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Sonntags-Blatt. Nr. 11. Berlin, 15. März 1868.

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[Beginn Spaltensatz] stigen Heilerfolge von Geheimmitteln verdienen kein Vertrauen, und
räume damit zugleich ein, daß nicht alle Aussteller von Certifikaten
über Geheimmittel sich als Lügner brandmarken und an den Pranger
stellen; denn die Erfahrung bestätigt es tagtäglich, daß es Krank-
heiten giebt, die von selbst, ohne Anwendung jeglichen Medikaments,
heilen, ferner daß Krankheitssymptome, durch eine rege Einbildungs-
kraft hervorgerufen und unterhalten, daß Krankheiten, die in Wirk-
lichkeit nicht vorhanden sind, angedichtet werden können, und endlich
es vielen Kranken schon zur Gewohnheit geworden ist, ihr Leiden
stets durch ein Vergrößerungsglas zu betrachten. Wenn nun solche
Leute nach der Anwendung von Geheimmitteln über deren guten Er-
folg wahrheitsgetreu und ohne alle Uebertreibung berichten, so spricht
dies weniger für die Vortrefflichkeit des Medikaments, als vielmehr
nur dafür, wie viel die Heilkraft der Natur, der Glaube und die rege
Phantasie vermag. Allein ganz abgesehen hiervon will ich es gar
nicht in Zweifel ziehen, daß es Geheimmittelfabrikanten in Wirklichkeit
gelungen ist, mitunter chronische Krankheiten zu heilen, und gern ein-
räumen [unleserliches Material], daß ihnen in günstigen Fällen deren Heilung auch ferner
gelingen dürfte -- findet der Blinde doch auch zuweilen ein Huf-
eisen, mitunter selbst ein Gerstenkorn -- hat doch der die Phäno-
mene aufmerksam beobachtende Arzt häufig genug Gelegenheit, die
Naturheilkraft anzustaunen und zu bewundern. Jndeß während der
gewissenhafte Jünger Aeskulaps, unbekümmert um die Anerkennung
seiner Mitmenschen, Hunderten von Leidenden das Leben gerettet
haben kann und dafür das beglückende Bewußtsein in seinem Jnnern
trägt, ein wahrer Priester der heiligen Flamme des Lebens zu sein,
verbreitet sich die Nachricht von einer Heilung durch einen Pfuscher
und Quacksalber mit Blitzesschnelle; in vielfacher Vergrößerung, mit
wunderbaren Zusätzen und Ausschmückungen wird sie in die weite
Ferne getragen, und die geschäftige Fama erhebt sie zum Wunder.
Die resultatlosen Kurerfolge dagegen, über die der gewissenhafte me-
dizinische Schriftsteller seinen Kollegen noch ausführlicher berichtet,
als über die gelungenen, weil er das Ergebniß der Section mittheilt,
verschweigt der Quacksalber sehr behutsam, und so leben oft die un-
sinnigsten Dinge wie ein Evangelium eine Zeit lang im Munde des
Volkes fort.

Unter der großen Schaar von Jndustrierittern findet man auch
nicht einen einzigen Vertrauen erweckenden und einflößenden Namen,
und es hieße die Wahrheit absichtlich verschweigen, wollte ich Anstand
nehmen, dies Geständniß abzulegen. Nach meiner Ueberzeugung trifft
sämmtliche mit Geheimmitteln getriebenen Geschäfte der Vorwurf des
Schwindels nicht ohne Grund. Mit Unwissenheit ausgerüstet, mit
der Anmaßung Hand in Hand geht, treten die vermeintlichen Ge-
heimmittelbesitzer unter dem Vorgeben von Wohlthätern und Be-
glückern der leidenden Menschheit an die Oeffentlichkeit, bethören die
Leichtgläubigen und haschen, so lange ihr Stern am Horizont glänzt,
gierig nach Beute, die ihnen ohne Verdienst und Würdigkeit reich-
lich zu Theil wird; ja sie verstehen selbst die Kunst, die diebesfest
verschlossenen Geldspinden der schon oft betrogenen Patienten mit der
größten Leichtigkeit zu öffnen. Die bisher veröffentlichten Geheim-
mittel, mit den ihre untrügliche Wirkung bestätigenden Attesten in ein
Blaubuch zusammengetragen, würden mehrere voluminöse Folianten und
eine Chronique scandaleuse bilden, so daß der Beweis nicht schwer
zu führen wäre, wie aus schmutziger Gewinnsucht und verwerflicher
Geldgier dem Aberglauben gefröhnt, den Prinzipien der Wahrheit
und Sittlichkeit Hohn gesprochen, und die Moralität des Volkes
methodisch unterwühlt wird.     ( Schluß folgt. )



Thomas Paine,
der Verfasser der Schrift "Gesunder Menschenverstand".
( Fortsetzung. )

Am Schluß des ersten Theils des in Rede stehenden Buches
stellt Paine folgende drei Punkte als die Kardinalgrundsätze der
Menschenrechte hin:

1 ) Die Menschen sind frei und gleich geboren hinsichtlich
ihrer Rechte, und bleiben es. Bürgerliche Unterschiede
können daher nur, so weit das allgemeine Wohl es ver-
langt, stattfinden.

2 ) Der Zweck aller staatlichen Verbindungen ist die Erhaltung
der natürlichen und unverjährbaren Menschenrechte, und
diese Rechte sind: Freiheit, Eigenthum, Sicherheit und
Recht des Widerstandes gegen gewaltthätige Unterdrückung.

3 ) Das Volk ist wesentlich ( essentially ) die Quelle aller
Macht ( sovereignty ) ; weder ein einzelnes Jndividuum
noch eine Korporation ( body of man ) ist berechtigt zu
einer Gewaltausübung, die nicht ausdrücklich ( expressly )
ihren Ursprung im Volk hat.

[Spaltenumbruch]

Jn diesen Grundsätzen findet Paine nichts, wodurch eine Nation
in Folge ehrgeiziger Gelüste in Verwirrung gestürzt werden könnte.
Wiederholt erklärt er, daß er rein abstrakte Reformen weder billige,
noch vertheidige. "Der wahre Boden, worauf ich stehe", rief er
Herrn Burke zu, "ist der, daß ich das thatsächliche Wohl und Wehe
der Menschheit ins Auge fasse und ihre sociale Lage zu verbessern
suche". Jn dem zweiten Theile seiner "Menschenrechte" bespricht er auch
das Finanz= und Steuerwesen Englands; er empfiehlt die progressive
Einkommensteuer, das Heranziehen der Reichen, und greift namentlich
den Lord North und den Minister Pitt scharf an; von Letzterem sagt
er, "er habe viel versprochen, aber wenig gehalten". Auf die Zu-
stände der verschiedenen Staaten Europa's kommend, bemerkt er:
"Wenn alle Regierungen Europa's eine wahrhaft konstitutionelle
Basis zur Grundlage hätten, so würden sich die Völker einander näher
treten und die Eifersüchteleien und Vorurtheile, welche durch die künst-
lichen Jntriguen der Höfe genährt sind, würden schwinden. Der
unterdrückte Soldat würde ein freier Mann werden, und der gequälte
Matrose würde nicht mehr wie ein Verbrecher durch die Straßen ge-
schleppt werden, sondern seinen merkantilen Beruf in Sicherheit und
in Frieden erfüllen können". So sprach Thomas Paine im Jahre 1792.

Der Schluß des in Rede stehenden Werkes lautet aber also:
"Was die sogenannten Staatsreligionen anlangt, so könnte man mit
demselben Recht von "Staatsgottheiten" ( national Gods ) sprechen.
Es sind entweder politische Kunstgriffe oder Ueberbleibsel aus der
Heidenzeit, wenn die verschiedenen Nationen ihre ganz besonderen
Gottheiten haben. Kein Schriftsteller der englischen Kirche, welcher
über das Religionswesen im Allgemeinen geschrieben, hat den gegen-
wärtigen Bischof von Landaff übertroffen, und ich benutze mit Ver-
gnügen diese Gelegenheit, ihm meine Achtung auszusprechen. Einige
Herren haben sich angemaßt, die Prinzipien, welche ich den beiden
Abtheilungen meines Buches "über die Menschenrechte" zu Grunde
gelegt, als "eine neugebackene Lehre" ( a new-fangled doctrine ) zu
bezeichnen. Die Frage ist aber nicht, ob diese Prinzipien alt oder
neu, sondern ob sie richtig oder unrichtig sind. Nehmen wir an, sie
seien neu, so mag folgendes Gleichniß sie leicht erläutern:

Wir leben jetzt nahezu in der Mitte des Februar. Wenn ich eine
Landreise unternähme, so würden die Bäume mir blätterlos und in
einem winterlichen Gewand entgegentreten. Fußgänger pflegen auf
ihren Reisen kleine Zweige abzuflücken, und so möchte auch ich wohl
thun und dabei zufällig bemerken, daß eine einzelne Knospe an dem
abgepflückten Zweige bereits zu schwellen anfange. Jch würde gegen
alle Naturgesetze schließen, oder vielmehr gar keinen vernünftigen
Schluß machen, wenn ich annähme, daß dies die einzige Knospe in
England sei, die ein frühlingsmäßiges Aussehen habe. Statt so zu
schließen, würde ich vielmehr sogleich annehmen, daß ein ähnliches
Aussehen der Knospen überall stattfinde oder anfange stattzufinden.
Und obgleich der winterliche Pflanzenschlaf bei einigen Gesträuchern
und Bäumen länger anhält als bei anderen, und obgleich einige
derselben vielleicht in zwei bis drei Jahren es nicht bis zur Blüthe
bringen mögen, so werden doch alle im Sommer in ihrem Som-
merschmuck dastehen, nur diejenigen nicht, deren Wurzeln faul und
verrottet sind. Ob nun der politische Sommer mit dem gewöhnlichen
Sommer gleichen Schritt halten wird, oder nicht -- das vermag
keines Menschen Auge vorher zu sehen. Jndessen ist es nicht schwer,
zu erkennen, daß der Frühling begonnen hat. Und so wünsche ich
denn beim Schluß meines Buches allen Völkern der Erde von ganzem
Herzen Glück und Freiheit."

Es ist erklärlich, daß der Verfasser der "Menschenrechte" von dem
französischen Volke gefeiert wurde. Da er, während man in England
einen Staatsprozeß gegen ihn einleitete, nach Frankreich gegangen
war, so wurde ihm von verschiedenen Städten dieses Landes das
Bürgerrecht verliehen. Nur mit knapper Noth konnte er sich von
Dover nach Calais einschiffen. Auf französischem Boden angelangt,
wurde er mit dem größtem Jubel empfangen, und das Departement
Pas=de=Calais wählte ihn als seinen Vertreter in den National-
Konvent. Er war in Paris, als Ludwig XVI. seinen bekannten
Fluchtversuch unternahm. Sein Freund Lafayette trat eines Morgens
früh in sein Schlafzimmer und sagte: "Die Vögel sind ausgeflogen";
worauf Paine erwiderte: "Es ist gut so; ich hoffe, man wird nicht
versuchen, sie wieder einzufangen."

Als der Konvent in der Nacht vom 16. auf den 17. Januar 1793
über das Leben "Ludwig Capets" zu Gericht saß, opponirte Paine
mit kühner Entschiedenheit dem Todesurtheil des gefangenen Königs;
er sprach und stimmte gegen dessen Hinrichtung, indem er erklärte,
daß "die Vollziehung des Todesurtheils in der ganzen Welt, und
namentlich in den Vereinigten Staaten von Amerika, welche die Ver-
bündeten Frankreichs seien, nicht als ein Akt der Gerechtigkeit, sondern
als eine Handlung der Rache angesehen werden würde". Er wollte
den König nach Amerika verbannt wissen; "dort, fern vom Elend
und den Verbrechen des Königthums", so motivirte er sein Votum,
"sollte Louis Capet die Segnungen der Selbstregierung kennen lernen."

[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] stigen Heilerfolge von Geheimmitteln verdienen kein Vertrauen, und
räume damit zugleich ein, daß nicht alle Aussteller von Certifikaten
über Geheimmittel sich als Lügner brandmarken und an den Pranger
stellen; denn die Erfahrung bestätigt es tagtäglich, daß es Krank-
heiten giebt, die von selbst, ohne Anwendung jeglichen Medikaments,
heilen, ferner daß Krankheitssymptome, durch eine rege Einbildungs-
kraft hervorgerufen und unterhalten, daß Krankheiten, die in Wirk-
lichkeit nicht vorhanden sind, angedichtet werden können, und endlich
es vielen Kranken schon zur Gewohnheit geworden ist, ihr Leiden
stets durch ein Vergrößerungsglas zu betrachten. Wenn nun solche
Leute nach der Anwendung von Geheimmitteln über deren guten Er-
folg wahrheitsgetreu und ohne alle Uebertreibung berichten, so spricht
dies weniger für die Vortrefflichkeit des Medikaments, als vielmehr
nur dafür, wie viel die Heilkraft der Natur, der Glaube und die rege
Phantasie vermag. Allein ganz abgesehen hiervon will ich es gar
nicht in Zweifel ziehen, daß es Geheimmittelfabrikanten in Wirklichkeit
gelungen ist, mitunter chronische Krankheiten zu heilen, und gern ein-
räumen [unleserliches Material], daß ihnen in günstigen Fällen deren Heilung auch ferner
gelingen dürfte — findet der Blinde doch auch zuweilen ein Huf-
eisen, mitunter selbst ein Gerstenkorn — hat doch der die Phäno-
mene aufmerksam beobachtende Arzt häufig genug Gelegenheit, die
Naturheilkraft anzustaunen und zu bewundern. Jndeß während der
gewissenhafte Jünger Aeskulaps, unbekümmert um die Anerkennung
seiner Mitmenschen, Hunderten von Leidenden das Leben gerettet
haben kann und dafür das beglückende Bewußtsein in seinem Jnnern
trägt, ein wahrer Priester der heiligen Flamme des Lebens zu sein,
verbreitet sich die Nachricht von einer Heilung durch einen Pfuscher
und Quacksalber mit Blitzesschnelle; in vielfacher Vergrößerung, mit
wunderbaren Zusätzen und Ausschmückungen wird sie in die weite
Ferne getragen, und die geschäftige Fama erhebt sie zum Wunder.
Die resultatlosen Kurerfolge dagegen, über die der gewissenhafte me-
dizinische Schriftsteller seinen Kollegen noch ausführlicher berichtet,
als über die gelungenen, weil er das Ergebniß der Section mittheilt,
verschweigt der Quacksalber sehr behutsam, und so leben oft die un-
sinnigsten Dinge wie ein Evangelium eine Zeit lang im Munde des
Volkes fort.

Unter der großen Schaar von Jndustrierittern findet man auch
nicht einen einzigen Vertrauen erweckenden und einflößenden Namen,
und es hieße die Wahrheit absichtlich verschweigen, wollte ich Anstand
nehmen, dies Geständniß abzulegen. Nach meiner Ueberzeugung trifft
sämmtliche mit Geheimmitteln getriebenen Geschäfte der Vorwurf des
Schwindels nicht ohne Grund. Mit Unwissenheit ausgerüstet, mit
der Anmaßung Hand in Hand geht, treten die vermeintlichen Ge-
heimmittelbesitzer unter dem Vorgeben von Wohlthätern und Be-
glückern der leidenden Menschheit an die Oeffentlichkeit, bethören die
Leichtgläubigen und haschen, so lange ihr Stern am Horizont glänzt,
gierig nach Beute, die ihnen ohne Verdienst und Würdigkeit reich-
lich zu Theil wird; ja sie verstehen selbst die Kunst, die diebesfest
verschlossenen Geldspinden der schon oft betrogenen Patienten mit der
größten Leichtigkeit zu öffnen. Die bisher veröffentlichten Geheim-
mittel, mit den ihre untrügliche Wirkung bestätigenden Attesten in ein
Blaubuch zusammengetragen, würden mehrere voluminöse Folianten und
eine Chronique scandaleuse bilden, so daß der Beweis nicht schwer
zu führen wäre, wie aus schmutziger Gewinnsucht und verwerflicher
Geldgier dem Aberglauben gefröhnt, den Prinzipien der Wahrheit
und Sittlichkeit Hohn gesprochen, und die Moralität des Volkes
methodisch unterwühlt wird.     ( Schluß folgt. )



Thomas Paine,
der Verfasser der Schrift „Gesunder Menschenverstand“.
( Fortsetzung. )

Am Schluß des ersten Theils des in Rede stehenden Buches
stellt Paine folgende drei Punkte als die Kardinalgrundsätze der
Menschenrechte hin:

1 ) Die Menschen sind frei und gleich geboren hinsichtlich
ihrer Rechte, und bleiben es. Bürgerliche Unterschiede
können daher nur, so weit das allgemeine Wohl es ver-
langt, stattfinden.

2 ) Der Zweck aller staatlichen Verbindungen ist die Erhaltung
der natürlichen und unverjährbaren Menschenrechte, und
diese Rechte sind: Freiheit, Eigenthum, Sicherheit und
Recht des Widerstandes gegen gewaltthätige Unterdrückung.

3 ) Das Volk ist wesentlich ( essentially ) die Quelle aller
Macht ( sovereignty ) ; weder ein einzelnes Jndividuum
noch eine Korporation ( body of man ) ist berechtigt zu
einer Gewaltausübung, die nicht ausdrücklich ( expressly )
ihren Ursprung im Volk hat.

[Spaltenumbruch]

Jn diesen Grundsätzen findet Paine nichts, wodurch eine Nation
in Folge ehrgeiziger Gelüste in Verwirrung gestürzt werden könnte.
Wiederholt erklärt er, daß er rein abstrakte Reformen weder billige,
noch vertheidige. „Der wahre Boden, worauf ich stehe“, rief er
Herrn Burke zu, „ist der, daß ich das thatsächliche Wohl und Wehe
der Menschheit ins Auge fasse und ihre sociale Lage zu verbessern
suche“. Jn dem zweiten Theile seiner „Menschenrechte“ bespricht er auch
das Finanz= und Steuerwesen Englands; er empfiehlt die progressive
Einkommensteuer, das Heranziehen der Reichen, und greift namentlich
den Lord North und den Minister Pitt scharf an; von Letzterem sagt
er, „er habe viel versprochen, aber wenig gehalten“. Auf die Zu-
stände der verschiedenen Staaten Europa's kommend, bemerkt er:
„Wenn alle Regierungen Europa's eine wahrhaft konstitutionelle
Basis zur Grundlage hätten, so würden sich die Völker einander näher
treten und die Eifersüchteleien und Vorurtheile, welche durch die künst-
lichen Jntriguen der Höfe genährt sind, würden schwinden. Der
unterdrückte Soldat würde ein freier Mann werden, und der gequälte
Matrose würde nicht mehr wie ein Verbrecher durch die Straßen ge-
schleppt werden, sondern seinen merkantilen Beruf in Sicherheit und
in Frieden erfüllen können“. So sprach Thomas Paine im Jahre 1792.

Der Schluß des in Rede stehenden Werkes lautet aber also:
„Was die sogenannten Staatsreligionen anlangt, so könnte man mit
demselben Recht von „Staatsgottheiten“ ( national Gods ) sprechen.
Es sind entweder politische Kunstgriffe oder Ueberbleibsel aus der
Heidenzeit, wenn die verschiedenen Nationen ihre ganz besonderen
Gottheiten haben. Kein Schriftsteller der englischen Kirche, welcher
über das Religionswesen im Allgemeinen geschrieben, hat den gegen-
wärtigen Bischof von Landaff übertroffen, und ich benutze mit Ver-
gnügen diese Gelegenheit, ihm meine Achtung auszusprechen. Einige
Herren haben sich angemaßt, die Prinzipien, welche ich den beiden
Abtheilungen meines Buches „über die Menschenrechte“ zu Grunde
gelegt, als „eine neugebackene Lehre“ ( a new-fangled doctrine ) zu
bezeichnen. Die Frage ist aber nicht, ob diese Prinzipien alt oder
neu, sondern ob sie richtig oder unrichtig sind. Nehmen wir an, sie
seien neu, so mag folgendes Gleichniß sie leicht erläutern:

Wir leben jetzt nahezu in der Mitte des Februar. Wenn ich eine
Landreise unternähme, so würden die Bäume mir blätterlos und in
einem winterlichen Gewand entgegentreten. Fußgänger pflegen auf
ihren Reisen kleine Zweige abzuflücken, und so möchte auch ich wohl
thun und dabei zufällig bemerken, daß eine einzelne Knospe an dem
abgepflückten Zweige bereits zu schwellen anfange. Jch würde gegen
alle Naturgesetze schließen, oder vielmehr gar keinen vernünftigen
Schluß machen, wenn ich annähme, daß dies die einzige Knospe in
England sei, die ein frühlingsmäßiges Aussehen habe. Statt so zu
schließen, würde ich vielmehr sogleich annehmen, daß ein ähnliches
Aussehen der Knospen überall stattfinde oder anfange stattzufinden.
Und obgleich der winterliche Pflanzenschlaf bei einigen Gesträuchern
und Bäumen länger anhält als bei anderen, und obgleich einige
derselben vielleicht in zwei bis drei Jahren es nicht bis zur Blüthe
bringen mögen, so werden doch alle im Sommer in ihrem Som-
merschmuck dastehen, nur diejenigen nicht, deren Wurzeln faul und
verrottet sind. Ob nun der politische Sommer mit dem gewöhnlichen
Sommer gleichen Schritt halten wird, oder nicht — das vermag
keines Menschen Auge vorher zu sehen. Jndessen ist es nicht schwer,
zu erkennen, daß der Frühling begonnen hat. Und so wünsche ich
denn beim Schluß meines Buches allen Völkern der Erde von ganzem
Herzen Glück und Freiheit.“

Es ist erklärlich, daß der Verfasser der „Menschenrechte“ von dem
französischen Volke gefeiert wurde. Da er, während man in England
einen Staatsprozeß gegen ihn einleitete, nach Frankreich gegangen
war, so wurde ihm von verschiedenen Städten dieses Landes das
Bürgerrecht verliehen. Nur mit knapper Noth konnte er sich von
Dover nach Calais einschiffen. Auf französischem Boden angelangt,
wurde er mit dem größtem Jubel empfangen, und das Departement
Pas=de=Calais wählte ihn als seinen Vertreter in den National-
Konvent. Er war in Paris, als Ludwig XVI. seinen bekannten
Fluchtversuch unternahm. Sein Freund Lafayette trat eines Morgens
früh in sein Schlafzimmer und sagte: „Die Vögel sind ausgeflogen“;
worauf Paine erwiderte: „Es ist gut so; ich hoffe, man wird nicht
versuchen, sie wieder einzufangen.“

Als der Konvent in der Nacht vom 16. auf den 17. Januar 1793
über das Leben „Ludwig Capets“ zu Gericht saß, opponirte Paine
mit kühner Entschiedenheit dem Todesurtheil des gefangenen Königs;
er sprach und stimmte gegen dessen Hinrichtung, indem er erklärte,
daß „die Vollziehung des Todesurtheils in der ganzen Welt, und
namentlich in den Vereinigten Staaten von Amerika, welche die Ver-
bündeten Frankreichs seien, nicht als ein Akt der Gerechtigkeit, sondern
als eine Handlung der Rache angesehen werden würde“. Er wollte
den König nach Amerika verbannt wissen; „dort, fern vom Elend
und den Verbrechen des Königthums“, so motivirte er sein Votum,
„sollte Louis Capet die Segnungen der Selbstregierung kennen lernen.“

[Ende Spaltensatz]
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[87/0007] 87 stigen Heilerfolge von Geheimmitteln verdienen kein Vertrauen, und räume damit zugleich ein, daß nicht alle Aussteller von Certifikaten über Geheimmittel sich als Lügner brandmarken und an den Pranger stellen; denn die Erfahrung bestätigt es tagtäglich, daß es Krank- heiten giebt, die von selbst, ohne Anwendung jeglichen Medikaments, heilen, ferner daß Krankheitssymptome, durch eine rege Einbildungs- kraft hervorgerufen und unterhalten, daß Krankheiten, die in Wirk- lichkeit nicht vorhanden sind, angedichtet werden können, und endlich es vielen Kranken schon zur Gewohnheit geworden ist, ihr Leiden stets durch ein Vergrößerungsglas zu betrachten. Wenn nun solche Leute nach der Anwendung von Geheimmitteln über deren guten Er- folg wahrheitsgetreu und ohne alle Uebertreibung berichten, so spricht dies weniger für die Vortrefflichkeit des Medikaments, als vielmehr nur dafür, wie viel die Heilkraft der Natur, der Glaube und die rege Phantasie vermag. Allein ganz abgesehen hiervon will ich es gar nicht in Zweifel ziehen, daß es Geheimmittelfabrikanten in Wirklichkeit gelungen ist, mitunter chronische Krankheiten zu heilen, und gern ein- räumen _ , daß ihnen in günstigen Fällen deren Heilung auch ferner gelingen dürfte — findet der Blinde doch auch zuweilen ein Huf- eisen, mitunter selbst ein Gerstenkorn — hat doch der die Phäno- mene aufmerksam beobachtende Arzt häufig genug Gelegenheit, die Naturheilkraft anzustaunen und zu bewundern. Jndeß während der gewissenhafte Jünger Aeskulaps, unbekümmert um die Anerkennung seiner Mitmenschen, Hunderten von Leidenden das Leben gerettet haben kann und dafür das beglückende Bewußtsein in seinem Jnnern trägt, ein wahrer Priester der heiligen Flamme des Lebens zu sein, verbreitet sich die Nachricht von einer Heilung durch einen Pfuscher und Quacksalber mit Blitzesschnelle; in vielfacher Vergrößerung, mit wunderbaren Zusätzen und Ausschmückungen wird sie in die weite Ferne getragen, und die geschäftige Fama erhebt sie zum Wunder. Die resultatlosen Kurerfolge dagegen, über die der gewissenhafte me- dizinische Schriftsteller seinen Kollegen noch ausführlicher berichtet, als über die gelungenen, weil er das Ergebniß der Section mittheilt, verschweigt der Quacksalber sehr behutsam, und so leben oft die un- sinnigsten Dinge wie ein Evangelium eine Zeit lang im Munde des Volkes fort. Unter der großen Schaar von Jndustrierittern findet man auch nicht einen einzigen Vertrauen erweckenden und einflößenden Namen, und es hieße die Wahrheit absichtlich verschweigen, wollte ich Anstand nehmen, dies Geständniß abzulegen. Nach meiner Ueberzeugung trifft sämmtliche mit Geheimmitteln getriebenen Geschäfte der Vorwurf des Schwindels nicht ohne Grund. Mit Unwissenheit ausgerüstet, mit der Anmaßung Hand in Hand geht, treten die vermeintlichen Ge- heimmittelbesitzer unter dem Vorgeben von Wohlthätern und Be- glückern der leidenden Menschheit an die Oeffentlichkeit, bethören die Leichtgläubigen und haschen, so lange ihr Stern am Horizont glänzt, gierig nach Beute, die ihnen ohne Verdienst und Würdigkeit reich- lich zu Theil wird; ja sie verstehen selbst die Kunst, die diebesfest verschlossenen Geldspinden der schon oft betrogenen Patienten mit der größten Leichtigkeit zu öffnen. Die bisher veröffentlichten Geheim- mittel, mit den ihre untrügliche Wirkung bestätigenden Attesten in ein Blaubuch zusammengetragen, würden mehrere voluminöse Folianten und eine Chronique scandaleuse bilden, so daß der Beweis nicht schwer zu führen wäre, wie aus schmutziger Gewinnsucht und verwerflicher Geldgier dem Aberglauben gefröhnt, den Prinzipien der Wahrheit und Sittlichkeit Hohn gesprochen, und die Moralität des Volkes methodisch unterwühlt wird. ( Schluß folgt. ) Thomas Paine, der Verfasser der Schrift „Gesunder Menschenverstand“. ( Fortsetzung. ) Am Schluß des ersten Theils des in Rede stehenden Buches stellt Paine folgende drei Punkte als die Kardinalgrundsätze der Menschenrechte hin: 1 ) Die Menschen sind frei und gleich geboren hinsichtlich ihrer Rechte, und bleiben es. Bürgerliche Unterschiede können daher nur, so weit das allgemeine Wohl es ver- langt, stattfinden. 2 ) Der Zweck aller staatlichen Verbindungen ist die Erhaltung der natürlichen und unverjährbaren Menschenrechte, und diese Rechte sind: Freiheit, Eigenthum, Sicherheit und Recht des Widerstandes gegen gewaltthätige Unterdrückung. 3 ) Das Volk ist wesentlich ( essentially ) die Quelle aller Macht ( sovereignty ) ; weder ein einzelnes Jndividuum noch eine Korporation ( body of man ) ist berechtigt zu einer Gewaltausübung, die nicht ausdrücklich ( expressly ) ihren Ursprung im Volk hat. Jn diesen Grundsätzen findet Paine nichts, wodurch eine Nation in Folge ehrgeiziger Gelüste in Verwirrung gestürzt werden könnte. Wiederholt erklärt er, daß er rein abstrakte Reformen weder billige, noch vertheidige. „Der wahre Boden, worauf ich stehe“, rief er Herrn Burke zu, „ist der, daß ich das thatsächliche Wohl und Wehe der Menschheit ins Auge fasse und ihre sociale Lage zu verbessern suche“. Jn dem zweiten Theile seiner „Menschenrechte“ bespricht er auch das Finanz= und Steuerwesen Englands; er empfiehlt die progressive Einkommensteuer, das Heranziehen der Reichen, und greift namentlich den Lord North und den Minister Pitt scharf an; von Letzterem sagt er, „er habe viel versprochen, aber wenig gehalten“. Auf die Zu- stände der verschiedenen Staaten Europa's kommend, bemerkt er: „Wenn alle Regierungen Europa's eine wahrhaft konstitutionelle Basis zur Grundlage hätten, so würden sich die Völker einander näher treten und die Eifersüchteleien und Vorurtheile, welche durch die künst- lichen Jntriguen der Höfe genährt sind, würden schwinden. Der unterdrückte Soldat würde ein freier Mann werden, und der gequälte Matrose würde nicht mehr wie ein Verbrecher durch die Straßen ge- schleppt werden, sondern seinen merkantilen Beruf in Sicherheit und in Frieden erfüllen können“. So sprach Thomas Paine im Jahre 1792. Der Schluß des in Rede stehenden Werkes lautet aber also: „Was die sogenannten Staatsreligionen anlangt, so könnte man mit demselben Recht von „Staatsgottheiten“ ( national Gods ) sprechen. Es sind entweder politische Kunstgriffe oder Ueberbleibsel aus der Heidenzeit, wenn die verschiedenen Nationen ihre ganz besonderen Gottheiten haben. Kein Schriftsteller der englischen Kirche, welcher über das Religionswesen im Allgemeinen geschrieben, hat den gegen- wärtigen Bischof von Landaff übertroffen, und ich benutze mit Ver- gnügen diese Gelegenheit, ihm meine Achtung auszusprechen. Einige Herren haben sich angemaßt, die Prinzipien, welche ich den beiden Abtheilungen meines Buches „über die Menschenrechte“ zu Grunde gelegt, als „eine neugebackene Lehre“ ( a new-fangled doctrine ) zu bezeichnen. Die Frage ist aber nicht, ob diese Prinzipien alt oder neu, sondern ob sie richtig oder unrichtig sind. Nehmen wir an, sie seien neu, so mag folgendes Gleichniß sie leicht erläutern: Wir leben jetzt nahezu in der Mitte des Februar. Wenn ich eine Landreise unternähme, so würden die Bäume mir blätterlos und in einem winterlichen Gewand entgegentreten. Fußgänger pflegen auf ihren Reisen kleine Zweige abzuflücken, und so möchte auch ich wohl thun und dabei zufällig bemerken, daß eine einzelne Knospe an dem abgepflückten Zweige bereits zu schwellen anfange. Jch würde gegen alle Naturgesetze schließen, oder vielmehr gar keinen vernünftigen Schluß machen, wenn ich annähme, daß dies die einzige Knospe in England sei, die ein frühlingsmäßiges Aussehen habe. Statt so zu schließen, würde ich vielmehr sogleich annehmen, daß ein ähnliches Aussehen der Knospen überall stattfinde oder anfange stattzufinden. Und obgleich der winterliche Pflanzenschlaf bei einigen Gesträuchern und Bäumen länger anhält als bei anderen, und obgleich einige derselben vielleicht in zwei bis drei Jahren es nicht bis zur Blüthe bringen mögen, so werden doch alle im Sommer in ihrem Som- merschmuck dastehen, nur diejenigen nicht, deren Wurzeln faul und verrottet sind. Ob nun der politische Sommer mit dem gewöhnlichen Sommer gleichen Schritt halten wird, oder nicht — das vermag keines Menschen Auge vorher zu sehen. Jndessen ist es nicht schwer, zu erkennen, daß der Frühling begonnen hat. Und so wünsche ich denn beim Schluß meines Buches allen Völkern der Erde von ganzem Herzen Glück und Freiheit.“ Es ist erklärlich, daß der Verfasser der „Menschenrechte“ von dem französischen Volke gefeiert wurde. Da er, während man in England einen Staatsprozeß gegen ihn einleitete, nach Frankreich gegangen war, so wurde ihm von verschiedenen Städten dieses Landes das Bürgerrecht verliehen. Nur mit knapper Noth konnte er sich von Dover nach Calais einschiffen. Auf französischem Boden angelangt, wurde er mit dem größtem Jubel empfangen, und das Departement Pas=de=Calais wählte ihn als seinen Vertreter in den National- Konvent. Er war in Paris, als Ludwig XVI. seinen bekannten Fluchtversuch unternahm. Sein Freund Lafayette trat eines Morgens früh in sein Schlafzimmer und sagte: „Die Vögel sind ausgeflogen“; worauf Paine erwiderte: „Es ist gut so; ich hoffe, man wird nicht versuchen, sie wieder einzufangen.“ Als der Konvent in der Nacht vom 16. auf den 17. Januar 1793 über das Leben „Ludwig Capets“ zu Gericht saß, opponirte Paine mit kühner Entschiedenheit dem Todesurtheil des gefangenen Königs; er sprach und stimmte gegen dessen Hinrichtung, indem er erklärte, daß „die Vollziehung des Todesurtheils in der ganzen Welt, und namentlich in den Vereinigten Staaten von Amerika, welche die Ver- bündeten Frankreichs seien, nicht als ein Akt der Gerechtigkeit, sondern als eine Handlung der Rache angesehen werden würde“. Er wollte den König nach Amerika verbannt wissen; „dort, fern vom Elend und den Verbrechen des Königthums“, so motivirte er sein Votum, „sollte Louis Capet die Segnungen der Selbstregierung kennen lernen.“

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 11. Berlin, 15. März 1868, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt11_1868/7>, abgerufen am 01.06.2024.