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Sonntags-Blatt. Nr. 20. Berlin, 17. Mai 1868.

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[Beginn Spaltensatz] Shakespeare=Haus, ein feuchtes und unwohnliches Gebäude. Ob sich hier
einst ein Komödiant bewegt hat oder nicht, gilt mir gleich; ich kenne
von ihm wenig oder gar nichts, und wenn er diesen Baum dort gepflanzt
hat, so hat er ihn sehr unglücklich eingesetzt, denn er macht durch seine
Nähe das Haus noch feuchter, als es schon an sich ist. Uebrigens will ich
mir nicht in meine Befugnisse hineinschwatzen lassen. Also Gott befohlen,
meine Herren!" Damit ging er in ein anderes Zimmer und ließ die Ma-
gistratsbeamten verdutzt stehen. Mr. Brummel ging langsam durch das
Zimmer, die Stiege hinab und durch den Garten. Seine Kollegen folgten
ihm. Sie warfen noch einen wehmüthigen Blick auf den Baum. Da
stand er und breitete seine noch kraftvollen, mit den saftigen grünen
Blättern bedeckten Zweige über das Dach des Hauses hin; die Abendsonne
spielte auf dem Laubwerk, welches wie mit feinem Silber bezogen glänzte.
Kleine Vögel flatterten umher und zwitscherten. Malerisch trat das Haus
zwischen den Bäumen hervor, die es förmlich zu umarmen schienen, und
der Maulbeerbaum Shakespeare's war der nächste an dem alten Gemäuer;
es mußte einen häßlichen Fleck, eine abscheuliche Lücke, ein garstiges Loch
in diesem reizenden Bilde geben, wenn die freche Hand des Holzfällers den
schönen Baum niedergestreckt hatte. Mr. Brummel und seine Kollegen
befanden sich in einem Zustande höchster Erregung, und deßhalb schien
es sehr natürlich, daß sie sich keinen Zwang anzuthun im Stande
waren. Sie erzählten Abends im Wirthshaus "Zum brittischen Wappen"
von ihrer verunglückten Mission, und wie es keinem Zweifel unterliege,
daß Mr. Fitz=Patrick den Maulbeerbaum Williams umhauen lassen werde.
Die Magistratsbeamten handelten nun zwar, wie es Männern von Gefühl
nicht verargt werden konnte, die ihrer Entrüstung über einen solchen Van-
dalismus freien Lauf ließen; allein als Väter der Stadt begingen sie
immerhin eine Unvorsichtigkeit. Noch an demselben Abend wurde nämlich
die schreckliche Gewißheit kolportirt, daß der Baum des heiligen William
durch die Axt fallen solle, und zwar auf Geheiß eines Pfarrers. Die
Amtsgenossen des Mr. Fitz=Patrick waren selbst sehr ungehalten darüber;
aber sie hatten auf den störrischen Mann keinen Einfluß, und mieden
seinen Umgang. Die Bevölkerung Stratfords aber verhielt sich nicht so
passiv. Sie rottete sich an verschiedenen Orten zusammen und beschloß,
dem Pfarrer Fitz=Patrick eine Sturmpetition zuzusenden. Unter lauten
Hochs auf Shakespeare trennte man sich. Mr. Fitz=Patrick achtete jedoch
nicht dieser drohenden Anzeichen. Noch spät in der Nacht kam der Tischler
Bill Borry aus dem Alehause zurück. Da begegnet ihm Joe Smith. Joe
war Gartengehülfe bei dem Pfarrer. "Morgen giebt es großen Spektakel",
sagte Joe zu Bill. "Jch haue um sieben Uhr früh den Maulbeerbaum
Shakespeare's um". Bill Borry fuhr heftig auf. "Was? Der Pfarrer
hat den Teufel im Leibe!" rief er. "Er will sich wirklich die Stadt auf
den Hals laden?" Joe zuckte die Achseln. "Wer kann's hindern? Er ist
ja doch Herr seines Gutes". "Jch legte nicht Hand an den Baum", sagte
Bill. "Man hat Beispiele, daß den Baumschändern die Hände verdorren".
"Hm! Der Pfarrer kann's ausmachen. Jch bin ein armer Teufel, ich diene
für Tagelohn, und obenein hat mir der Pfarrer das ganze Holz des ge-
fällten Baumes versprochen -- das giebt ein tüchtig Häuflein für die
Küche und den Heerd". Bill Borry stand einige Sekunden still. Ein
Gedanke schien ihm zu kommen. Er war selbst nur ein kleiner Arbeiter,
der sich und die Seinigen mühsam ernährte; wenn er nur einmal einen
guten Zug thun konnte, dann war ihm geholfen. "Der Baum muß also
fallen, das sehe ich ein", sagte er ernst. "Aber was thut Jhr mit dem
alten Holz? Jn kurzer Zeit ist es aufgefeuert, und wer weiß, ob Jhr
nicht noch selbst Unannehmlichkeiten haben werdet! Wenn Euch Fitz-
Patrick wirklich das Holz geschenkt hat -- so hört mich an. Verkauft es
mir. Sagt Eure Forderung". "Na -- bestimmt Jhr's -- was soll ich
fordern?" "Nach Klaftern?" "Wie Jhr wollt". "Hm -- gebt fünf
Pfund". Bill Borry überlegte, wie gering sein Baarvorrath war; er mußte
aber wohl noch gewisse Hülfsmittel im Hintergrunde haben, denn er sagte
schnell genug: "Topp! Hier ist ein Pfund auf Abschlag -- ein Handgeld".
Er reichte Joe ein Pfund. Dieser steckte es hastig in die Tasche. " Ab-
gemacht ", sagte er. "Nun gute Nacht. Jhr erhaltet das Holz, sobald der
Baum liegt; aber was wollt Jhr eigentlich damit?" "Laßt das meine
Sache sein. Jch bin ein großer Freund des seligen William, und möchte
den Baum als Erinnerung haben. Jch schneide ihn mir selbst zurecht".
"Für die Erinnerung an einen Komödianten fünf Pfund!" murmelte Joe.
"Der Pfarrer hat Recht, hier sind die Leute toll geworden." Er befühlte
vergnügt sein Pfund. "Meine Alte wird lachen, wenn ich ihr die Pfunde
aufzähle; Bill hat altes, wurmstichiges Holz". Borry ging in sein Haus.
"Jch habe nur noch ein Pfund im Hause -- mein ganzes Vermögen",
flüsterte er. "Aber --" Seine junge Frau erhob schlaftrunken den Kopf
von dem Bettkissen. "Mary", sagte Bill zu ihr, "wie viel haben unsere
beiden Kinder in der Sparbüchse noch von dem Pathengelde?" "Vier
Pfund", sagte Mary erstaunt. "Gut. Jch muß sie morgen haben".
"Mein Himmel! Das Geld der Kinder --" "Wird hundertfach ersetzt".
"Mann, Du hast zu tief ins Glas geschaut!" "Nichts da. Jch bin sehr
nüchtern; aber ich habe nur noch ein Pfund, dort im Schrank. Das
Letzte aus meiner Tasche habe ich an Joe Smith gegeben; er kriegt auch
die vier aus den Sparbüchsen der Kinder, dafür überläßt er mir den
Maulbeerbaum William Shakespeare's, den der Pfarrer morgen umhauen
läßt, und damit mache ich mein Glück". Mary sah ihren Gatten in das
Gesicht; sie machte eine ängstliche Miene, aber Bill gab ihr einen Kuß
und sagte: "Schlaf ruhig, es wird zu unserm Glück ausschlagen. Der
selige William hat Alles gut gemacht; er hat vielen Leuten bei seinen
Lebzeiten geholfen, er wird's nach seinem Tode auch noch thun. Alles,
was von Master Shakespeare kommt, ist gut und trefflich."

( Schluß folgt. )



[Spaltenumbruch]
Die Launen der Verliebten.
Nach einem Artikel der Saturday Review.
Von
F. F.

Wer seine Begriffe von dem modernen englischen Leben darnach bildet,
wie dasselbe in Romanen geschildert ist, der muß sich über die endlosen
Schwierigkeiten wundern, welche dort dem Eingehen eines Ehebündnisses
in den Weg gelegt werden. Betrachtet man indessen die Zahl derer, welche
jedes Jahr in England mit verhältnißmäßig geringer Mühewaltung ver-
heirathet werden, so scheinen die Qualen der Helden und Heldinnen in den
Werken der Dichter sonderbarlich von dem, was in der langweiligen Wirk-
lichkeit vorgeht, abzuweichen. Wahr ist es, daß der dritte Band jedes gut
gehandhabten Romans, der nicht auf dem widernatürlichen Prinzip beruht,
seine Leser unglücklich und unbefriedigt zu entlassen, mit einer Heirath
schließt; aber die Menge der Hindernisse, welche überstiegen werden müssen,
ist gewöhnlich sehr groß. Ju den orthodoxen Romanen der guten alten
Schule waren die Schranken auf dem Wege der Ehe gemeinhin von zweierlei
Art. Entweder die Dame liebte den Herrn nicht, oder der Herr liebte die
Dame nicht. Jm Ganzen ist doch gegenseitige Zuneigung kein allge-
meines Gesetz, außer bei königlichen Prinzen und Prinzessinnen, und eine
unerwiderte Liebe, wäre das Unglück auch nur ein zeitweiliges, ist gewiß
nichts Unerhörtes. Die andere Art der Schwierigkeit war: wie wird man
mit grausamen Aeltern fertig? Und die Romanschreiber zu Anfang dieses
Jahrhunderts wußten, ihr Privilegium benutzend, eine schwere Rolle daraus
zu machen. Durch zwei Bände bemühten sich hartherzige Väter und
Mütter, ihre edle und heldenhafte Tochter zu überzeugen, daß sie den einen
Junker lieben sollte, während sie in der That ihr Herz einem Andern ge-
schenkt hat. Der Strom der wahren Liebe floß nicht sanft dahin, wohl
aber in gerader Linie; denn seine Richtschnur war die ausschließliche Hin-
gebung an den einen Mann, dem die Aeltern niemals ihre Gunst schenken
wollten. Jndessen sind die Moden in der Dichtkunst wie in allen anderen
Dingen veränderlich, und diese Mode kommt jetzt, so zu sagen, schon aus
der Mode. Eine durchaus neue Schwierigkeit ist an Stelle derselben be-
liebt geworden. Grausame Väter giebt es nicht mehr -- wahrscheinlich Dank
dem sich im häuslichen Leben ebenso wie im politischen immer mehr Bahn
brechenden Konstitutionalismus -- und die Romanschriftsteller mußten andere
furchtbare Ursachen dafür finden, daß sich die Heldin nie in den ersten beiden
Bänden der Geschichte verheirathen darf. Eine vielfach angewendete Me-
thode, den Zwischenraum auszufüllen, besteht, wie es scheint, in einer Aus-
arbeitung der Jdee einer zeitweiligen Unverträglichkeit der Charaktere.
Wenn sie keine Aeltern haben, die sie unglücklich machen, so müssen die Lie-
benden auf den Einfall kommen, sich selbst, Einer dem Andern, unaus-
stehlich zu machen. Selbstverständlich bleiben sie dabei ein zärtlich ver-
liebtes Paar; nur der Eine hat einen Charakterzug, den der Andere erst
überwinden muß. Entweder ist der Held ungerecht, oder die Heldin ist zu
heftig, und nach einer zunehmenden Spannung und Kälte giebt er ihr die
Briefe, die er von ihr bekommen, und ihre Haarlocke zurück, und um ein
Geringes ist Alles vorbei zwischen Beiden. Jn derselben Zeitperiode stirbt
gewöhnlich der Vater der jungen Dame und läßt sie in verhältnißmäßiger
Armuth, da es ein bekannter Umstand ist, seitdem es Aktiengesellschaften
giebt, daß ältliche Herren mit liebenswürdigen Töchtern heimlich hoch
spekuliren und in dem Augenblick sterben, wo ihre finanziellen Verlegen-
heiten den Höhepunkt erreichen. Die zermalmte und gedemüthigte Schöne
muß sich entschließen, als Gouvernante Geld zu verdienen. Nun ihr August
ihre Briefe zurückgegeben, hat sie Niemanden, den sie lieben könnte, und jetzt
käme höchstens noch der Pfarrer der benachbarten Gemeinde, um ihr einen
Antrag zu machen. Sie kleidet sich schwarz, macht ein gefährliches Nerven-
fieber durch und kann nachher täglich mit einer Notenmappe am Arm in
Russell= oder in Tawistock=Square gesehen werden. Jn diesem Stadium
der Begebenheiten beginnt der dritte Band. August begegnet ihr in dem
Hause eines gemeinschaftlichen Bekannten. Sie ist nicht mehr das über-
müthige, stürmische, leichtsinnige Wesen, das sie war; sie ist gegen Nie-
manden unfreundlich oder kalt und hat auch keine Launen mehr.

Eines schönen Morgens wird sie in ihrem Wohnstübchen in Thränen
gebadet überrascht; denn die Tritte auf der Treppe hat sie überhört, und
August kehrt zu seiner Pflicht zurück, zur rechten Zeit, um wieder ein
ergebener Liebhaber zu sein und ein glücklicher Gatte und Vater von
zwei lieblichen Kindern zu werden, und niemals, niemals kann es eine
Spannung oder eine Reizbarkeit geben zwischen ihm und dem Weibe seiner
Wahl. Jn einem ganz leidlichen Roman, der kürzlich erschien, hat die
Heldin einen Einfall, sich ihren Liebhaber zu entfremden, der jeden Leser
als absonderlich geistreich überraschen muß. Da sie seinen Widerwillen gegen
peinliche und schauderhafte Geschichten kennt, verharrt sie dabei, nur von Ge-
spenstern und Mördern zu sprechen. Je mehr sie ihn damit ärgert, desto
hartnäckiger bleibt sie dabei; ja, sein Widerwille gegen die Gespenster-
unterhaltung bringt sie zu der Vermuthung, daß er einen Mord begangen
haben muß, der gerade in der Nachbarichaft vorgekommen ist. Aber ein
getretener Wurm krümmt sich, und als unser Held ihren ungerechten Ver-
dacht bemerkt, setzt er sie in Freiheit und geht auf Reisen -- um erst dann
wiederzukommen, wenn der Kummer sie von ihrem Uebermuth kurirt hat
und sie den Mord= und Gespenstergeschichten keinen Reiz mehr abgewinnen
kann. Durch Unglück gedemüthigt und von der Absurdität ihres Verdachts
überzeugt, wird die Heldin sicherlich nie wieder von Gespenstern fabeln.

( Schluß folgt. )



[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Shakespeare=Haus, ein feuchtes und unwohnliches Gebäude. Ob sich hier
einst ein Komödiant bewegt hat oder nicht, gilt mir gleich; ich kenne
von ihm wenig oder gar nichts, und wenn er diesen Baum dort gepflanzt
hat, so hat er ihn sehr unglücklich eingesetzt, denn er macht durch seine
Nähe das Haus noch feuchter, als es schon an sich ist. Uebrigens will ich
mir nicht in meine Befugnisse hineinschwatzen lassen. Also Gott befohlen,
meine Herren!“ Damit ging er in ein anderes Zimmer und ließ die Ma-
gistratsbeamten verdutzt stehen. Mr. Brummel ging langsam durch das
Zimmer, die Stiege hinab und durch den Garten. Seine Kollegen folgten
ihm. Sie warfen noch einen wehmüthigen Blick auf den Baum. Da
stand er und breitete seine noch kraftvollen, mit den saftigen grünen
Blättern bedeckten Zweige über das Dach des Hauses hin; die Abendsonne
spielte auf dem Laubwerk, welches wie mit feinem Silber bezogen glänzte.
Kleine Vögel flatterten umher und zwitscherten. Malerisch trat das Haus
zwischen den Bäumen hervor, die es förmlich zu umarmen schienen, und
der Maulbeerbaum Shakespeare's war der nächste an dem alten Gemäuer;
es mußte einen häßlichen Fleck, eine abscheuliche Lücke, ein garstiges Loch
in diesem reizenden Bilde geben, wenn die freche Hand des Holzfällers den
schönen Baum niedergestreckt hatte. Mr. Brummel und seine Kollegen
befanden sich in einem Zustande höchster Erregung, und deßhalb schien
es sehr natürlich, daß sie sich keinen Zwang anzuthun im Stande
waren. Sie erzählten Abends im Wirthshaus „Zum brittischen Wappen“
von ihrer verunglückten Mission, und wie es keinem Zweifel unterliege,
daß Mr. Fitz=Patrick den Maulbeerbaum Williams umhauen lassen werde.
Die Magistratsbeamten handelten nun zwar, wie es Männern von Gefühl
nicht verargt werden konnte, die ihrer Entrüstung über einen solchen Van-
dalismus freien Lauf ließen; allein als Väter der Stadt begingen sie
immerhin eine Unvorsichtigkeit. Noch an demselben Abend wurde nämlich
die schreckliche Gewißheit kolportirt, daß der Baum des heiligen William
durch die Axt fallen solle, und zwar auf Geheiß eines Pfarrers. Die
Amtsgenossen des Mr. Fitz=Patrick waren selbst sehr ungehalten darüber;
aber sie hatten auf den störrischen Mann keinen Einfluß, und mieden
seinen Umgang. Die Bevölkerung Stratfords aber verhielt sich nicht so
passiv. Sie rottete sich an verschiedenen Orten zusammen und beschloß,
dem Pfarrer Fitz=Patrick eine Sturmpetition zuzusenden. Unter lauten
Hochs auf Shakespeare trennte man sich. Mr. Fitz=Patrick achtete jedoch
nicht dieser drohenden Anzeichen. Noch spät in der Nacht kam der Tischler
Bill Borry aus dem Alehause zurück. Da begegnet ihm Joe Smith. Joe
war Gartengehülfe bei dem Pfarrer. „Morgen giebt es großen Spektakel“,
sagte Joe zu Bill. „Jch haue um sieben Uhr früh den Maulbeerbaum
Shakespeare's um“. Bill Borry fuhr heftig auf. „Was? Der Pfarrer
hat den Teufel im Leibe!“ rief er. „Er will sich wirklich die Stadt auf
den Hals laden?“ Joe zuckte die Achseln. „Wer kann's hindern? Er ist
ja doch Herr seines Gutes“. „Jch legte nicht Hand an den Baum“, sagte
Bill. „Man hat Beispiele, daß den Baumschändern die Hände verdorren“.
„Hm! Der Pfarrer kann's ausmachen. Jch bin ein armer Teufel, ich diene
für Tagelohn, und obenein hat mir der Pfarrer das ganze Holz des ge-
fällten Baumes versprochen — das giebt ein tüchtig Häuflein für die
Küche und den Heerd“. Bill Borry stand einige Sekunden still. Ein
Gedanke schien ihm zu kommen. Er war selbst nur ein kleiner Arbeiter,
der sich und die Seinigen mühsam ernährte; wenn er nur einmal einen
guten Zug thun konnte, dann war ihm geholfen. „Der Baum muß also
fallen, das sehe ich ein“, sagte er ernst. „Aber was thut Jhr mit dem
alten Holz? Jn kurzer Zeit ist es aufgefeuert, und wer weiß, ob Jhr
nicht noch selbst Unannehmlichkeiten haben werdet! Wenn Euch Fitz-
Patrick wirklich das Holz geschenkt hat — so hört mich an. Verkauft es
mir. Sagt Eure Forderung“. „Na — bestimmt Jhr's — was soll ich
fordern?“ „Nach Klaftern?“ „Wie Jhr wollt“. „Hm — gebt fünf
Pfund“. Bill Borry überlegte, wie gering sein Baarvorrath war; er mußte
aber wohl noch gewisse Hülfsmittel im Hintergrunde haben, denn er sagte
schnell genug: „Topp! Hier ist ein Pfund auf Abschlag — ein Handgeld“.
Er reichte Joe ein Pfund. Dieser steckte es hastig in die Tasche. „ Ab-
gemacht “, sagte er. „Nun gute Nacht. Jhr erhaltet das Holz, sobald der
Baum liegt; aber was wollt Jhr eigentlich damit?“ „Laßt das meine
Sache sein. Jch bin ein großer Freund des seligen William, und möchte
den Baum als Erinnerung haben. Jch schneide ihn mir selbst zurecht“.
„Für die Erinnerung an einen Komödianten fünf Pfund!“ murmelte Joe.
„Der Pfarrer hat Recht, hier sind die Leute toll geworden.“ Er befühlte
vergnügt sein Pfund. „Meine Alte wird lachen, wenn ich ihr die Pfunde
aufzähle; Bill hat altes, wurmstichiges Holz“. Borry ging in sein Haus.
„Jch habe nur noch ein Pfund im Hause — mein ganzes Vermögen“,
flüsterte er. „Aber —“ Seine junge Frau erhob schlaftrunken den Kopf
von dem Bettkissen. „Mary“, sagte Bill zu ihr, „wie viel haben unsere
beiden Kinder in der Sparbüchse noch von dem Pathengelde?“ „Vier
Pfund“, sagte Mary erstaunt. „Gut. Jch muß sie morgen haben“.
„Mein Himmel! Das Geld der Kinder —“ „Wird hundertfach ersetzt“.
„Mann, Du hast zu tief ins Glas geschaut!“ „Nichts da. Jch bin sehr
nüchtern; aber ich habe nur noch ein Pfund, dort im Schrank. Das
Letzte aus meiner Tasche habe ich an Joe Smith gegeben; er kriegt auch
die vier aus den Sparbüchsen der Kinder, dafür überläßt er mir den
Maulbeerbaum William Shakespeare's, den der Pfarrer morgen umhauen
läßt, und damit mache ich mein Glück“. Mary sah ihren Gatten in das
Gesicht; sie machte eine ängstliche Miene, aber Bill gab ihr einen Kuß
und sagte: „Schlaf ruhig, es wird zu unserm Glück ausschlagen. Der
selige William hat Alles gut gemacht; er hat vielen Leuten bei seinen
Lebzeiten geholfen, er wird's nach seinem Tode auch noch thun. Alles,
was von Master Shakespeare kommt, ist gut und trefflich.“

( Schluß folgt. )



[Spaltenumbruch]
Die Launen der Verliebten.
Nach einem Artikel der Saturday Review.
Von
F. F.

Wer seine Begriffe von dem modernen englischen Leben darnach bildet,
wie dasselbe in Romanen geschildert ist, der muß sich über die endlosen
Schwierigkeiten wundern, welche dort dem Eingehen eines Ehebündnisses
in den Weg gelegt werden. Betrachtet man indessen die Zahl derer, welche
jedes Jahr in England mit verhältnißmäßig geringer Mühewaltung ver-
heirathet werden, so scheinen die Qualen der Helden und Heldinnen in den
Werken der Dichter sonderbarlich von dem, was in der langweiligen Wirk-
lichkeit vorgeht, abzuweichen. Wahr ist es, daß der dritte Band jedes gut
gehandhabten Romans, der nicht auf dem widernatürlichen Prinzip beruht,
seine Leser unglücklich und unbefriedigt zu entlassen, mit einer Heirath
schließt; aber die Menge der Hindernisse, welche überstiegen werden müssen,
ist gewöhnlich sehr groß. Ju den orthodoxen Romanen der guten alten
Schule waren die Schranken auf dem Wege der Ehe gemeinhin von zweierlei
Art. Entweder die Dame liebte den Herrn nicht, oder der Herr liebte die
Dame nicht. Jm Ganzen ist doch gegenseitige Zuneigung kein allge-
meines Gesetz, außer bei königlichen Prinzen und Prinzessinnen, und eine
unerwiderte Liebe, wäre das Unglück auch nur ein zeitweiliges, ist gewiß
nichts Unerhörtes. Die andere Art der Schwierigkeit war: wie wird man
mit grausamen Aeltern fertig? Und die Romanschreiber zu Anfang dieses
Jahrhunderts wußten, ihr Privilegium benutzend, eine schwere Rolle daraus
zu machen. Durch zwei Bände bemühten sich hartherzige Väter und
Mütter, ihre edle und heldenhafte Tochter zu überzeugen, daß sie den einen
Junker lieben sollte, während sie in der That ihr Herz einem Andern ge-
schenkt hat. Der Strom der wahren Liebe floß nicht sanft dahin, wohl
aber in gerader Linie; denn seine Richtschnur war die ausschließliche Hin-
gebung an den einen Mann, dem die Aeltern niemals ihre Gunst schenken
wollten. Jndessen sind die Moden in der Dichtkunst wie in allen anderen
Dingen veränderlich, und diese Mode kommt jetzt, so zu sagen, schon aus
der Mode. Eine durchaus neue Schwierigkeit ist an Stelle derselben be-
liebt geworden. Grausame Väter giebt es nicht mehr — wahrscheinlich Dank
dem sich im häuslichen Leben ebenso wie im politischen immer mehr Bahn
brechenden Konstitutionalismus — und die Romanschriftsteller mußten andere
furchtbare Ursachen dafür finden, daß sich die Heldin nie in den ersten beiden
Bänden der Geschichte verheirathen darf. Eine vielfach angewendete Me-
thode, den Zwischenraum auszufüllen, besteht, wie es scheint, in einer Aus-
arbeitung der Jdee einer zeitweiligen Unverträglichkeit der Charaktere.
Wenn sie keine Aeltern haben, die sie unglücklich machen, so müssen die Lie-
benden auf den Einfall kommen, sich selbst, Einer dem Andern, unaus-
stehlich zu machen. Selbstverständlich bleiben sie dabei ein zärtlich ver-
liebtes Paar; nur der Eine hat einen Charakterzug, den der Andere erst
überwinden muß. Entweder ist der Held ungerecht, oder die Heldin ist zu
heftig, und nach einer zunehmenden Spannung und Kälte giebt er ihr die
Briefe, die er von ihr bekommen, und ihre Haarlocke zurück, und um ein
Geringes ist Alles vorbei zwischen Beiden. Jn derselben Zeitperiode stirbt
gewöhnlich der Vater der jungen Dame und läßt sie in verhältnißmäßiger
Armuth, da es ein bekannter Umstand ist, seitdem es Aktiengesellschaften
giebt, daß ältliche Herren mit liebenswürdigen Töchtern heimlich hoch
spekuliren und in dem Augenblick sterben, wo ihre finanziellen Verlegen-
heiten den Höhepunkt erreichen. Die zermalmte und gedemüthigte Schöne
muß sich entschließen, als Gouvernante Geld zu verdienen. Nun ihr August
ihre Briefe zurückgegeben, hat sie Niemanden, den sie lieben könnte, und jetzt
käme höchstens noch der Pfarrer der benachbarten Gemeinde, um ihr einen
Antrag zu machen. Sie kleidet sich schwarz, macht ein gefährliches Nerven-
fieber durch und kann nachher täglich mit einer Notenmappe am Arm in
Russell= oder in Tawistock=Square gesehen werden. Jn diesem Stadium
der Begebenheiten beginnt der dritte Band. August begegnet ihr in dem
Hause eines gemeinschaftlichen Bekannten. Sie ist nicht mehr das über-
müthige, stürmische, leichtsinnige Wesen, das sie war; sie ist gegen Nie-
manden unfreundlich oder kalt und hat auch keine Launen mehr.

Eines schönen Morgens wird sie in ihrem Wohnstübchen in Thränen
gebadet überrascht; denn die Tritte auf der Treppe hat sie überhört, und
August kehrt zu seiner Pflicht zurück, zur rechten Zeit, um wieder ein
ergebener Liebhaber zu sein und ein glücklicher Gatte und Vater von
zwei lieblichen Kindern zu werden, und niemals, niemals kann es eine
Spannung oder eine Reizbarkeit geben zwischen ihm und dem Weibe seiner
Wahl. Jn einem ganz leidlichen Roman, der kürzlich erschien, hat die
Heldin einen Einfall, sich ihren Liebhaber zu entfremden, der jeden Leser
als absonderlich geistreich überraschen muß. Da sie seinen Widerwillen gegen
peinliche und schauderhafte Geschichten kennt, verharrt sie dabei, nur von Ge-
spenstern und Mördern zu sprechen. Je mehr sie ihn damit ärgert, desto
hartnäckiger bleibt sie dabei; ja, sein Widerwille gegen die Gespenster-
unterhaltung bringt sie zu der Vermuthung, daß er einen Mord begangen
haben muß, der gerade in der Nachbarichaft vorgekommen ist. Aber ein
getretener Wurm krümmt sich, und als unser Held ihren ungerechten Ver-
dacht bemerkt, setzt er sie in Freiheit und geht auf Reisen — um erst dann
wiederzukommen, wenn der Kummer sie von ihrem Uebermuth kurirt hat
und sie den Mord= und Gespenstergeschichten keinen Reiz mehr abgewinnen
kann. Durch Unglück gedemüthigt und von der Absurdität ihres Verdachts
überzeugt, wird die Heldin sicherlich nie wieder von Gespenstern fabeln.

( Schluß folgt. )



[Ende Spaltensatz]
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[158/0006] 158 Shakespeare=Haus, ein feuchtes und unwohnliches Gebäude. Ob sich hier einst ein Komödiant bewegt hat oder nicht, gilt mir gleich; ich kenne von ihm wenig oder gar nichts, und wenn er diesen Baum dort gepflanzt hat, so hat er ihn sehr unglücklich eingesetzt, denn er macht durch seine Nähe das Haus noch feuchter, als es schon an sich ist. Uebrigens will ich mir nicht in meine Befugnisse hineinschwatzen lassen. Also Gott befohlen, meine Herren!“ Damit ging er in ein anderes Zimmer und ließ die Ma- gistratsbeamten verdutzt stehen. Mr. Brummel ging langsam durch das Zimmer, die Stiege hinab und durch den Garten. Seine Kollegen folgten ihm. Sie warfen noch einen wehmüthigen Blick auf den Baum. Da stand er und breitete seine noch kraftvollen, mit den saftigen grünen Blättern bedeckten Zweige über das Dach des Hauses hin; die Abendsonne spielte auf dem Laubwerk, welches wie mit feinem Silber bezogen glänzte. Kleine Vögel flatterten umher und zwitscherten. Malerisch trat das Haus zwischen den Bäumen hervor, die es förmlich zu umarmen schienen, und der Maulbeerbaum Shakespeare's war der nächste an dem alten Gemäuer; es mußte einen häßlichen Fleck, eine abscheuliche Lücke, ein garstiges Loch in diesem reizenden Bilde geben, wenn die freche Hand des Holzfällers den schönen Baum niedergestreckt hatte. Mr. Brummel und seine Kollegen befanden sich in einem Zustande höchster Erregung, und deßhalb schien es sehr natürlich, daß sie sich keinen Zwang anzuthun im Stande waren. Sie erzählten Abends im Wirthshaus „Zum brittischen Wappen“ von ihrer verunglückten Mission, und wie es keinem Zweifel unterliege, daß Mr. Fitz=Patrick den Maulbeerbaum Williams umhauen lassen werde. Die Magistratsbeamten handelten nun zwar, wie es Männern von Gefühl nicht verargt werden konnte, die ihrer Entrüstung über einen solchen Van- dalismus freien Lauf ließen; allein als Väter der Stadt begingen sie immerhin eine Unvorsichtigkeit. Noch an demselben Abend wurde nämlich die schreckliche Gewißheit kolportirt, daß der Baum des heiligen William durch die Axt fallen solle, und zwar auf Geheiß eines Pfarrers. Die Amtsgenossen des Mr. Fitz=Patrick waren selbst sehr ungehalten darüber; aber sie hatten auf den störrischen Mann keinen Einfluß, und mieden seinen Umgang. Die Bevölkerung Stratfords aber verhielt sich nicht so passiv. Sie rottete sich an verschiedenen Orten zusammen und beschloß, dem Pfarrer Fitz=Patrick eine Sturmpetition zuzusenden. Unter lauten Hochs auf Shakespeare trennte man sich. Mr. Fitz=Patrick achtete jedoch nicht dieser drohenden Anzeichen. Noch spät in der Nacht kam der Tischler Bill Borry aus dem Alehause zurück. Da begegnet ihm Joe Smith. Joe war Gartengehülfe bei dem Pfarrer. „Morgen giebt es großen Spektakel“, sagte Joe zu Bill. „Jch haue um sieben Uhr früh den Maulbeerbaum Shakespeare's um“. Bill Borry fuhr heftig auf. „Was? Der Pfarrer hat den Teufel im Leibe!“ rief er. „Er will sich wirklich die Stadt auf den Hals laden?“ Joe zuckte die Achseln. „Wer kann's hindern? Er ist ja doch Herr seines Gutes“. „Jch legte nicht Hand an den Baum“, sagte Bill. „Man hat Beispiele, daß den Baumschändern die Hände verdorren“. „Hm! Der Pfarrer kann's ausmachen. Jch bin ein armer Teufel, ich diene für Tagelohn, und obenein hat mir der Pfarrer das ganze Holz des ge- fällten Baumes versprochen — das giebt ein tüchtig Häuflein für die Küche und den Heerd“. Bill Borry stand einige Sekunden still. Ein Gedanke schien ihm zu kommen. Er war selbst nur ein kleiner Arbeiter, der sich und die Seinigen mühsam ernährte; wenn er nur einmal einen guten Zug thun konnte, dann war ihm geholfen. „Der Baum muß also fallen, das sehe ich ein“, sagte er ernst. „Aber was thut Jhr mit dem alten Holz? Jn kurzer Zeit ist es aufgefeuert, und wer weiß, ob Jhr nicht noch selbst Unannehmlichkeiten haben werdet! Wenn Euch Fitz- Patrick wirklich das Holz geschenkt hat — so hört mich an. Verkauft es mir. Sagt Eure Forderung“. „Na — bestimmt Jhr's — was soll ich fordern?“ „Nach Klaftern?“ „Wie Jhr wollt“. „Hm — gebt fünf Pfund“. Bill Borry überlegte, wie gering sein Baarvorrath war; er mußte aber wohl noch gewisse Hülfsmittel im Hintergrunde haben, denn er sagte schnell genug: „Topp! Hier ist ein Pfund auf Abschlag — ein Handgeld“. Er reichte Joe ein Pfund. Dieser steckte es hastig in die Tasche. „ Ab- gemacht “, sagte er. „Nun gute Nacht. Jhr erhaltet das Holz, sobald der Baum liegt; aber was wollt Jhr eigentlich damit?“ „Laßt das meine Sache sein. Jch bin ein großer Freund des seligen William, und möchte den Baum als Erinnerung haben. Jch schneide ihn mir selbst zurecht“. „Für die Erinnerung an einen Komödianten fünf Pfund!“ murmelte Joe. „Der Pfarrer hat Recht, hier sind die Leute toll geworden.“ Er befühlte vergnügt sein Pfund. „Meine Alte wird lachen, wenn ich ihr die Pfunde aufzähle; Bill hat altes, wurmstichiges Holz“. Borry ging in sein Haus. „Jch habe nur noch ein Pfund im Hause — mein ganzes Vermögen“, flüsterte er. „Aber —“ Seine junge Frau erhob schlaftrunken den Kopf von dem Bettkissen. „Mary“, sagte Bill zu ihr, „wie viel haben unsere beiden Kinder in der Sparbüchse noch von dem Pathengelde?“ „Vier Pfund“, sagte Mary erstaunt. „Gut. Jch muß sie morgen haben“. „Mein Himmel! Das Geld der Kinder —“ „Wird hundertfach ersetzt“. „Mann, Du hast zu tief ins Glas geschaut!“ „Nichts da. Jch bin sehr nüchtern; aber ich habe nur noch ein Pfund, dort im Schrank. Das Letzte aus meiner Tasche habe ich an Joe Smith gegeben; er kriegt auch die vier aus den Sparbüchsen der Kinder, dafür überläßt er mir den Maulbeerbaum William Shakespeare's, den der Pfarrer morgen umhauen läßt, und damit mache ich mein Glück“. Mary sah ihren Gatten in das Gesicht; sie machte eine ängstliche Miene, aber Bill gab ihr einen Kuß und sagte: „Schlaf ruhig, es wird zu unserm Glück ausschlagen. Der selige William hat Alles gut gemacht; er hat vielen Leuten bei seinen Lebzeiten geholfen, er wird's nach seinem Tode auch noch thun. Alles, was von Master Shakespeare kommt, ist gut und trefflich.“ ( Schluß folgt. ) Die Launen der Verliebten. Nach einem Artikel der Saturday Review. Von F. F. Wer seine Begriffe von dem modernen englischen Leben darnach bildet, wie dasselbe in Romanen geschildert ist, der muß sich über die endlosen Schwierigkeiten wundern, welche dort dem Eingehen eines Ehebündnisses in den Weg gelegt werden. Betrachtet man indessen die Zahl derer, welche jedes Jahr in England mit verhältnißmäßig geringer Mühewaltung ver- heirathet werden, so scheinen die Qualen der Helden und Heldinnen in den Werken der Dichter sonderbarlich von dem, was in der langweiligen Wirk- lichkeit vorgeht, abzuweichen. Wahr ist es, daß der dritte Band jedes gut gehandhabten Romans, der nicht auf dem widernatürlichen Prinzip beruht, seine Leser unglücklich und unbefriedigt zu entlassen, mit einer Heirath schließt; aber die Menge der Hindernisse, welche überstiegen werden müssen, ist gewöhnlich sehr groß. Ju den orthodoxen Romanen der guten alten Schule waren die Schranken auf dem Wege der Ehe gemeinhin von zweierlei Art. Entweder die Dame liebte den Herrn nicht, oder der Herr liebte die Dame nicht. Jm Ganzen ist doch gegenseitige Zuneigung kein allge- meines Gesetz, außer bei königlichen Prinzen und Prinzessinnen, und eine unerwiderte Liebe, wäre das Unglück auch nur ein zeitweiliges, ist gewiß nichts Unerhörtes. Die andere Art der Schwierigkeit war: wie wird man mit grausamen Aeltern fertig? Und die Romanschreiber zu Anfang dieses Jahrhunderts wußten, ihr Privilegium benutzend, eine schwere Rolle daraus zu machen. Durch zwei Bände bemühten sich hartherzige Väter und Mütter, ihre edle und heldenhafte Tochter zu überzeugen, daß sie den einen Junker lieben sollte, während sie in der That ihr Herz einem Andern ge- schenkt hat. Der Strom der wahren Liebe floß nicht sanft dahin, wohl aber in gerader Linie; denn seine Richtschnur war die ausschließliche Hin- gebung an den einen Mann, dem die Aeltern niemals ihre Gunst schenken wollten. Jndessen sind die Moden in der Dichtkunst wie in allen anderen Dingen veränderlich, und diese Mode kommt jetzt, so zu sagen, schon aus der Mode. Eine durchaus neue Schwierigkeit ist an Stelle derselben be- liebt geworden. Grausame Väter giebt es nicht mehr — wahrscheinlich Dank dem sich im häuslichen Leben ebenso wie im politischen immer mehr Bahn brechenden Konstitutionalismus — und die Romanschriftsteller mußten andere furchtbare Ursachen dafür finden, daß sich die Heldin nie in den ersten beiden Bänden der Geschichte verheirathen darf. Eine vielfach angewendete Me- thode, den Zwischenraum auszufüllen, besteht, wie es scheint, in einer Aus- arbeitung der Jdee einer zeitweiligen Unverträglichkeit der Charaktere. Wenn sie keine Aeltern haben, die sie unglücklich machen, so müssen die Lie- benden auf den Einfall kommen, sich selbst, Einer dem Andern, unaus- stehlich zu machen. Selbstverständlich bleiben sie dabei ein zärtlich ver- liebtes Paar; nur der Eine hat einen Charakterzug, den der Andere erst überwinden muß. Entweder ist der Held ungerecht, oder die Heldin ist zu heftig, und nach einer zunehmenden Spannung und Kälte giebt er ihr die Briefe, die er von ihr bekommen, und ihre Haarlocke zurück, und um ein Geringes ist Alles vorbei zwischen Beiden. Jn derselben Zeitperiode stirbt gewöhnlich der Vater der jungen Dame und läßt sie in verhältnißmäßiger Armuth, da es ein bekannter Umstand ist, seitdem es Aktiengesellschaften giebt, daß ältliche Herren mit liebenswürdigen Töchtern heimlich hoch spekuliren und in dem Augenblick sterben, wo ihre finanziellen Verlegen- heiten den Höhepunkt erreichen. Die zermalmte und gedemüthigte Schöne muß sich entschließen, als Gouvernante Geld zu verdienen. Nun ihr August ihre Briefe zurückgegeben, hat sie Niemanden, den sie lieben könnte, und jetzt käme höchstens noch der Pfarrer der benachbarten Gemeinde, um ihr einen Antrag zu machen. Sie kleidet sich schwarz, macht ein gefährliches Nerven- fieber durch und kann nachher täglich mit einer Notenmappe am Arm in Russell= oder in Tawistock=Square gesehen werden. Jn diesem Stadium der Begebenheiten beginnt der dritte Band. August begegnet ihr in dem Hause eines gemeinschaftlichen Bekannten. Sie ist nicht mehr das über- müthige, stürmische, leichtsinnige Wesen, das sie war; sie ist gegen Nie- manden unfreundlich oder kalt und hat auch keine Launen mehr. Eines schönen Morgens wird sie in ihrem Wohnstübchen in Thränen gebadet überrascht; denn die Tritte auf der Treppe hat sie überhört, und August kehrt zu seiner Pflicht zurück, zur rechten Zeit, um wieder ein ergebener Liebhaber zu sein und ein glücklicher Gatte und Vater von zwei lieblichen Kindern zu werden, und niemals, niemals kann es eine Spannung oder eine Reizbarkeit geben zwischen ihm und dem Weibe seiner Wahl. Jn einem ganz leidlichen Roman, der kürzlich erschien, hat die Heldin einen Einfall, sich ihren Liebhaber zu entfremden, der jeden Leser als absonderlich geistreich überraschen muß. Da sie seinen Widerwillen gegen peinliche und schauderhafte Geschichten kennt, verharrt sie dabei, nur von Ge- spenstern und Mördern zu sprechen. Je mehr sie ihn damit ärgert, desto hartnäckiger bleibt sie dabei; ja, sein Widerwille gegen die Gespenster- unterhaltung bringt sie zu der Vermuthung, daß er einen Mord begangen haben muß, der gerade in der Nachbarichaft vorgekommen ist. Aber ein getretener Wurm krümmt sich, und als unser Held ihren ungerechten Ver- dacht bemerkt, setzt er sie in Freiheit und geht auf Reisen — um erst dann wiederzukommen, wenn der Kummer sie von ihrem Uebermuth kurirt hat und sie den Mord= und Gespenstergeschichten keinen Reiz mehr abgewinnen kann. Durch Unglück gedemüthigt und von der Absurdität ihres Verdachts überzeugt, wird die Heldin sicherlich nie wieder von Gespenstern fabeln. ( Schluß folgt. )

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 20. Berlin, 17. Mai 1868, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt20_1868/6>, abgerufen am 01.06.2024.