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Sonntags-Blatt. Nr. 8. Berlin, 23. Februar 1868.

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[Beginn Spaltensatz] nördlichen Gesellschaft, und dieser suchte hauptsächlich durch geistige Pro-
paganda Proselyten für den Bund zu werden, während Pestel durch ein
entschiedenes gewaltsames Handeln zum Ziel gelangen wollte. Als Mittel,
auf die öffentliche Stimmung einzuwirken, wußte man Freiheitslieder
und den sogenannten "Katechismus des freien Mannes" zu verbreiten, und
der Oberst=Lieutenant Michael Lunin hatte zum Zweck der Vervielfältigung
dieser Schriften im Geheimen eine lithographische Presse eingerichtet. So
standen die Dinge, als in Petersburg die Nachricht von dem plötzlich am
1. Dezember 1825 zu Taganrog in der Krim erfolgten Tode des Kaisers
Alexander anlangte. Obgleich der sofort zusammentretende Reichstag in
dem ihm von dem verstorbenen Czaren nach seinem Dahinscheiden zur Er-
öffnung übergebenen Paket die Thronentsagung Constantins vorfand,
weigerte sich der nunmehr zur Erbfolge unzweifelhaft berechtigte Großfürst
Nicolaus doch beharrlich, den Thron einzunehmen, bevor nicht Con-
stantin nochmals auch gegen ihn selbst den Entschluß seiner Verzichtleistung
auf die Kaiserkrone ausgesprochen habe. Er selbst leistete seinem Bruder den
Eid der Treue und nöthigte den Reichsrath und den Senat, ein Gleiches
zu thun. Als dies geschehen war, sammelte man am 9. Dezemher die
Garde=Regimenter auf dem Platz vor dem Winterpalast, führte die ein-
zelnen Kompagnien in die Kapelle und ließ sie ebenfalls dem neuen Kaiser
Constantin schwören. Nicolaus hat sich offenbar durch ein solches Ver-
fahren zum Mitschuldigen, wenn nicht zum Urheber des bald darauf folgenden
Blutbades gemacht; denn als die Soldaten später aufgefordert wurden, ihm
selbst
den Eid der Treue zu leisten, wurden sie natürlich irre, und es
gelang hierdurch den Führern der Verschwörung, dieselben unter dem Vor-
geben, daß man sie zu einem Meineide verleiten wollte, zum offenen
Widerstand zu bewegen. Uebrigens langte der Großfürst Michael bereits am
13. Dezember mit Depeschen von Warschau an, wo sich Constantin als
Statthalter von Polen aufhielt, in welchen dessen unerschütterlicher Wille,
der Regierung zu entsagen, in den bestimmtesten Ausdrücken wiederholt
wurde. Aber auch von den bisher unentdeckt gebliebenen geheimen Ver-
bindungen wurde um diese Zeit der Schleier gelüftet, und Nicolaus blieb
jetzt nichts Anderes übrig, als durch ein entschlossenes Handeln sein
unbegreifliches Zögern wieder gut zu machen. Er verlangte jetzt für sich
und seinen nächsten Erben den bisher von ihm abgelehnten Eid, obgleich
man wußte, daß die Lage der Dinge eine sehr kritische war. Es waren
bestimmte Nachrichten über das Komplot im Süden eingelaufen, und
General Diebitsch sandte aus eigener Machtvollkommenheit den General-
Adjutanten Tschernischeff mit dem schwierigen Auftrage nach Kiew, die
Seele der dortigen Verschwörung, den Oberst Pestel, zu verhaften. Gleich-
zeitig benachrichtete den Kaiser ein Brief des Unter=Lieutenants Rostoftsof,
der selbst mit zu den Verschworenen gehörte, daß auch in Petersburg eine
Rebellion auf dem Punkte stände, zum Ausbruch zu kommen, und daß seit
zwei Tagen die Garden von den Theilnehmern des Komplots für ihre
Zwecke auf das Eifrigste bearbeitet würden. Unter diesen Umständen war
Eile und Energie gleich empfehlenswerth. Nachdem die Bewachung des
Winterpalastes, in welchem sich die Mitglieder der kaiserlichen Familie
versammelt hatten, dem Regiment Finnland an Stelle des Grenadier-
Korps, dem man mißtraute, anvertraut worden war, schickte man sich an,
die Eidesleistung der Truppen in den Kasernen vorzunehmen. Jnzwischen
waren die Verschworenen ebenfalls nicht unthätig geblieben. Sie kannten
den Verrath Rostoftsofs, sie wußten, daß ihre Pläne entdeckt waren, aber
sie erklärten: "Unsere Säbel sind nun einmal aus den Scheiden, und wir
können sie nicht wieder einstecken". Zugleich wurde zur Wahl eines
Diktators geschritten und diese Rolle dem Fürsten Sergius Trubetzkoi
übertragen. Man rechnete vorzugsweise auf das Marine=Korps, auf das
Grenadier=Korps, auf das Regiment Moskau und auf die Jsmailoff'sche
Garde, hielt sich aber auch außerdem, der erhaltenen Zusage gemäß, der
Mitwirkung mehrerer ausgezeichneter Generale versichert. Als Zeit des
Aufstandes setzte man den Tag fest, wo Nicolaus die Eidesleistung fordern
würde, und während dieser Zeit sollten die Soldaten noch nach Möglich-
keit bearbeitet werden.

( Fortsetzung folgt. )



Zu Esel und zu Fuß.
( Schluß. )

Da lag es tief, tief unter uns, und schien doch wiederum zum Himmel
empor zu schwellen am Horizont, das blaue, das unendliche Meer; da
lagen die Jnseln, die Küsten, die Wälder, das Häusermeer in der Ferne,
die Rebenhügel, die Buchten, die zackigen Berge und wie Millionen Pfauen-
federn das seligste Abendlicht drüber her. Wohin sich wenden, was da
anschauen zuerst? Jch hielt mich wie ein Trunkener an einem Pfeiler, schloß
die Augen, öffnete sie wieder, schloß sie von Neuem, und bei jedem Auf-
schlag hätte ich wieder aufschreien mögen vor schrankenlosem Entzücken.
Das, hier vor meinen Augen, das ist's, ja, das Meer, welches Odysseus
durchfurchte! Dort links oben, wo sich die Wasser golden und blau herein-
drängen zwischen den in Purpur getauchten Felsspitzen von Capri und der
aus rosigem Dampf leuchtenden Punta della Campanella, ja, dort sangen
vor Jahrtausenden die Sirenen aus der noch heut bezaubernden Flut.
Die Berge dort rechts, die sich so düster abheben in der Ferne gegen den
glühenden Himmel, das sind die Felsen, von denen Franz II. vor wenigen
Jahren seinen Kanonendonner vergeblich schleuderte gegen die allmächtige
Woge der neuen Zeit. Nicht ein Berg, nicht ein Eiland, nicht ein Winkel
des Meeres, der nicht mitten in all' der gegenwärtigen Pracht laut erzählte
von etwas Schönem, Großem, Erschütterndem, ewig Unvergeßlichem, das
einst hier geschah. Der finstere Wald hier im Vordergrund, hunderte von
Fuß gerade unter uns, weit hingegossen über Berg und Schlucht und um
blitzende, schwefeldampfende Seen -- ihn hat einst Aeneas durchirrt, der tro-
[Spaltenumbruch] janische Flüchtling, frag' nur den Sänger darum, der dort schläft im lang-
gestreckten, rebenumflossenen Posilip, oder den Lago d'Averno dort drüben,
den giftumhauchten, an dessen Seite der Held lebend einstieg in das Reich
des Entsetzens. Die goldenen Schalen, die wie mit Smaragden und
Millionen Blumen berghoch beladen dort unten schwimmen im Meerblau,
das sind die Campanischen Jnseln, die vielgepriesenen, das ist Jschia, der
paradiesische Garten, Procida, stolz auf seinen Johann, Nisita, die einst
Brutus, den Cäsarmörder, verbarg nach seiner in den Sternen verzeichneten
That. Und dort -- schau hin doch, schau -- herwärts von jenem Dampfer,
der, eine Meerente nur scheint er, eben dieselben Wogen durchwühlt, die
einst Roms Flotte peitschte, wenn sie stolz aus dem Hafen lief dort hinter
dem Cap von Misene, ja dort, dort, wo sich noch heut das Meer so buh-
lerisch einwühlt in das umschlingende Land, der Golf von Bajä ist das,
von Bajä dem liebeseligen, dem rosenbekränzten, wo einst Jung und Alt
hinsank in bacchantischem Taumel -- siehst Du Puzzuoli nicht schim-
mern an seiner Seite -- von da schlug Caligula, der Wahnsinnige, die
Brücke über ihn, und die Trümmer dort weiter an seiner Küste, das sind
Mauern, welche die Orgien des Nero geschaut und des Pompejus' Gelage,
sie haben die Schwüre des Cäsar, Antonius und Lepidus vernommen und
das Todesröcheln der Agrippina, der verruchten Mutter ihres noch ver-
ruchteren Mörders. Und nun links da -- wer hat ein Herz und bliebe
trocknen Auges bei dem Anblick? -- in ungeheurem, bis in den Nebel
hinaus geschweiftem, mit seiner Pracht nicht enden wollendem Bogen, von
der Jnsel Nisita da herab, am langen Bergrücken des Posilipo und
am villenbeladenen Vomero entlang, vorüber an der prangenden, hoch sich
aufthürmenden Stadt -- die da liegt, als habe sich eine meilenlange Woge
empor gebäumt gegen das Castell von San Elmo und sei, in tausende
von Schaumflocken zerstiebt, hangen geblieben am Ufer und Bergrand mit
all' ihren Muscheln und Perlen -- an der ununterbrochenen, aber immer
mehr sich verjüngenden, immer mehr im Goldduft verschwimmenden Häuser-
guirlande von Portici Torre del Greco, Annunziata, im äustersten Winkel
Castellamare dahin, dann wieder aufwärts an Meta mit seinen Oliven=,
an Sorrent mit seinen Orangenwäldern vorüber, bis sie zu der äußersten,
tief in den Dampf der Ferne getauchten Spitze, welche einst mit ihrem
Glöcklein die Schönen des Landes zu warnen hatte vor dem nahenden
Sarazen, der ganze, von unzähligen Segeln jetzt friedlich umflatterte,
aber in allen Jahrhunderten unter Römern und Normannen, unter Hohen-
staufen, Spaniern und Bourbonen so oft vom wüthendsten Donner der
Herrschsucht wiederhallende Golf von Neapel. Und hoch aufragend über
ihm, als ob Gott eine feurige Denksäule damit habe aufrichten [unleserliches Material - 6 Zeichen fehlen]wollen an
den Moment, wo ihm dieses Eden gelungen, der riesengroße, der furchtbar-
schöne Mörder des armen Pompeji da an seinem Fuß, der weit in den
Abendhimmel hinein seine glühende Rauchfahne schwingende majestätische
Vesuv.

Wohl eine Viertelstunde lang starrte ich hin, bald nach rechts, bald
nach links; bald geradeaus, dann aber, sehend, daß die Farben auf dem
Punkt standen, zu verbleichen, sprang ich mit einem Satze zurück in das
Dickicht, so den Vorhang ebenso plötzlich wieder herabreißend, als er sich
plötzlich vor mir erhoben, aber den ganzen vollen Eindruck dieser Zauber-
pracht mit mir hinwegnehmend, den Eindruck, von dem ich wünsche, daß
er einst vor meiner Seele gaukeln möge, wenn sich der letzte Athem aus
meiner Brust ringt.

Jch hatte nicht Lust, nach diesem berauschenden Trunk aus dem gott-
erfüllten Becher der Natur die Höhlen der Unnatur, des Unsinns und der
Verschrobenheit, wenn nicht noch schlimmerer Dinge, zu durchkriechen; auch
war ja die Nacht schon im Anzug, und so begannen wir, ohne daß ich
dem Klostergebäude selbst einen Besuch abgestattet, aber nicht ohne einigen
Kampf mit Tonino, der uns mit einer lebendigen Barrikade von Esel-
fleisch den Weg zu verlegen trachtete, zu Fuß den Rückweg.

Die Wanderung, jetzt bergab, durch den von unzähligen Leuchtkäfern
durchfunkelten Wald dahin, war angenehm genug. Der Gedanke an jene
spitzhutigen Waldteufel mit ihrer sonderbaren Liebhaberei für die knorpeligen
Theile ihrer Mitmenschen, fuhr mir allerdings manchmal durch den Sinn,
wenn es hinter einem alten Baume raschelte; aber wir kamen unangefochten
und mit unseren sämmtlichen Ohren noch versehen, den getrost sein Liedchen
pfeifenden Tonino immer dicht hinter uns, in der Stadt wieder an.

Gleich die ersten Leute, welche uns hier begegneten, mußten Tonino
gefragt haben, warum wir denn nicht ritten, wenigstens schlossen sie sich
sofort und offenbar in gespannter Erwartung der Dinge, die da kommen
würden, unserem Nachtrab an. Zu diesen Ersten gesellten sich Andere,
und bald hatten wir Jung und Alt, Männer und Weiber, Krumm und
Lahm, Hunderte von Maulaffen, die Alle zusammen gewiß nicht einen ein-
zigen Kamm besaßen, hinter uns. Der Zug schwoll Schritt für Schritt
an wie eine Lawine. Sich die Gespenster um einen einheimischen Todten
prügeln sehen, das ist weiter nichts; aber dabei sein, wo einem lebendigen
Fremden das Fell über die Ohren gezogen wird, das ist freilich von Be-
deutung. Nun hätte ich wohl allerdings durch ein Nebengäßchen entweichen
und unser Gefolge um den ganzen Spaß bringen können; aber die Hälfte
der ausgemachten Summe wollte ich dem Banditen in der Toledostraße
ja doch bezahlen, und dann freute ich mich auch selbst ein wenig auf den
Spektakel, der sich dort unten erheben würde.

Jn der Nähe des Hauses wieder angekommen, schoß Tonino plötzlich wie ein
Pfeil an uns vorüber, um den noch ruhig in seiner Höhle schlummernden
Drachen, seinen Padrone, zu wecken. Tobend, brüllend, gewiß feuerspeiend,
wenn er es nur vermocht hätte, kam denn auch nach wenigen Sekunden das
Ungeheuer gegen uns daher, schrie uns mit toddrohender Geberde ein Halt zu
und verlangte, weil ich seinen besten Esel zu Falle gebracht, nicht weniger
als 20 Frcs. Schadenersatz. Die Menschenmasse, jetzt die ganze Straße sperrend,
drängte sich dicht im Kreise um uns her, als ob wir jener brennenden Mäuse ein
Paar wären, ergriff tumultuarisch die Partei des Feindes und nahm eine
so drohende Haltung an, daß meine Frau, während ich Uhr und Porte-
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] nördlichen Gesellschaft, und dieser suchte hauptsächlich durch geistige Pro-
paganda Proselyten für den Bund zu werden, während Pestel durch ein
entschiedenes gewaltsames Handeln zum Ziel gelangen wollte. Als Mittel,
auf die öffentliche Stimmung einzuwirken, wußte man Freiheitslieder
und den sogenannten „Katechismus des freien Mannes“ zu verbreiten, und
der Oberst=Lieutenant Michael Lunin hatte zum Zweck der Vervielfältigung
dieser Schriften im Geheimen eine lithographische Presse eingerichtet. So
standen die Dinge, als in Petersburg die Nachricht von dem plötzlich am
1. Dezember 1825 zu Taganrog in der Krim erfolgten Tode des Kaisers
Alexander anlangte. Obgleich der sofort zusammentretende Reichstag in
dem ihm von dem verstorbenen Czaren nach seinem Dahinscheiden zur Er-
öffnung übergebenen Paket die Thronentsagung Constantins vorfand,
weigerte sich der nunmehr zur Erbfolge unzweifelhaft berechtigte Großfürst
Nicolaus doch beharrlich, den Thron einzunehmen, bevor nicht Con-
stantin nochmals auch gegen ihn selbst den Entschluß seiner Verzichtleistung
auf die Kaiserkrone ausgesprochen habe. Er selbst leistete seinem Bruder den
Eid der Treue und nöthigte den Reichsrath und den Senat, ein Gleiches
zu thun. Als dies geschehen war, sammelte man am 9. Dezemher die
Garde=Regimenter auf dem Platz vor dem Winterpalast, führte die ein-
zelnen Kompagnien in die Kapelle und ließ sie ebenfalls dem neuen Kaiser
Constantin schwören. Nicolaus hat sich offenbar durch ein solches Ver-
fahren zum Mitschuldigen, wenn nicht zum Urheber des bald darauf folgenden
Blutbades gemacht; denn als die Soldaten später aufgefordert wurden, ihm
selbst
den Eid der Treue zu leisten, wurden sie natürlich irre, und es
gelang hierdurch den Führern der Verschwörung, dieselben unter dem Vor-
geben, daß man sie zu einem Meineide verleiten wollte, zum offenen
Widerstand zu bewegen. Uebrigens langte der Großfürst Michael bereits am
13. Dezember mit Depeschen von Warschau an, wo sich Constantin als
Statthalter von Polen aufhielt, in welchen dessen unerschütterlicher Wille,
der Regierung zu entsagen, in den bestimmtesten Ausdrücken wiederholt
wurde. Aber auch von den bisher unentdeckt gebliebenen geheimen Ver-
bindungen wurde um diese Zeit der Schleier gelüftet, und Nicolaus blieb
jetzt nichts Anderes übrig, als durch ein entschlossenes Handeln sein
unbegreifliches Zögern wieder gut zu machen. Er verlangte jetzt für sich
und seinen nächsten Erben den bisher von ihm abgelehnten Eid, obgleich
man wußte, daß die Lage der Dinge eine sehr kritische war. Es waren
bestimmte Nachrichten über das Komplot im Süden eingelaufen, und
General Diebitsch sandte aus eigener Machtvollkommenheit den General-
Adjutanten Tschernischeff mit dem schwierigen Auftrage nach Kiew, die
Seele der dortigen Verschwörung, den Oberst Pestel, zu verhaften. Gleich-
zeitig benachrichtete den Kaiser ein Brief des Unter=Lieutenants Rostoftsof,
der selbst mit zu den Verschworenen gehörte, daß auch in Petersburg eine
Rebellion auf dem Punkte stände, zum Ausbruch zu kommen, und daß seit
zwei Tagen die Garden von den Theilnehmern des Komplots für ihre
Zwecke auf das Eifrigste bearbeitet würden. Unter diesen Umständen war
Eile und Energie gleich empfehlenswerth. Nachdem die Bewachung des
Winterpalastes, in welchem sich die Mitglieder der kaiserlichen Familie
versammelt hatten, dem Regiment Finnland an Stelle des Grenadier-
Korps, dem man mißtraute, anvertraut worden war, schickte man sich an,
die Eidesleistung der Truppen in den Kasernen vorzunehmen. Jnzwischen
waren die Verschworenen ebenfalls nicht unthätig geblieben. Sie kannten
den Verrath Rostoftsofs, sie wußten, daß ihre Pläne entdeckt waren, aber
sie erklärten: „Unsere Säbel sind nun einmal aus den Scheiden, und wir
können sie nicht wieder einstecken“. Zugleich wurde zur Wahl eines
Diktators geschritten und diese Rolle dem Fürsten Sergius Trubetzkoi
übertragen. Man rechnete vorzugsweise auf das Marine=Korps, auf das
Grenadier=Korps, auf das Regiment Moskau und auf die Jsmailoff'sche
Garde, hielt sich aber auch außerdem, der erhaltenen Zusage gemäß, der
Mitwirkung mehrerer ausgezeichneter Generale versichert. Als Zeit des
Aufstandes setzte man den Tag fest, wo Nicolaus die Eidesleistung fordern
würde, und während dieser Zeit sollten die Soldaten noch nach Möglich-
keit bearbeitet werden.

( Fortsetzung folgt. )



Zu Esel und zu Fuß.
( Schluß. )

Da lag es tief, tief unter uns, und schien doch wiederum zum Himmel
empor zu schwellen am Horizont, das blaue, das unendliche Meer; da
lagen die Jnseln, die Küsten, die Wälder, das Häusermeer in der Ferne,
die Rebenhügel, die Buchten, die zackigen Berge und wie Millionen Pfauen-
federn das seligste Abendlicht drüber her. Wohin sich wenden, was da
anschauen zuerst? Jch hielt mich wie ein Trunkener an einem Pfeiler, schloß
die Augen, öffnete sie wieder, schloß sie von Neuem, und bei jedem Auf-
schlag hätte ich wieder aufschreien mögen vor schrankenlosem Entzücken.
Das, hier vor meinen Augen, das ist's, ja, das Meer, welches Odysseus
durchfurchte! Dort links oben, wo sich die Wasser golden und blau herein-
drängen zwischen den in Purpur getauchten Felsspitzen von Capri und der
aus rosigem Dampf leuchtenden Punta della Campanella, ja, dort sangen
vor Jahrtausenden die Sirenen aus der noch heut bezaubernden Flut.
Die Berge dort rechts, die sich so düster abheben in der Ferne gegen den
glühenden Himmel, das sind die Felsen, von denen Franz II. vor wenigen
Jahren seinen Kanonendonner vergeblich schleuderte gegen die allmächtige
Woge der neuen Zeit. Nicht ein Berg, nicht ein Eiland, nicht ein Winkel
des Meeres, der nicht mitten in all' der gegenwärtigen Pracht laut erzählte
von etwas Schönem, Großem, Erschütterndem, ewig Unvergeßlichem, das
einst hier geschah. Der finstere Wald hier im Vordergrund, hunderte von
Fuß gerade unter uns, weit hingegossen über Berg und Schlucht und um
blitzende, schwefeldampfende Seen — ihn hat einst Aeneas durchirrt, der tro-
[Spaltenumbruch] janische Flüchtling, frag' nur den Sänger darum, der dort schläft im lang-
gestreckten, rebenumflossenen Posilip, oder den Lago d'Averno dort drüben,
den giftumhauchten, an dessen Seite der Held lebend einstieg in das Reich
des Entsetzens. Die goldenen Schalen, die wie mit Smaragden und
Millionen Blumen berghoch beladen dort unten schwimmen im Meerblau,
das sind die Campanischen Jnseln, die vielgepriesenen, das ist Jschia, der
paradiesische Garten, Procida, stolz auf seinen Johann, Nisita, die einst
Brutus, den Cäsarmörder, verbarg nach seiner in den Sternen verzeichneten
That. Und dort — schau hin doch, schau — herwärts von jenem Dampfer,
der, eine Meerente nur scheint er, eben dieselben Wogen durchwühlt, die
einst Roms Flotte peitschte, wenn sie stolz aus dem Hafen lief dort hinter
dem Cap von Misene, ja dort, dort, wo sich noch heut das Meer so buh-
lerisch einwühlt in das umschlingende Land, der Golf von Bajä ist das,
von Bajä dem liebeseligen, dem rosenbekränzten, wo einst Jung und Alt
hinsank in bacchantischem Taumel — siehst Du Puzzuoli nicht schim-
mern an seiner Seite — von da schlug Caligula, der Wahnsinnige, die
Brücke über ihn, und die Trümmer dort weiter an seiner Küste, das sind
Mauern, welche die Orgien des Nero geschaut und des Pompejus' Gelage,
sie haben die Schwüre des Cäsar, Antonius und Lepidus vernommen und
das Todesröcheln der Agrippina, der verruchten Mutter ihres noch ver-
ruchteren Mörders. Und nun links da — wer hat ein Herz und bliebe
trocknen Auges bei dem Anblick? — in ungeheurem, bis in den Nebel
hinaus geschweiftem, mit seiner Pracht nicht enden wollendem Bogen, von
der Jnsel Nisita da herab, am langen Bergrücken des Posilipo und
am villenbeladenen Vomero entlang, vorüber an der prangenden, hoch sich
aufthürmenden Stadt — die da liegt, als habe sich eine meilenlange Woge
empor gebäumt gegen das Castell von San Elmo und sei, in tausende
von Schaumflocken zerstiebt, hangen geblieben am Ufer und Bergrand mit
all' ihren Muscheln und Perlen — an der ununterbrochenen, aber immer
mehr sich verjüngenden, immer mehr im Goldduft verschwimmenden Häuser-
guirlande von Portici Torre del Greco, Annunziata, im äustersten Winkel
Castellamare dahin, dann wieder aufwärts an Meta mit seinen Oliven=,
an Sorrent mit seinen Orangenwäldern vorüber, bis sie zu der äußersten,
tief in den Dampf der Ferne getauchten Spitze, welche einst mit ihrem
Glöcklein die Schönen des Landes zu warnen hatte vor dem nahenden
Sarazen, der ganze, von unzähligen Segeln jetzt friedlich umflatterte,
aber in allen Jahrhunderten unter Römern und Normannen, unter Hohen-
staufen, Spaniern und Bourbonen so oft vom wüthendsten Donner der
Herrschsucht wiederhallende Golf von Neapel. Und hoch aufragend über
ihm, als ob Gott eine feurige Denksäule damit habe aufrichten [unleserliches Material – 6 Zeichen fehlen]wollen an
den Moment, wo ihm dieses Eden gelungen, der riesengroße, der furchtbar-
schöne Mörder des armen Pompeji da an seinem Fuß, der weit in den
Abendhimmel hinein seine glühende Rauchfahne schwingende majestätische
Vesuv.

Wohl eine Viertelstunde lang starrte ich hin, bald nach rechts, bald
nach links; bald geradeaus, dann aber, sehend, daß die Farben auf dem
Punkt standen, zu verbleichen, sprang ich mit einem Satze zurück in das
Dickicht, so den Vorhang ebenso plötzlich wieder herabreißend, als er sich
plötzlich vor mir erhoben, aber den ganzen vollen Eindruck dieser Zauber-
pracht mit mir hinwegnehmend, den Eindruck, von dem ich wünsche, daß
er einst vor meiner Seele gaukeln möge, wenn sich der letzte Athem aus
meiner Brust ringt.

Jch hatte nicht Lust, nach diesem berauschenden Trunk aus dem gott-
erfüllten Becher der Natur die Höhlen der Unnatur, des Unsinns und der
Verschrobenheit, wenn nicht noch schlimmerer Dinge, zu durchkriechen; auch
war ja die Nacht schon im Anzug, und so begannen wir, ohne daß ich
dem Klostergebäude selbst einen Besuch abgestattet, aber nicht ohne einigen
Kampf mit Tonino, der uns mit einer lebendigen Barrikade von Esel-
fleisch den Weg zu verlegen trachtete, zu Fuß den Rückweg.

Die Wanderung, jetzt bergab, durch den von unzähligen Leuchtkäfern
durchfunkelten Wald dahin, war angenehm genug. Der Gedanke an jene
spitzhutigen Waldteufel mit ihrer sonderbaren Liebhaberei für die knorpeligen
Theile ihrer Mitmenschen, fuhr mir allerdings manchmal durch den Sinn,
wenn es hinter einem alten Baume raschelte; aber wir kamen unangefochten
und mit unseren sämmtlichen Ohren noch versehen, den getrost sein Liedchen
pfeifenden Tonino immer dicht hinter uns, in der Stadt wieder an.

Gleich die ersten Leute, welche uns hier begegneten, mußten Tonino
gefragt haben, warum wir denn nicht ritten, wenigstens schlossen sie sich
sofort und offenbar in gespannter Erwartung der Dinge, die da kommen
würden, unserem Nachtrab an. Zu diesen Ersten gesellten sich Andere,
und bald hatten wir Jung und Alt, Männer und Weiber, Krumm und
Lahm, Hunderte von Maulaffen, die Alle zusammen gewiß nicht einen ein-
zigen Kamm besaßen, hinter uns. Der Zug schwoll Schritt für Schritt
an wie eine Lawine. Sich die Gespenster um einen einheimischen Todten
prügeln sehen, das ist weiter nichts; aber dabei sein, wo einem lebendigen
Fremden das Fell über die Ohren gezogen wird, das ist freilich von Be-
deutung. Nun hätte ich wohl allerdings durch ein Nebengäßchen entweichen
und unser Gefolge um den ganzen Spaß bringen können; aber die Hälfte
der ausgemachten Summe wollte ich dem Banditen in der Toledostraße
ja doch bezahlen, und dann freute ich mich auch selbst ein wenig auf den
Spektakel, der sich dort unten erheben würde.

Jn der Nähe des Hauses wieder angekommen, schoß Tonino plötzlich wie ein
Pfeil an uns vorüber, um den noch ruhig in seiner Höhle schlummernden
Drachen, seinen Padrone, zu wecken. Tobend, brüllend, gewiß feuerspeiend,
wenn er es nur vermocht hätte, kam denn auch nach wenigen Sekunden das
Ungeheuer gegen uns daher, schrie uns mit toddrohender Geberde ein Halt zu
und verlangte, weil ich seinen besten Esel zu Falle gebracht, nicht weniger
als 20 Frcs. Schadenersatz. Die Menschenmasse, jetzt die ganze Straße sperrend,
drängte sich dicht im Kreise um uns her, als ob wir jener brennenden Mäuse ein
Paar wären, ergriff tumultuarisch die Partei des Feindes und nahm eine
so drohende Haltung an, daß meine Frau, während ich Uhr und Porte-
[Ende Spaltensatz]

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[61/0005] 61 nördlichen Gesellschaft, und dieser suchte hauptsächlich durch geistige Pro- paganda Proselyten für den Bund zu werden, während Pestel durch ein entschiedenes gewaltsames Handeln zum Ziel gelangen wollte. Als Mittel, auf die öffentliche Stimmung einzuwirken, wußte man Freiheitslieder und den sogenannten „Katechismus des freien Mannes“ zu verbreiten, und der Oberst=Lieutenant Michael Lunin hatte zum Zweck der Vervielfältigung dieser Schriften im Geheimen eine lithographische Presse eingerichtet. So standen die Dinge, als in Petersburg die Nachricht von dem plötzlich am 1. Dezember 1825 zu Taganrog in der Krim erfolgten Tode des Kaisers Alexander anlangte. Obgleich der sofort zusammentretende Reichstag in dem ihm von dem verstorbenen Czaren nach seinem Dahinscheiden zur Er- öffnung übergebenen Paket die Thronentsagung Constantins vorfand, weigerte sich der nunmehr zur Erbfolge unzweifelhaft berechtigte Großfürst Nicolaus doch beharrlich, den Thron einzunehmen, bevor nicht Con- stantin nochmals auch gegen ihn selbst den Entschluß seiner Verzichtleistung auf die Kaiserkrone ausgesprochen habe. Er selbst leistete seinem Bruder den Eid der Treue und nöthigte den Reichsrath und den Senat, ein Gleiches zu thun. Als dies geschehen war, sammelte man am 9. Dezemher die Garde=Regimenter auf dem Platz vor dem Winterpalast, führte die ein- zelnen Kompagnien in die Kapelle und ließ sie ebenfalls dem neuen Kaiser Constantin schwören. Nicolaus hat sich offenbar durch ein solches Ver- fahren zum Mitschuldigen, wenn nicht zum Urheber des bald darauf folgenden Blutbades gemacht; denn als die Soldaten später aufgefordert wurden, ihm selbst den Eid der Treue zu leisten, wurden sie natürlich irre, und es gelang hierdurch den Führern der Verschwörung, dieselben unter dem Vor- geben, daß man sie zu einem Meineide verleiten wollte, zum offenen Widerstand zu bewegen. Uebrigens langte der Großfürst Michael bereits am 13. Dezember mit Depeschen von Warschau an, wo sich Constantin als Statthalter von Polen aufhielt, in welchen dessen unerschütterlicher Wille, der Regierung zu entsagen, in den bestimmtesten Ausdrücken wiederholt wurde. Aber auch von den bisher unentdeckt gebliebenen geheimen Ver- bindungen wurde um diese Zeit der Schleier gelüftet, und Nicolaus blieb jetzt nichts Anderes übrig, als durch ein entschlossenes Handeln sein unbegreifliches Zögern wieder gut zu machen. Er verlangte jetzt für sich und seinen nächsten Erben den bisher von ihm abgelehnten Eid, obgleich man wußte, daß die Lage der Dinge eine sehr kritische war. Es waren bestimmte Nachrichten über das Komplot im Süden eingelaufen, und General Diebitsch sandte aus eigener Machtvollkommenheit den General- Adjutanten Tschernischeff mit dem schwierigen Auftrage nach Kiew, die Seele der dortigen Verschwörung, den Oberst Pestel, zu verhaften. Gleich- zeitig benachrichtete den Kaiser ein Brief des Unter=Lieutenants Rostoftsof, der selbst mit zu den Verschworenen gehörte, daß auch in Petersburg eine Rebellion auf dem Punkte stände, zum Ausbruch zu kommen, und daß seit zwei Tagen die Garden von den Theilnehmern des Komplots für ihre Zwecke auf das Eifrigste bearbeitet würden. Unter diesen Umständen war Eile und Energie gleich empfehlenswerth. Nachdem die Bewachung des Winterpalastes, in welchem sich die Mitglieder der kaiserlichen Familie versammelt hatten, dem Regiment Finnland an Stelle des Grenadier- Korps, dem man mißtraute, anvertraut worden war, schickte man sich an, die Eidesleistung der Truppen in den Kasernen vorzunehmen. Jnzwischen waren die Verschworenen ebenfalls nicht unthätig geblieben. Sie kannten den Verrath Rostoftsofs, sie wußten, daß ihre Pläne entdeckt waren, aber sie erklärten: „Unsere Säbel sind nun einmal aus den Scheiden, und wir können sie nicht wieder einstecken“. Zugleich wurde zur Wahl eines Diktators geschritten und diese Rolle dem Fürsten Sergius Trubetzkoi übertragen. Man rechnete vorzugsweise auf das Marine=Korps, auf das Grenadier=Korps, auf das Regiment Moskau und auf die Jsmailoff'sche Garde, hielt sich aber auch außerdem, der erhaltenen Zusage gemäß, der Mitwirkung mehrerer ausgezeichneter Generale versichert. Als Zeit des Aufstandes setzte man den Tag fest, wo Nicolaus die Eidesleistung fordern würde, und während dieser Zeit sollten die Soldaten noch nach Möglich- keit bearbeitet werden. ( Fortsetzung folgt. ) Zu Esel und zu Fuß. ( Schluß. ) Da lag es tief, tief unter uns, und schien doch wiederum zum Himmel empor zu schwellen am Horizont, das blaue, das unendliche Meer; da lagen die Jnseln, die Küsten, die Wälder, das Häusermeer in der Ferne, die Rebenhügel, die Buchten, die zackigen Berge und wie Millionen Pfauen- federn das seligste Abendlicht drüber her. Wohin sich wenden, was da anschauen zuerst? Jch hielt mich wie ein Trunkener an einem Pfeiler, schloß die Augen, öffnete sie wieder, schloß sie von Neuem, und bei jedem Auf- schlag hätte ich wieder aufschreien mögen vor schrankenlosem Entzücken. Das, hier vor meinen Augen, das ist's, ja, das Meer, welches Odysseus durchfurchte! Dort links oben, wo sich die Wasser golden und blau herein- drängen zwischen den in Purpur getauchten Felsspitzen von Capri und der aus rosigem Dampf leuchtenden Punta della Campanella, ja, dort sangen vor Jahrtausenden die Sirenen aus der noch heut bezaubernden Flut. Die Berge dort rechts, die sich so düster abheben in der Ferne gegen den glühenden Himmel, das sind die Felsen, von denen Franz II. vor wenigen Jahren seinen Kanonendonner vergeblich schleuderte gegen die allmächtige Woge der neuen Zeit. Nicht ein Berg, nicht ein Eiland, nicht ein Winkel des Meeres, der nicht mitten in all' der gegenwärtigen Pracht laut erzählte von etwas Schönem, Großem, Erschütterndem, ewig Unvergeßlichem, das einst hier geschah. Der finstere Wald hier im Vordergrund, hunderte von Fuß gerade unter uns, weit hingegossen über Berg und Schlucht und um blitzende, schwefeldampfende Seen — ihn hat einst Aeneas durchirrt, der tro- janische Flüchtling, frag' nur den Sänger darum, der dort schläft im lang- gestreckten, rebenumflossenen Posilip, oder den Lago d'Averno dort drüben, den giftumhauchten, an dessen Seite der Held lebend einstieg in das Reich des Entsetzens. Die goldenen Schalen, die wie mit Smaragden und Millionen Blumen berghoch beladen dort unten schwimmen im Meerblau, das sind die Campanischen Jnseln, die vielgepriesenen, das ist Jschia, der paradiesische Garten, Procida, stolz auf seinen Johann, Nisita, die einst Brutus, den Cäsarmörder, verbarg nach seiner in den Sternen verzeichneten That. Und dort — schau hin doch, schau — herwärts von jenem Dampfer, der, eine Meerente nur scheint er, eben dieselben Wogen durchwühlt, die einst Roms Flotte peitschte, wenn sie stolz aus dem Hafen lief dort hinter dem Cap von Misene, ja dort, dort, wo sich noch heut das Meer so buh- lerisch einwühlt in das umschlingende Land, der Golf von Bajä ist das, von Bajä dem liebeseligen, dem rosenbekränzten, wo einst Jung und Alt hinsank in bacchantischem Taumel — siehst Du Puzzuoli nicht schim- mern an seiner Seite — von da schlug Caligula, der Wahnsinnige, die Brücke über ihn, und die Trümmer dort weiter an seiner Küste, das sind Mauern, welche die Orgien des Nero geschaut und des Pompejus' Gelage, sie haben die Schwüre des Cäsar, Antonius und Lepidus vernommen und das Todesröcheln der Agrippina, der verruchten Mutter ihres noch ver- ruchteren Mörders. Und nun links da — wer hat ein Herz und bliebe trocknen Auges bei dem Anblick? — in ungeheurem, bis in den Nebel hinaus geschweiftem, mit seiner Pracht nicht enden wollendem Bogen, von der Jnsel Nisita da herab, am langen Bergrücken des Posilipo und am villenbeladenen Vomero entlang, vorüber an der prangenden, hoch sich aufthürmenden Stadt — die da liegt, als habe sich eine meilenlange Woge empor gebäumt gegen das Castell von San Elmo und sei, in tausende von Schaumflocken zerstiebt, hangen geblieben am Ufer und Bergrand mit all' ihren Muscheln und Perlen — an der ununterbrochenen, aber immer mehr sich verjüngenden, immer mehr im Goldduft verschwimmenden Häuser- guirlande von Portici Torre del Greco, Annunziata, im äustersten Winkel Castellamare dahin, dann wieder aufwärts an Meta mit seinen Oliven=, an Sorrent mit seinen Orangenwäldern vorüber, bis sie zu der äußersten, tief in den Dampf der Ferne getauchten Spitze, welche einst mit ihrem Glöcklein die Schönen des Landes zu warnen hatte vor dem nahenden Sarazen, der ganze, von unzähligen Segeln jetzt friedlich umflatterte, aber in allen Jahrhunderten unter Römern und Normannen, unter Hohen- staufen, Spaniern und Bourbonen so oft vom wüthendsten Donner der Herrschsucht wiederhallende Golf von Neapel. Und hoch aufragend über ihm, als ob Gott eine feurige Denksäule damit habe aufrichten ______wollen an den Moment, wo ihm dieses Eden gelungen, der riesengroße, der furchtbar- schöne Mörder des armen Pompeji da an seinem Fuß, der weit in den Abendhimmel hinein seine glühende Rauchfahne schwingende majestätische Vesuv. Wohl eine Viertelstunde lang starrte ich hin, bald nach rechts, bald nach links; bald geradeaus, dann aber, sehend, daß die Farben auf dem Punkt standen, zu verbleichen, sprang ich mit einem Satze zurück in das Dickicht, so den Vorhang ebenso plötzlich wieder herabreißend, als er sich plötzlich vor mir erhoben, aber den ganzen vollen Eindruck dieser Zauber- pracht mit mir hinwegnehmend, den Eindruck, von dem ich wünsche, daß er einst vor meiner Seele gaukeln möge, wenn sich der letzte Athem aus meiner Brust ringt. Jch hatte nicht Lust, nach diesem berauschenden Trunk aus dem gott- erfüllten Becher der Natur die Höhlen der Unnatur, des Unsinns und der Verschrobenheit, wenn nicht noch schlimmerer Dinge, zu durchkriechen; auch war ja die Nacht schon im Anzug, und so begannen wir, ohne daß ich dem Klostergebäude selbst einen Besuch abgestattet, aber nicht ohne einigen Kampf mit Tonino, der uns mit einer lebendigen Barrikade von Esel- fleisch den Weg zu verlegen trachtete, zu Fuß den Rückweg. Die Wanderung, jetzt bergab, durch den von unzähligen Leuchtkäfern durchfunkelten Wald dahin, war angenehm genug. Der Gedanke an jene spitzhutigen Waldteufel mit ihrer sonderbaren Liebhaberei für die knorpeligen Theile ihrer Mitmenschen, fuhr mir allerdings manchmal durch den Sinn, wenn es hinter einem alten Baume raschelte; aber wir kamen unangefochten und mit unseren sämmtlichen Ohren noch versehen, den getrost sein Liedchen pfeifenden Tonino immer dicht hinter uns, in der Stadt wieder an. Gleich die ersten Leute, welche uns hier begegneten, mußten Tonino gefragt haben, warum wir denn nicht ritten, wenigstens schlossen sie sich sofort und offenbar in gespannter Erwartung der Dinge, die da kommen würden, unserem Nachtrab an. Zu diesen Ersten gesellten sich Andere, und bald hatten wir Jung und Alt, Männer und Weiber, Krumm und Lahm, Hunderte von Maulaffen, die Alle zusammen gewiß nicht einen ein- zigen Kamm besaßen, hinter uns. Der Zug schwoll Schritt für Schritt an wie eine Lawine. Sich die Gespenster um einen einheimischen Todten prügeln sehen, das ist weiter nichts; aber dabei sein, wo einem lebendigen Fremden das Fell über die Ohren gezogen wird, das ist freilich von Be- deutung. Nun hätte ich wohl allerdings durch ein Nebengäßchen entweichen und unser Gefolge um den ganzen Spaß bringen können; aber die Hälfte der ausgemachten Summe wollte ich dem Banditen in der Toledostraße ja doch bezahlen, und dann freute ich mich auch selbst ein wenig auf den Spektakel, der sich dort unten erheben würde. Jn der Nähe des Hauses wieder angekommen, schoß Tonino plötzlich wie ein Pfeil an uns vorüber, um den noch ruhig in seiner Höhle schlummernden Drachen, seinen Padrone, zu wecken. Tobend, brüllend, gewiß feuerspeiend, wenn er es nur vermocht hätte, kam denn auch nach wenigen Sekunden das Ungeheuer gegen uns daher, schrie uns mit toddrohender Geberde ein Halt zu und verlangte, weil ich seinen besten Esel zu Falle gebracht, nicht weniger als 20 Frcs. Schadenersatz. Die Menschenmasse, jetzt die ganze Straße sperrend, drängte sich dicht im Kreise um uns her, als ob wir jener brennenden Mäuse ein Paar wären, ergriff tumultuarisch die Partei des Feindes und nahm eine so drohende Haltung an, daß meine Frau, während ich Uhr und Porte-

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 8. Berlin, 23. Februar 1868, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt08_1868/5>, abgerufen am 01.06.2024.