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Sonntags-Blatt. Nr. 21. Berlin, 24. Mai 1868.

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[Beginn Spaltensatz] tigam die Tassen reichen, während der Banquier und Helene sich
lebhaft unterhielten. Helene war anders geworden in der kurzen Zeit,
seit sie sich in diesem Hause befand. Sie war nicht mehr das
ängstliche kranke Wesen, wie vordem in der Stube ihres Vaters; ihr
Gesicht, wenn auch noch mager, hatte Farbe bekommen; ihre
Züge, die starr und scharf gewesen waren, hatten sich gemildert. Die
dunklen Wimpern beschatteten ein seelenvolles Auge, das reiche dunkle
Haar umschloß das feine, länglich geschnittene Gesicht. Um die ganze
Gestalt hatte sich jener zarte Duft der Jungfräulichkeit gelegt, der so
oft entzückt und berauscht. Sie war glücklich geworden in diesen
wenigen Tagen. Was sie bisher entbehrt hatte, hatte sie in reichem
Maße hier gefunden. Marie war eine aufopfernde Freundin, welche
sie hegte und pflegte, wie die kränkelnde Blume am Fenster. Der
Arzt hatte bald alle Medikamente bei Seite gelegt und freute sich
an dem Umgang mit den zwei Mädchen, und Helene bezeigte ihm
ihre Dankbarkeit in rührender Weise.

Am auffälligsten aber benahm sich der Banquier. Als seine Tochter
ihm die Bitte vorgelegt hatte, das fremde Mädchen in das Haus zu
nehmen, hatte er gern eingewilligt; seine Mildherzigkeit war ja nicht
allein in seiner Familie bekannt. Er war auch mit Theilnahme dem
blassen Mädchen entgegengekommen und hatte ihr manches Freund-
liche gesagt. Sonst aber bekümmerte er sich nicht weiter um das
Schaffen und Treiben der neuen Jnwohnerin des Hauses. Jedoch
als mit einem Male die Knospe brach, welche die Kränklichkeit bisher
zu reifen gehindert hatte, als die ersten Sonnenstrahlen auf das lieb-
liche Gesicht schienen, da -- als er zur Zeit des Mittagessens in das
Zimmer trat -- fuhr er zuerst erschrocken zurück, und als er näher
kam und forschend in das Gesicht Helenens blickte, malte sich Staunen
und Schrecken auf seinem Antlitz. Dann eilte er aus dem Zimmer,
und das Essen mußte wieder abgetragen werden; denn es dauerte lange
genug, bis der Banquier wieder erschien und neben den verdutzten
Mädchen seinen Platz einnahm. Kaum aber war die Mahlzeit be-
endet, so forschte er nach dem bisherigen Leben Helenens. Mehrmals
ließ er sich den Namen derselben und ihren früheren Wohnort wieder-
holen, dann ließ er sich den Vater und ihre verstorbene Mutter
beschreiben, und aufmerksam folgte er jedem Wort; zuletzt aber
schüttelte er den Kopf, und immer und immer wieder betrachtete er
die vor ihm stehende Gestalt. Seit diesem Tage überschüttete er
Helene mit Aufmerksamkeiten; sie mußte ein anderes, schöneres Zim-
mer beziehen, das nach seiner Ansicht freundlicher gelegen war; jeden
Morgen sandte er ihr einen prächtigen Blumenstrauß als ersten
Gruß; er, der gewohnt war, die Abende außer dem Hause zu ver-
bringen, blieb jetzt bei den Mädchen und ließ es sich angelegen sein,
ihnen die Abende so angenehm als möglich zu machen. Er schien
wie verjüngt; erregt und heiter scherzte er mit seinen Kindern, und
jedem Einfall der Beiden gab er willig und vergnügt nach. So
hatte sie ihren Vater noch niemals gesehen, versicherte Marie dem
ebenfalls erstaunten Bräutigam.

Der Vater hatte so eben ein Etuis aus der Tasche gezogen und
öffnete es. Es enthielt zwei prächtige Ringe, welche einander voll-
kommen glichen. Er steckte den einen Helenen an den Finger, den an-
dern seiner Tochter.

"Es ist heut mein Geburtstag", sagte er lachend, "und da muß
ich mir doch ein Vergnügen machen."

Alle gratulirten, und Marie fiel ihrem Vater um den Hals.

"Aber Papa", meinte sie, "warum hast Du es so lange ver-
mieden, von Deinem Geburtstag zu sprechen? Oft habe ich Dich
schon darum gefragt, um Dir Etwas zu diesem Tage zu arbeiten,
aber immer sprachst Du, Du wolltest von keinem Geburtstag wissen."

"Jch will es Euch sagen, liebe Kinder", antwortete er langsam;
"an diesem Tage habe ich die schlimmste Nachricht erfahren, welche
mich während meines Lebens erschüttert hat. Heut vor zwanzig Jahren
war es."

"Was war das für eine Nachricht?" fragte die neugierige Marie.

"Du darfst sie nicht wissen, Marie". Er ließ traurig den Kopf
sinken, und eine Thräne glänzte in seinem Auge. "So lange ich
lebe, wird Niemand davon wissen. Wie alt, meinst Du wohl, daß
Dein Vater ist, Marie?" Er suchte sich mit dieser Frage auf andere
Gedanken zu bringen.

"Jch schätze --" Marie wurde nachdenklich und zählte an den
Fingern. "Wie alt bin ich? Achtzehn Jahre. Du wirst doch wohl
mit dreißig Jahren geheirathet haben, Papa?" meinte sie erröthend
und sah Ludwig an. "Also bist Du -- vielleicht achtundvierzig
Jahre."

"Jch bin heut", fiel der Vater ein, "richtig gerechnet, zweiund-
fünfzig Jahre. Wie alt werden Sie sein, Helene?"

[Spaltenumbruch]

"Mit dem kommenden Mai werde ich einundzwanzig Jahre",
erwiderte sie.

"Es würde dies ganz genau treffen" murmelte er leise vor sich
hin. Dann aber schüttelte er den Kopf. "Also einundzwanzig
Jahre", fuhr er in die Höhe. "Du armes Kind, hast so lange die
Welt nur von Deinem Fenster aus, wie im Guckkasten, betrachten
dürfen. Du hast ein trauriges Dasein geführt, Helene". Er legte
seine Hand auf die ihre.

"Ja, es war traurig!" Sie sah ihn mit dankbarem Blick an.

"Was ist denn das für eine Person, welche Sie als Haus-
hälterin bei sich haben, Helene?" fiel Ludwig ein. "Jhr Wesen
gefiel mir nicht."

"Sie ist, so lange ich weiß, immer bei uns gewesen. Meine
Mutter fürchtete sich stets vor ihr. Sie hat einen so unheimlichen
Blick und sieht sich immer mißtrauisch um. Manchmal spricht sie
den ganzen Tag kein Wort. Die Mutter sagte mir einmal, sie bleibe
bei uns, weil sie ein schweres Geheimniß wisse."

"Also doch ein Geheimniß", sagte Ludwig. "Weiter sprach Jhre
Mutter nicht darüber?"

"Nein; sie fing dann immer an zu schluchzen und ging auf ihr
Zimmer."

Der Banquier war währenddessen aufgestanden und hatte sich mit
schnellen Schritten nach dem Hause gewandt. Jetzt sahen sie ihn
wieder herauskommen. Helene eilte ihm entgegen und wollte ihm
einen Gegenstand abnehmen, welchen er mit beiden Händen hielt. Er
ließ es nicht zu, sondern wehrte ihr eifrig, als sie danach griff. Am
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befestigt war, und indem er das Bild selbst -- denn Alle erkann-
ten jetzt, daß es ein Bild war -- noch verhüllt hielt, sagte er mit
etwas feierlicher Stimme:

"Jch will Euch hier ein Bild zeigen, das lange Jahre nicht von
mir aufgedeckt worden ist. Jch habe es hervorgesucht, weil ich zu
erkennen wünsche, ob Euch ebenfalls etwas dabei auffällig ist."

Damit nahm er den Schleier weg. Es war ein Oelbild von
mittlerer Größe, ein weibliches Brustbild. Die Farben waren gut
erhalten, und als er es auf den Tisch aufgestellt hatte, entfuhr Marie
und Ludwig gleichzeitig ein Ausruf des Staunens.

"Helene!" rief Marie aus und sah diese von der Seite an.

Helene schaute verwundert auf das Bild. Es war doch, wenn
man genauer hinsah, ein Unterschied zwischen dem Mädchen, welches
hier stand, und dem Gemälde. Beide hatten denselben Gesichts-
ausdruck, dasselbe dunkle Haar, und gerade so war es auf dem Ge-
mälde gescheitelt und geordnet, wie es Helene trug. Aber unverkennbar
war es, daß das Gemälde eine junge Frau vorstellte. Die zarten
Linien der Jungfrau waren etwas verwischt, und das Bild zeigte eine
gewisse Körperfülle, welche Helene nicht besaß.

"Es ist nicht das Bild von Helene", sagte Ludwig und holte
dabei tief Athem, als wenn er sich erleichtert fühle; "aber die Aehnlich-
keit ist sehr groß."

"Woher kommt diese erstaunliche Aehnlichkeit, Papa?" Damit
wandte sich Marie an den Banquier, der im Hintergrund stand und
die Hände gefaltet mit Andacht das Bild betrachtete.

"Jch weiß es mir selbst nicht zu erklären", antwortete dieser.
"Die Aehnlichkeit ist zu stark, als daß sie zufällig sein könnte", fügte
er leise hinzu; dann zu Helene gewandt: "Kennen Sie Niemand in
Jhrer Familie, der diesem Bilde geglichen hätte?"

"Nein; meine Mutter sah anders aus, so bleich und mager, wie ich
während meiner Krankheit; Verwandte habe ich meines Wissens nicht."

"Aber Du mußt es doch selbst wissen, Papa, wen dies Bild vor-
stellen soll", meinte die neugierige Marie.

Zögernd antwortete er:

"Jch weiß es nicht, ich habe -- das Bild von einem guten
Maler gekauft, ja -- ich habe es gekauft, ohne zu wissen, wen es
vorstellt."

Die Worte waren unsicher gesprochen, offenbar darauf berechnet,
weiteren Fragen Einhalt zu thun. Er nahm jetzt das Bild vom
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wieder. Eine gewisse Mißstimmung lagerte auf seinem Gesicht; er
hatte geglaubt, einen Aufschluß über eine Sache erhalten zu können,
und deßhalb das Bild hervorgeholt. Jetzt sah er ein, daß er nur
die Neugierde damit gereizt habe.

Da kam gerade zur rechten Zeit, als Verlegenheit aus aller
Mienen sprach, der Assessor und seine Braut in den Garten. Die
Begrüßung der jungen Leute gab dem Banquier Gelegenheit, sich
mit dem Bilde zu entfernen.

( Fortsetzung folgt. )

[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] tigam die Tassen reichen, während der Banquier und Helene sich
lebhaft unterhielten. Helene war anders geworden in der kurzen Zeit,
seit sie sich in diesem Hause befand. Sie war nicht mehr das
ängstliche kranke Wesen, wie vordem in der Stube ihres Vaters; ihr
Gesicht, wenn auch noch mager, hatte Farbe bekommen; ihre
Züge, die starr und scharf gewesen waren, hatten sich gemildert. Die
dunklen Wimpern beschatteten ein seelenvolles Auge, das reiche dunkle
Haar umschloß das feine, länglich geschnittene Gesicht. Um die ganze
Gestalt hatte sich jener zarte Duft der Jungfräulichkeit gelegt, der so
oft entzückt und berauscht. Sie war glücklich geworden in diesen
wenigen Tagen. Was sie bisher entbehrt hatte, hatte sie in reichem
Maße hier gefunden. Marie war eine aufopfernde Freundin, welche
sie hegte und pflegte, wie die kränkelnde Blume am Fenster. Der
Arzt hatte bald alle Medikamente bei Seite gelegt und freute sich
an dem Umgang mit den zwei Mädchen, und Helene bezeigte ihm
ihre Dankbarkeit in rührender Weise.

Am auffälligsten aber benahm sich der Banquier. Als seine Tochter
ihm die Bitte vorgelegt hatte, das fremde Mädchen in das Haus zu
nehmen, hatte er gern eingewilligt; seine Mildherzigkeit war ja nicht
allein in seiner Familie bekannt. Er war auch mit Theilnahme dem
blassen Mädchen entgegengekommen und hatte ihr manches Freund-
liche gesagt. Sonst aber bekümmerte er sich nicht weiter um das
Schaffen und Treiben der neuen Jnwohnerin des Hauses. Jedoch
als mit einem Male die Knospe brach, welche die Kränklichkeit bisher
zu reifen gehindert hatte, als die ersten Sonnenstrahlen auf das lieb-
liche Gesicht schienen, da — als er zur Zeit des Mittagessens in das
Zimmer trat — fuhr er zuerst erschrocken zurück, und als er näher
kam und forschend in das Gesicht Helenens blickte, malte sich Staunen
und Schrecken auf seinem Antlitz. Dann eilte er aus dem Zimmer,
und das Essen mußte wieder abgetragen werden; denn es dauerte lange
genug, bis der Banquier wieder erschien und neben den verdutzten
Mädchen seinen Platz einnahm. Kaum aber war die Mahlzeit be-
endet, so forschte er nach dem bisherigen Leben Helenens. Mehrmals
ließ er sich den Namen derselben und ihren früheren Wohnort wieder-
holen, dann ließ er sich den Vater und ihre verstorbene Mutter
beschreiben, und aufmerksam folgte er jedem Wort; zuletzt aber
schüttelte er den Kopf, und immer und immer wieder betrachtete er
die vor ihm stehende Gestalt. Seit diesem Tage überschüttete er
Helene mit Aufmerksamkeiten; sie mußte ein anderes, schöneres Zim-
mer beziehen, das nach seiner Ansicht freundlicher gelegen war; jeden
Morgen sandte er ihr einen prächtigen Blumenstrauß als ersten
Gruß; er, der gewohnt war, die Abende außer dem Hause zu ver-
bringen, blieb jetzt bei den Mädchen und ließ es sich angelegen sein,
ihnen die Abende so angenehm als möglich zu machen. Er schien
wie verjüngt; erregt und heiter scherzte er mit seinen Kindern, und
jedem Einfall der Beiden gab er willig und vergnügt nach. So
hatte sie ihren Vater noch niemals gesehen, versicherte Marie dem
ebenfalls erstaunten Bräutigam.

Der Vater hatte so eben ein Etuis aus der Tasche gezogen und
öffnete es. Es enthielt zwei prächtige Ringe, welche einander voll-
kommen glichen. Er steckte den einen Helenen an den Finger, den an-
dern seiner Tochter.

„Es ist heut mein Geburtstag“, sagte er lachend, „und da muß
ich mir doch ein Vergnügen machen.“

Alle gratulirten, und Marie fiel ihrem Vater um den Hals.

„Aber Papa“, meinte sie, „warum hast Du es so lange ver-
mieden, von Deinem Geburtstag zu sprechen? Oft habe ich Dich
schon darum gefragt, um Dir Etwas zu diesem Tage zu arbeiten,
aber immer sprachst Du, Du wolltest von keinem Geburtstag wissen.“

„Jch will es Euch sagen, liebe Kinder“, antwortete er langsam;
„an diesem Tage habe ich die schlimmste Nachricht erfahren, welche
mich während meines Lebens erschüttert hat. Heut vor zwanzig Jahren
war es.“

„Was war das für eine Nachricht?“ fragte die neugierige Marie.

„Du darfst sie nicht wissen, Marie“. Er ließ traurig den Kopf
sinken, und eine Thräne glänzte in seinem Auge. „So lange ich
lebe, wird Niemand davon wissen. Wie alt, meinst Du wohl, daß
Dein Vater ist, Marie?“ Er suchte sich mit dieser Frage auf andere
Gedanken zu bringen.

„Jch schätze —“ Marie wurde nachdenklich und zählte an den
Fingern. „Wie alt bin ich? Achtzehn Jahre. Du wirst doch wohl
mit dreißig Jahren geheirathet haben, Papa?“ meinte sie erröthend
und sah Ludwig an. „Also bist Du — vielleicht achtundvierzig
Jahre.“

„Jch bin heut“, fiel der Vater ein, „richtig gerechnet, zweiund-
fünfzig Jahre. Wie alt werden Sie sein, Helene?“

[Spaltenumbruch]

„Mit dem kommenden Mai werde ich einundzwanzig Jahre“,
erwiderte sie.

„Es würde dies ganz genau treffen“ murmelte er leise vor sich
hin. Dann aber schüttelte er den Kopf. „Also einundzwanzig
Jahre“, fuhr er in die Höhe. „Du armes Kind, hast so lange die
Welt nur von Deinem Fenster aus, wie im Guckkasten, betrachten
dürfen. Du hast ein trauriges Dasein geführt, Helene“. Er legte
seine Hand auf die ihre.

„Ja, es war traurig!“ Sie sah ihn mit dankbarem Blick an.

„Was ist denn das für eine Person, welche Sie als Haus-
hälterin bei sich haben, Helene?“ fiel Ludwig ein. „Jhr Wesen
gefiel mir nicht.“

„Sie ist, so lange ich weiß, immer bei uns gewesen. Meine
Mutter fürchtete sich stets vor ihr. Sie hat einen so unheimlichen
Blick und sieht sich immer mißtrauisch um. Manchmal spricht sie
den ganzen Tag kein Wort. Die Mutter sagte mir einmal, sie bleibe
bei uns, weil sie ein schweres Geheimniß wisse.“

„Also doch ein Geheimniß“, sagte Ludwig. „Weiter sprach Jhre
Mutter nicht darüber?“

„Nein; sie fing dann immer an zu schluchzen und ging auf ihr
Zimmer.“

Der Banquier war währenddessen aufgestanden und hatte sich mit
schnellen Schritten nach dem Hause gewandt. Jetzt sahen sie ihn
wieder herauskommen. Helene eilte ihm entgegen und wollte ihm
einen Gegenstand abnehmen, welchen er mit beiden Händen hielt. Er
ließ es nicht zu, sondern wehrte ihr eifrig, als sie danach griff. Am
Tisch machte er einen dichten Schleier los, der über einem Goldrahmen
befestigt war, und indem er das Bild selbst — denn Alle erkann-
ten jetzt, daß es ein Bild war — noch verhüllt hielt, sagte er mit
etwas feierlicher Stimme:

„Jch will Euch hier ein Bild zeigen, das lange Jahre nicht von
mir aufgedeckt worden ist. Jch habe es hervorgesucht, weil ich zu
erkennen wünsche, ob Euch ebenfalls etwas dabei auffällig ist.“

Damit nahm er den Schleier weg. Es war ein Oelbild von
mittlerer Größe, ein weibliches Brustbild. Die Farben waren gut
erhalten, und als er es auf den Tisch aufgestellt hatte, entfuhr Marie
und Ludwig gleichzeitig ein Ausruf des Staunens.

„Helene!“ rief Marie aus und sah diese von der Seite an.

Helene schaute verwundert auf das Bild. Es war doch, wenn
man genauer hinsah, ein Unterschied zwischen dem Mädchen, welches
hier stand, und dem Gemälde. Beide hatten denselben Gesichts-
ausdruck, dasselbe dunkle Haar, und gerade so war es auf dem Ge-
mälde gescheitelt und geordnet, wie es Helene trug. Aber unverkennbar
war es, daß das Gemälde eine junge Frau vorstellte. Die zarten
Linien der Jungfrau waren etwas verwischt, und das Bild zeigte eine
gewisse Körperfülle, welche Helene nicht besaß.

„Es ist nicht das Bild von Helene“, sagte Ludwig und holte
dabei tief Athem, als wenn er sich erleichtert fühle; „aber die Aehnlich-
keit ist sehr groß.“

„Woher kommt diese erstaunliche Aehnlichkeit, Papa?“ Damit
wandte sich Marie an den Banquier, der im Hintergrund stand und
die Hände gefaltet mit Andacht das Bild betrachtete.

„Jch weiß es mir selbst nicht zu erklären“, antwortete dieser.
„Die Aehnlichkeit ist zu stark, als daß sie zufällig sein könnte“, fügte
er leise hinzu; dann zu Helene gewandt: „Kennen Sie Niemand in
Jhrer Familie, der diesem Bilde geglichen hätte?“

„Nein; meine Mutter sah anders aus, so bleich und mager, wie ich
während meiner Krankheit; Verwandte habe ich meines Wissens nicht.“

„Aber Du mußt es doch selbst wissen, Papa, wen dies Bild vor-
stellen soll“, meinte die neugierige Marie.

Zögernd antwortete er:

„Jch weiß es nicht, ich habe — das Bild von einem guten
Maler gekauft, ja — ich habe es gekauft, ohne zu wissen, wen es
vorstellt.“

Die Worte waren unsicher gesprochen, offenbar darauf berechnet,
weiteren Fragen Einhalt zu thun. Er nahm jetzt das Bild vom
Tisch, betrachtete es noch eine kurze Weile und verhüllte es dann
wieder. Eine gewisse Mißstimmung lagerte auf seinem Gesicht; er
hatte geglaubt, einen Aufschluß über eine Sache erhalten zu können,
und deßhalb das Bild hervorgeholt. Jetzt sah er ein, daß er nur
die Neugierde damit gereizt habe.

Da kam gerade zur rechten Zeit, als Verlegenheit aus aller
Mienen sprach, der Assessor und seine Braut in den Garten. Die
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( Fortsetzung folgt. )

[Ende Spaltensatz]

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[163/0003] 163 tigam die Tassen reichen, während der Banquier und Helene sich lebhaft unterhielten. Helene war anders geworden in der kurzen Zeit, seit sie sich in diesem Hause befand. Sie war nicht mehr das ängstliche kranke Wesen, wie vordem in der Stube ihres Vaters; ihr Gesicht, wenn auch noch mager, hatte Farbe bekommen; ihre Züge, die starr und scharf gewesen waren, hatten sich gemildert. Die dunklen Wimpern beschatteten ein seelenvolles Auge, das reiche dunkle Haar umschloß das feine, länglich geschnittene Gesicht. Um die ganze Gestalt hatte sich jener zarte Duft der Jungfräulichkeit gelegt, der so oft entzückt und berauscht. Sie war glücklich geworden in diesen wenigen Tagen. Was sie bisher entbehrt hatte, hatte sie in reichem Maße hier gefunden. Marie war eine aufopfernde Freundin, welche sie hegte und pflegte, wie die kränkelnde Blume am Fenster. Der Arzt hatte bald alle Medikamente bei Seite gelegt und freute sich an dem Umgang mit den zwei Mädchen, und Helene bezeigte ihm ihre Dankbarkeit in rührender Weise. Am auffälligsten aber benahm sich der Banquier. Als seine Tochter ihm die Bitte vorgelegt hatte, das fremde Mädchen in das Haus zu nehmen, hatte er gern eingewilligt; seine Mildherzigkeit war ja nicht allein in seiner Familie bekannt. Er war auch mit Theilnahme dem blassen Mädchen entgegengekommen und hatte ihr manches Freund- liche gesagt. Sonst aber bekümmerte er sich nicht weiter um das Schaffen und Treiben der neuen Jnwohnerin des Hauses. Jedoch als mit einem Male die Knospe brach, welche die Kränklichkeit bisher zu reifen gehindert hatte, als die ersten Sonnenstrahlen auf das lieb- liche Gesicht schienen, da — als er zur Zeit des Mittagessens in das Zimmer trat — fuhr er zuerst erschrocken zurück, und als er näher kam und forschend in das Gesicht Helenens blickte, malte sich Staunen und Schrecken auf seinem Antlitz. Dann eilte er aus dem Zimmer, und das Essen mußte wieder abgetragen werden; denn es dauerte lange genug, bis der Banquier wieder erschien und neben den verdutzten Mädchen seinen Platz einnahm. Kaum aber war die Mahlzeit be- endet, so forschte er nach dem bisherigen Leben Helenens. Mehrmals ließ er sich den Namen derselben und ihren früheren Wohnort wieder- holen, dann ließ er sich den Vater und ihre verstorbene Mutter beschreiben, und aufmerksam folgte er jedem Wort; zuletzt aber schüttelte er den Kopf, und immer und immer wieder betrachtete er die vor ihm stehende Gestalt. Seit diesem Tage überschüttete er Helene mit Aufmerksamkeiten; sie mußte ein anderes, schöneres Zim- mer beziehen, das nach seiner Ansicht freundlicher gelegen war; jeden Morgen sandte er ihr einen prächtigen Blumenstrauß als ersten Gruß; er, der gewohnt war, die Abende außer dem Hause zu ver- bringen, blieb jetzt bei den Mädchen und ließ es sich angelegen sein, ihnen die Abende so angenehm als möglich zu machen. Er schien wie verjüngt; erregt und heiter scherzte er mit seinen Kindern, und jedem Einfall der Beiden gab er willig und vergnügt nach. So hatte sie ihren Vater noch niemals gesehen, versicherte Marie dem ebenfalls erstaunten Bräutigam. Der Vater hatte so eben ein Etuis aus der Tasche gezogen und öffnete es. Es enthielt zwei prächtige Ringe, welche einander voll- kommen glichen. Er steckte den einen Helenen an den Finger, den an- dern seiner Tochter. „Es ist heut mein Geburtstag“, sagte er lachend, „und da muß ich mir doch ein Vergnügen machen.“ Alle gratulirten, und Marie fiel ihrem Vater um den Hals. „Aber Papa“, meinte sie, „warum hast Du es so lange ver- mieden, von Deinem Geburtstag zu sprechen? Oft habe ich Dich schon darum gefragt, um Dir Etwas zu diesem Tage zu arbeiten, aber immer sprachst Du, Du wolltest von keinem Geburtstag wissen.“ „Jch will es Euch sagen, liebe Kinder“, antwortete er langsam; „an diesem Tage habe ich die schlimmste Nachricht erfahren, welche mich während meines Lebens erschüttert hat. Heut vor zwanzig Jahren war es.“ „Was war das für eine Nachricht?“ fragte die neugierige Marie. „Du darfst sie nicht wissen, Marie“. Er ließ traurig den Kopf sinken, und eine Thräne glänzte in seinem Auge. „So lange ich lebe, wird Niemand davon wissen. Wie alt, meinst Du wohl, daß Dein Vater ist, Marie?“ Er suchte sich mit dieser Frage auf andere Gedanken zu bringen. „Jch schätze —“ Marie wurde nachdenklich und zählte an den Fingern. „Wie alt bin ich? Achtzehn Jahre. Du wirst doch wohl mit dreißig Jahren geheirathet haben, Papa?“ meinte sie erröthend und sah Ludwig an. „Also bist Du — vielleicht achtundvierzig Jahre.“ „Jch bin heut“, fiel der Vater ein, „richtig gerechnet, zweiund- fünfzig Jahre. Wie alt werden Sie sein, Helene?“ „Mit dem kommenden Mai werde ich einundzwanzig Jahre“, erwiderte sie. „Es würde dies ganz genau treffen“ murmelte er leise vor sich hin. Dann aber schüttelte er den Kopf. „Also einundzwanzig Jahre“, fuhr er in die Höhe. „Du armes Kind, hast so lange die Welt nur von Deinem Fenster aus, wie im Guckkasten, betrachten dürfen. Du hast ein trauriges Dasein geführt, Helene“. Er legte seine Hand auf die ihre. „Ja, es war traurig!“ Sie sah ihn mit dankbarem Blick an. „Was ist denn das für eine Person, welche Sie als Haus- hälterin bei sich haben, Helene?“ fiel Ludwig ein. „Jhr Wesen gefiel mir nicht.“ „Sie ist, so lange ich weiß, immer bei uns gewesen. Meine Mutter fürchtete sich stets vor ihr. Sie hat einen so unheimlichen Blick und sieht sich immer mißtrauisch um. Manchmal spricht sie den ganzen Tag kein Wort. Die Mutter sagte mir einmal, sie bleibe bei uns, weil sie ein schweres Geheimniß wisse.“ „Also doch ein Geheimniß“, sagte Ludwig. „Weiter sprach Jhre Mutter nicht darüber?“ „Nein; sie fing dann immer an zu schluchzen und ging auf ihr Zimmer.“ Der Banquier war währenddessen aufgestanden und hatte sich mit schnellen Schritten nach dem Hause gewandt. Jetzt sahen sie ihn wieder herauskommen. Helene eilte ihm entgegen und wollte ihm einen Gegenstand abnehmen, welchen er mit beiden Händen hielt. Er ließ es nicht zu, sondern wehrte ihr eifrig, als sie danach griff. Am Tisch machte er einen dichten Schleier los, der über einem Goldrahmen befestigt war, und indem er das Bild selbst — denn Alle erkann- ten jetzt, daß es ein Bild war — noch verhüllt hielt, sagte er mit etwas feierlicher Stimme: „Jch will Euch hier ein Bild zeigen, das lange Jahre nicht von mir aufgedeckt worden ist. Jch habe es hervorgesucht, weil ich zu erkennen wünsche, ob Euch ebenfalls etwas dabei auffällig ist.“ Damit nahm er den Schleier weg. Es war ein Oelbild von mittlerer Größe, ein weibliches Brustbild. Die Farben waren gut erhalten, und als er es auf den Tisch aufgestellt hatte, entfuhr Marie und Ludwig gleichzeitig ein Ausruf des Staunens. „Helene!“ rief Marie aus und sah diese von der Seite an. Helene schaute verwundert auf das Bild. Es war doch, wenn man genauer hinsah, ein Unterschied zwischen dem Mädchen, welches hier stand, und dem Gemälde. Beide hatten denselben Gesichts- ausdruck, dasselbe dunkle Haar, und gerade so war es auf dem Ge- mälde gescheitelt und geordnet, wie es Helene trug. Aber unverkennbar war es, daß das Gemälde eine junge Frau vorstellte. Die zarten Linien der Jungfrau waren etwas verwischt, und das Bild zeigte eine gewisse Körperfülle, welche Helene nicht besaß. „Es ist nicht das Bild von Helene“, sagte Ludwig und holte dabei tief Athem, als wenn er sich erleichtert fühle; „aber die Aehnlich- keit ist sehr groß.“ „Woher kommt diese erstaunliche Aehnlichkeit, Papa?“ Damit wandte sich Marie an den Banquier, der im Hintergrund stand und die Hände gefaltet mit Andacht das Bild betrachtete. „Jch weiß es mir selbst nicht zu erklären“, antwortete dieser. „Die Aehnlichkeit ist zu stark, als daß sie zufällig sein könnte“, fügte er leise hinzu; dann zu Helene gewandt: „Kennen Sie Niemand in Jhrer Familie, der diesem Bilde geglichen hätte?“ „Nein; meine Mutter sah anders aus, so bleich und mager, wie ich während meiner Krankheit; Verwandte habe ich meines Wissens nicht.“ „Aber Du mußt es doch selbst wissen, Papa, wen dies Bild vor- stellen soll“, meinte die neugierige Marie. Zögernd antwortete er: „Jch weiß es nicht, ich habe — das Bild von einem guten Maler gekauft, ja — ich habe es gekauft, ohne zu wissen, wen es vorstellt.“ Die Worte waren unsicher gesprochen, offenbar darauf berechnet, weiteren Fragen Einhalt zu thun. Er nahm jetzt das Bild vom Tisch, betrachtete es noch eine kurze Weile und verhüllte es dann wieder. Eine gewisse Mißstimmung lagerte auf seinem Gesicht; er hatte geglaubt, einen Aufschluß über eine Sache erhalten zu können, und deßhalb das Bild hervorgeholt. Jetzt sah er ein, daß er nur die Neugierde damit gereizt habe. Da kam gerade zur rechten Zeit, als Verlegenheit aus aller Mienen sprach, der Assessor und seine Braut in den Garten. Die Begrüßung der jungen Leute gab dem Banquier Gelegenheit, sich mit dem Bilde zu entfernen. ( Fortsetzung folgt. )

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 21. Berlin, 24. Mai 1868, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt21_1868/3>, abgerufen am 01.06.2024.