
ihr aufblickte.

„Jch weiß wohl, daß Du mehr lernst und viel klüger bist als
ich, Paula“, antwortete er stockend, „aber Augen hab' ich doch so
gut und besser als Du, und weiß, was ich damit sehe.“

Das Mädchen machte ein bekümmertes Gesicht.

„Sei mir nicht böse, Paul“, bat sie, ihm schmeichelnd mit der
Hand über die Wangen streichend; „ich habe ja Niemand lieber, als
Dich, und wollte Dir doch gewiß nicht wehe thun.“ Sie sah ihn
einen Augenblick nachdenklich an. „Es ist wahr, Paul“, setzte sie
dann mit ernsthafter Miene hinzu, „ich will Mama sagen, Du
müßtest auch das lernen, was ich lerne.“

Die Augen des Knaben leuchteten auf.

„Ja, Paula, das thue!“ rief er heftig. „Dann kann die Mutter
nicht mehr sagen, es würde bald aus mit uns sein und wir würden
nicht mehr zusammen passen.“

Posthuma blickte ihn vergnügt an.

„Nein, gewiß nicht“, sagte sie, seine Hände fassend. „Aber eine
Kuh bleibt es doch, Paul“, setzte sie schelmisch hinzu.

Das Gesicht des Knaben strahlte noch vor Freude. Es war ein
Glanz darüber gebreitet, als ob plötzlich eine Reihe von Schatten,
die sich mehr und mehr verdichtend darauf gelagert, mit einem Schlage
zerrissen worden. Er ließ die Hände des Mädchens los und schlang
seine Arme ungestüm um ihren Nacken zusammen.

„Ja, Alles lernen, was Du lernst; dann bleiben wir immer gleich
und immer beisammen“, stotterte er.

Das schöne Mädchen nickte ihm freudig ins Gesicht, doch zugleich
suchte sie sich unwillkürlich von ihm los zu machen. Sie wußte nicht,
weßhalb, aber er las es in ihren kaum handbreit von den seinen ent-
fernten Augen, daß er ihr zu heftig gewesen. Er zog seine Arme
zurück und sagte lachend, den Ton ihrer Stimme nachahmend:

„Aber Vetter Claus ist es doch, Paula!“ Nun lachte sie auch
fröhlich auf. Doch er hatte schon wieder ihre Hand gefaßt und sagte:
„Weißt Du was, Paula? Wir wollen hinüber gehen und sehen,
wer Recht hat.“

Sie sah ihn fragend an.

„Es geht ja keine Rinne dorthin“, meinte sie.

„Wir gehen“, antwortete er schnell; „es ist ganz trocken, und
wenn es irgendwo feucht wird, trage ich Dich.“

Das Mädchen blickte träumerisch nach dem sonnenbeglänzten Ziel
der besprochenen Reise hinüber.

„Jch möchte wohl“, sagte sie, „aber wenn die Flut kommt, Paul?“

Paul hob die Augen zur Sonne.

„Es kann nicht mehr als drei Uhr sein“, erwiderte er, „und die
Flut kommt nicht vor sechs.“

„Und wie lange gehen wir, Paul? Bist Du schon hinüber
gegangen?“

„Nein“, versetzte er; „aber das sieht man ja; eine halbe Stunde
höchstens, und wir brauchen ja auch nicht ganz hinüber zu gehen.
Komm, Paula.“

Das Mädchen nahm ihr kurzes Kleidchen achtsam zusammen, und
sie gingen Hand in Hand über den feinen Sand dahin. Ab und zu
stand Posthuma, die noch nie so weit auf die Watte gekommen war,
still und betrachtete neugierig die Reste, welche die Flut bei ihrem
Zurücktreten hinterlassen. Kleine silberschuppige Fische, die zappelnd
auf dem Rücken lagen, und Schalthiere aller Art, mühselig über den
trocknen Boden fortkrabbelnd.

„So geht's“, sagte Paul ernst, „wenn man aus dem Wasser ge-
räth! Mir würde auch so sein, wenn ich drüben aufs trockne Land
hinüber müßte.“

Das Mädchen nickte mit dem Kopf.

„Mir ist's auch oft so“, antwortete sie. Dann bückte sie sich
wieder und zog eine halb im Schlamm vergrabene breite Muschel-
schale aus dem Boden, deren Jnnenseite im Sonnenlicht perlmutter-
haft glänzte.

„Die habe ich noch nie gefunden“, sagte sie.

Paul nahm die Muschel in die Hand.

„Sie kommen auch nicht bis ans Land“, erwiderte er; es ist
schade, daß keine Perlen darin sind, sonst machte ich Dir ein Halsband
daraus.“

„Giebt's denn auch Perlen hier, Paul?“ fragte Posthuma. „Jch
dachte, nur in Afrika oder Jndien.“

„Jch glaube doch, manchmal“, versetzte der Knabe unschlüssig.
„Warum sollte es hier keine geben? Das Meer ist hier so gut wie
dort“, fügte er entschiedener hinzu, „man muß sie nur finden.“

„Jch bin ein Sonntagskind“, sagte Posthuma lächelnd, „vielleicht
glückt es mir.“

[Spaltenumbruch]

Sie gingen suchend vorwärts; hin und wieder trafen sie eine
Muschel, aber es war keine Perle darin, obgleich sie jede genau unter-
suchten. Sie vergaßen in ihrem Eifer ganz die Absicht, weßhalb sie
ausgegangen, und liefen kreuz und quer. Endlich sah das Mädchen
einmal auf. Die Jnsel, die sie erreichen wollten, lag mit ihren Ge-
genständen noch ebenso klein und unerkennbar vor ihnen; es schien
kaum, als ob sie nur einen Schritt näher gekommen. Nun blickte
Posthuma sich verwundernd um und schaute nach der Stelle, von wo
sie ausgegangen. Sie suchte mit den Augen rund herum.

„Wo ist denn unsere Jnsel, Paul?“ fragte sie betroffen.

Der Knabe blickte ebenfalls zurück.

„Die da“, entgegnete er, die Hand nach einem kleinen grünen
Eiland streckend, das schon fast ebenso weit wie die andere Jnsel
hinter ihnen zu liegen schien.

Seine Begleiterin folgte scheu der Richtung, nach welcher er deutete:

„Wir sind ja erst eben fortgegangen“, sagte sie zweifelnd, „und
die ist ja fast so weit, wie das Festland!“

Sie waren an eine kleine schmale Rinne gelangt, die sich, mit
Wasser gefüllt, durch den Sand hinzog. Paul war stehen geblieben
und betrachtete die Fische, die darin lustig hin und her schnellten.

„Wir können doch nicht weiter; laß uns zurück gehen, Paul“, bat
das Mädchen.

„Wie Du furchtsam bist, Paula“, erwiderte er; „es ist ja nichts
dabei“. Er hob die Widerstrebende auf den Arm, nahm einen kurzen
Anlauf und sprang leicht mit ihr hinüber. „Jetzt haben wir ebenen
Weg“, sagte er, sie niedersetzend, und sie gingen weiter. Nur das
Mädchen blickte sich ab und zu unruhig nach der immer kleiner wer-
denden Heimatinsel um.

„Es ist doch viel weiter, als Du dachtest, Paul“, sagte sie
schüchtern.

„Wir sind ja hin und her gegangen; zurück kommen wir leicht“,
meinte er. „Wir sind jetzt ja auch gleich dort.“

Die ersehnte Jnsel lag nun in der That nicht mehr weit vor
ihnen, so daß man die Fenster des Gebäudes, ja selbst kleine Gegen-
stände vor derselben deutlich zu unterscheiden vermochte. Sie lag wie
ausgestorben und nichts regte sich auf ihr; die Bewohner mußten
anderswo beschäftigt sein. Die Kinder überblickten den ganzen Raum;
auch der dunkle Punkt, der vorher den Streit zwischen ihnen und
ihren Weg veranlaßt hatte, war verschwunden. Nur die Sonne über-
goß das grüne Eiland mit einsam goldigem Schimmer.

„Die Jnsel sieht aus, wie die Jnsel aus dem Märchen, das
Deine Mutter uns erzählte, auf der gar keine Menschen, sondern nur
Nixen und Meerfrauen lebten, Paula“, flüsterte Paul geheimnißvoll.
„Jch glaube, es war auch weder ein Mensch, noch eine Kuh, was
wir sahen, sondern solch ein Gespenst, das die Vorüberfahrenden an-
lockt, heranzukommen.“

Das Mädchen starrte ihn mit ängstlichen Augen an.

„Ach, laß uns rasch gehen, Paul“, unterbrach sie ihn.

Er drückte lachend die Hand, welche die seine gefaßt hatte.

„Du wirst Dich doch nicht fürchten, wenn Du bei mir bist?“
antwortete er keck.

„Nein“, sagte sie zögernd; „aber ich wollte, wir wären schon
zurück. Deine Aeltern wissen auch gar nicht, wo wir sind“, fügte sie
begründend bei.

„Da sieht man doch, daß Du eine Baronin bist“, scherzte er;
„wenn Du wirklich meine Schwester wärst, so wärst Du nicht so
furchtsam.“

Das Mädchen hörte es kaum, wenigstens erwiderte sie nichts
darauf, sondern ging eilig den Weg zurück. Sie machten größere
Schritte als vorher, man sah es an den kleinen Spuren, welche ihre
Füße in dem weißen Sand hinterlassen hatten: sie überholten jetzt fast
um den dritten Theil ihre frühere Entfernung. Sie schritten nun
gegen die Sonne auf, die ihnen gerade ins Gesicht blitzte und ihre
schon ziemlich verlängerten Schatten hinter sie zurück warf. Posthuma
ging unbekümmert an den Muscheln vorüber, die vor ihr am Boden
aus dem Schlamm aufglänzten. Von Zeit zu Zeit nur warf sie
einen Blick voraus; dann setzte sie ihren Weg beschleunigt fort.

Sie hatten die Rinne wieder erreicht, über die Paul sie auf dem
Heimweg geschwungen. Er nahm sie, wie damals, auf den Arm und
sprang mit ihr hinüber; doch der Sprung war etwas zu kurz, und
auf der andern Seite spritzte das Wasser unter seinen Füßen auf.
Er war nicht in die Vertiefung selbst gerathen, in der er keinen
Grund gefunden hätte; das Wasser, in das er hineingesprungen, war
kaum einen halben Zoll hoch und überschwemmte nur vielleicht auf
Fußbreite von der Rinne den festen Sandboden.

„Du bist naß geworden“, sagte Posthuma, als er sie niedergleiten
ließ; „mich dünkt, die Rinne ist breiter, als vorhin.“

„Es ist nur das Wasser, das über ihren Rand getreten ist“,
antwortete Paul.

Sie blickte ihn ängstlich an.

„Thut es das nicht eben vorher, wann die Flut kommt?“ fragte sie.

[Ende Spaltensatz]
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[58/0002] 58 „Es giebt gar keine solchen Augen“, unterbrach ihn das Mädchen hartnäckig. Der Knabe schwieg beleidigt und wandte sich ab. Das war nicht ihre Absicht; sie trat auf ihn zu und faßte seine Hand. „Was hast Du, Paul?“ fragte sie. Dem Knaben stand eine Thräne in den blauen Augen, als er zu ihr aufblickte. „Jch weiß wohl, daß Du mehr lernst und viel klüger bist als ich, Paula“, antwortete er stockend, „aber Augen hab' ich doch so gut und besser als Du, und weiß, was ich damit sehe.“ Das Mädchen machte ein bekümmertes Gesicht. „Sei mir nicht böse, Paul“, bat sie, ihm schmeichelnd mit der Hand über die Wangen streichend; „ich habe ja Niemand lieber, als Dich, und wollte Dir doch gewiß nicht wehe thun.“ Sie sah ihn einen Augenblick nachdenklich an. „Es ist wahr, Paul“, setzte sie dann mit ernsthafter Miene hinzu, „ich will Mama sagen, Du müßtest auch das lernen, was ich lerne.“ Die Augen des Knaben leuchteten auf. „Ja, Paula, das thue!“ rief er heftig. „Dann kann die Mutter nicht mehr sagen, es würde bald aus mit uns sein und wir würden nicht mehr zusammen passen.“ Posthuma blickte ihn vergnügt an. „Nein, gewiß nicht“, sagte sie, seine Hände fassend. „Aber eine Kuh bleibt es doch, Paul“, setzte sie schelmisch hinzu. Das Gesicht des Knaben strahlte noch vor Freude. Es war ein Glanz darüber gebreitet, als ob plötzlich eine Reihe von Schatten, die sich mehr und mehr verdichtend darauf gelagert, mit einem Schlage zerrissen worden. Er ließ die Hände des Mädchens los und schlang seine Arme ungestüm um ihren Nacken zusammen. „Ja, Alles lernen, was Du lernst; dann bleiben wir immer gleich und immer beisammen“, stotterte er. Das schöne Mädchen nickte ihm freudig ins Gesicht, doch zugleich suchte sie sich unwillkürlich von ihm los zu machen. Sie wußte nicht, weßhalb, aber er las es in ihren kaum handbreit von den seinen ent- fernten Augen, daß er ihr zu heftig gewesen. Er zog seine Arme zurück und sagte lachend, den Ton ihrer Stimme nachahmend: „Aber Vetter Claus ist es doch, Paula!“ Nun lachte sie auch fröhlich auf. Doch er hatte schon wieder ihre Hand gefaßt und sagte: „Weißt Du was, Paula? Wir wollen hinüber gehen und sehen, wer Recht hat.“ Sie sah ihn fragend an. „Es geht ja keine Rinne dorthin“, meinte sie. „Wir gehen“, antwortete er schnell; „es ist ganz trocken, und wenn es irgendwo feucht wird, trage ich Dich.“ Das Mädchen blickte träumerisch nach dem sonnenbeglänzten Ziel der besprochenen Reise hinüber. „Jch möchte wohl“, sagte sie, „aber wenn die Flut kommt, Paul?“ Paul hob die Augen zur Sonne. „Es kann nicht mehr als drei Uhr sein“, erwiderte er, „und die Flut kommt nicht vor sechs.“ „Und wie lange gehen wir, Paul? Bist Du schon hinüber gegangen?“ „Nein“, versetzte er; „aber das sieht man ja; eine halbe Stunde höchstens, und wir brauchen ja auch nicht ganz hinüber zu gehen. Komm, Paula.“ Das Mädchen nahm ihr kurzes Kleidchen achtsam zusammen, und sie gingen Hand in Hand über den feinen Sand dahin. Ab und zu stand Posthuma, die noch nie so weit auf die Watte gekommen war, still und betrachtete neugierig die Reste, welche die Flut bei ihrem Zurücktreten hinterlassen. Kleine silberschuppige Fische, die zappelnd auf dem Rücken lagen, und Schalthiere aller Art, mühselig über den trocknen Boden fortkrabbelnd. „So geht's“, sagte Paul ernst, „wenn man aus dem Wasser ge- räth! Mir würde auch so sein, wenn ich drüben aufs trockne Land hinüber müßte.“ Das Mädchen nickte mit dem Kopf. „Mir ist's auch oft so“, antwortete sie. Dann bückte sie sich wieder und zog eine halb im Schlamm vergrabene breite Muschel- schale aus dem Boden, deren Jnnenseite im Sonnenlicht perlmutter- haft glänzte. „Die habe ich noch nie gefunden“, sagte sie. Paul nahm die Muschel in die Hand. „Sie kommen auch nicht bis ans Land“, erwiderte er; es ist schade, daß keine Perlen darin sind, sonst machte ich Dir ein Halsband daraus.“ „Giebt's denn auch Perlen hier, Paul?“ fragte Posthuma. „Jch dachte, nur in Afrika oder Jndien.“ „Jch glaube doch, manchmal“, versetzte der Knabe unschlüssig. „Warum sollte es hier keine geben? Das Meer ist hier so gut wie dort“, fügte er entschiedener hinzu, „man muß sie nur finden.“ „Jch bin ein Sonntagskind“, sagte Posthuma lächelnd, „vielleicht glückt es mir.“ Sie gingen suchend vorwärts; hin und wieder trafen sie eine Muschel, aber es war keine Perle darin, obgleich sie jede genau unter- suchten. Sie vergaßen in ihrem Eifer ganz die Absicht, weßhalb sie ausgegangen, und liefen kreuz und quer. Endlich sah das Mädchen einmal auf. Die Jnsel, die sie erreichen wollten, lag mit ihren Ge- genständen noch ebenso klein und unerkennbar vor ihnen; es schien kaum, als ob sie nur einen Schritt näher gekommen. Nun blickte Posthuma sich verwundernd um und schaute nach der Stelle, von wo sie ausgegangen. Sie suchte mit den Augen rund herum. „Wo ist denn unsere Jnsel, Paul?“ fragte sie betroffen. Der Knabe blickte ebenfalls zurück. „Die da“, entgegnete er, die Hand nach einem kleinen grünen Eiland streckend, das schon fast ebenso weit wie die andere Jnsel hinter ihnen zu liegen schien. Seine Begleiterin folgte scheu der Richtung, nach welcher er deutete: „Wir sind ja erst eben fortgegangen“, sagte sie zweifelnd, „und die ist ja fast so weit, wie das Festland!“ Sie waren an eine kleine schmale Rinne gelangt, die sich, mit Wasser gefüllt, durch den Sand hinzog. Paul war stehen geblieben und betrachtete die Fische, die darin lustig hin und her schnellten. „Wir können doch nicht weiter; laß uns zurück gehen, Paul“, bat das Mädchen. „Wie Du furchtsam bist, Paula“, erwiderte er; „es ist ja nichts dabei“. Er hob die Widerstrebende auf den Arm, nahm einen kurzen Anlauf und sprang leicht mit ihr hinüber. „Jetzt haben wir ebenen Weg“, sagte er, sie niedersetzend, und sie gingen weiter. Nur das Mädchen blickte sich ab und zu unruhig nach der immer kleiner wer- denden Heimatinsel um. „Es ist doch viel weiter, als Du dachtest, Paul“, sagte sie schüchtern. „Wir sind ja hin und her gegangen; zurück kommen wir leicht“, meinte er. „Wir sind jetzt ja auch gleich dort.“ Die ersehnte Jnsel lag nun in der That nicht mehr weit vor ihnen, so daß man die Fenster des Gebäudes, ja selbst kleine Gegen- stände vor derselben deutlich zu unterscheiden vermochte. Sie lag wie ausgestorben und nichts regte sich auf ihr; die Bewohner mußten anderswo beschäftigt sein. Die Kinder überblickten den ganzen Raum; auch der dunkle Punkt, der vorher den Streit zwischen ihnen und ihren Weg veranlaßt hatte, war verschwunden. Nur die Sonne über- goß das grüne Eiland mit einsam goldigem Schimmer. „Die Jnsel sieht aus, wie die Jnsel aus dem Märchen, das Deine Mutter uns erzählte, auf der gar keine Menschen, sondern nur Nixen und Meerfrauen lebten, Paula“, flüsterte Paul geheimnißvoll. „Jch glaube, es war auch weder ein Mensch, noch eine Kuh, was wir sahen, sondern solch ein Gespenst, das die Vorüberfahrenden an- lockt, heranzukommen.“ Das Mädchen starrte ihn mit ängstlichen Augen an. „Ach, laß uns rasch gehen, Paul“, unterbrach sie ihn. Er drückte lachend die Hand, welche die seine gefaßt hatte. „Du wirst Dich doch nicht fürchten, wenn Du bei mir bist?“ antwortete er keck. „Nein“, sagte sie zögernd; „aber ich wollte, wir wären schon zurück. Deine Aeltern wissen auch gar nicht, wo wir sind“, fügte sie begründend bei. „Da sieht man doch, daß Du eine Baronin bist“, scherzte er; „wenn Du wirklich meine Schwester wärst, so wärst Du nicht so furchtsam.“ Das Mädchen hörte es kaum, wenigstens erwiderte sie nichts darauf, sondern ging eilig den Weg zurück. Sie machten größere Schritte als vorher, man sah es an den kleinen Spuren, welche ihre Füße in dem weißen Sand hinterlassen hatten: sie überholten jetzt fast um den dritten Theil ihre frühere Entfernung. Sie schritten nun gegen die Sonne auf, die ihnen gerade ins Gesicht blitzte und ihre schon ziemlich verlängerten Schatten hinter sie zurück warf. Posthuma ging unbekümmert an den Muscheln vorüber, die vor ihr am Boden aus dem Schlamm aufglänzten. Von Zeit zu Zeit nur warf sie einen Blick voraus; dann setzte sie ihren Weg beschleunigt fort. Sie hatten die Rinne wieder erreicht, über die Paul sie auf dem Heimweg geschwungen. Er nahm sie, wie damals, auf den Arm und sprang mit ihr hinüber; doch der Sprung war etwas zu kurz, und auf der andern Seite spritzte das Wasser unter seinen Füßen auf. Er war nicht in die Vertiefung selbst gerathen, in der er keinen Grund gefunden hätte; das Wasser, in das er hineingesprungen, war kaum einen halben Zoll hoch und überschwemmte nur vielleicht auf Fußbreite von der Rinne den festen Sandboden. „Du bist naß geworden“, sagte Posthuma, als er sie niedergleiten ließ; „mich dünkt, die Rinne ist breiter, als vorhin.“ „Es ist nur das Wasser, das über ihren Rand getreten ist“, antwortete Paul. Sie blickte ihn ängstlich an. „Thut es das nicht eben vorher, wann die Flut kommt?“ fragte sie.

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Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 8. Berlin, 23. Februar 1868, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt08_1868/2>, abgerufen am 14.06.2024.