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Sonntags-Blatt. Nr. 24. Berlin, 13. Juni 1869.

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[Beginn Spaltensatz] mand kann behaupten, daß des Enterichs Liebe in dieser Zeit nicht
ganz ebenso glühend, treu und innig sei, als die aller Uebrigen; er
verfolgt sein Schätzchen auf Schritt und Tritt, wackelt so verliebt,
wie nur irgend Einer, hinter ihr her, und schwimmt jetzt vor uns auf
dem Wasser wohl stundenlang mit ihr in der Runde, um ihre höchste
Gunst zu erwerben. Allein er ist ein loser Schelm, und zwar in viel
höherem Grade, als viele Menschenkinder. Denn kaum beginnt die
junge Entenfrau, sich häuslich einzurichten, ihr Nest mehr und mehr
mit Eiern zu füllen, oder gar zu brüten -- da läßt er sie im Stich,
eilt davon, seinen früheren Kumpanen zu, mit denen er lustig in
Saus und Braus lebt und um sein armes Weib sich gar nicht mehr
bekümmert, während die brave Mutter eine ganze Schaar kleinen Nach-
wuchses in treuester Sorgfalt erbrütet, schützt und ernährt.

Dies sei jedoch nur nebensächlich hier erzählt. Während unserer
Betrachtungen sind die beiden Enten unweit von uns an's Land ge-
kommen und schnattern hier gar vergnüglich in dem sumpfigen Morast
einer kleinen Bucht umher.

Wiederum beginnen drüben, vom spitzigen Kirchthurm her, die
melodischen Klänge der Glocken. Jn der That, ein lieblicheres Bild
des Friedens und der Ruhe, als es hier vor uns im Bereich jener
Friedensstimmen liegt, kann man unmöglich sich denken, und wer uns
da von "Kampf und Krieg in der Natur" erzählen wollte, den wür-
den wir verlachen und würden ihm höhnend zurufen: "Ja, werther
Mensch, bei Dir, in Deiner Welt, mag all' der grimmige Kampf
um's Dasein heimisch sein und immerfort toben -- hier aber, in der
schönen, freien Natur, giebt's nur Friede, Glück und Wonne."

Höher steigen die Schatten; um uns, im kleinen Erlengebüsch,
wispern Rothkehlchen und kleine Nonnenmeisen, über uns, auf der Eiche,
schmettert ein Fink seinen einförmigen, doch melodischen Sang, drüben,
vom Föhrenwalde, hallt das Abendlied einer Amsel herüber, hin und
wieder unterbrochen von dem deutlich wahrnehmbaren Klopfen oder
dem schrillen Schrei eines Spechtes.

Allmälig erwacht ein linder Hauch und läßt die Rohrfahnen sanft
hin und her wehen. Tief im grünen Dickicht beginnt ein einsamer
Rohrsänger sein melodienreiches Lied, welches mit dem Jubeltrillern
der Lerchen, dem Waldabendsang der Schwarzdrossel und dem pfei-
fenden Gesumme der Mückenschwärme so unendlich harmonisch ver-
schmilzt.

Ruhe und Friede -- -- -- Da plötzlich hören wir, unweit neben
uns, einen Plump in's Wasser, mit scharfem Patsch, patsch, patsch!
surren die beiden Enten an uns vorüber, davon, und auf einer Rohr-
kaupe erscheint urplötzlich mit funkelndem, lüsternem Blick, mordlustig
geschwungenem Schwanze, der grimmige Räuber Reinicke, welchen dies-
mal nur sein eigenes Ungeschick oder seine Uebereilung zum Fehl-
sprung gebracht und damit verhindert hat, dem liebeblinden Wild-
erpel den Hals umzudrehen.

Wie mit einem Schlage ist das Bild vor uns verändert; während
die Enten schreiend und sausend davonfliegen und über der Stätte
hoch in der blauen Luft noch lange umherkreisen, während der Fuchs
Wasser und Morast vom Pelz sich schüttelt und dann mißmuthig
in's Gebüsch zurückschlüpft, haben mit gewaltigem Gekrächze die Krähen
aus den Erlen sich erhoben und fliegen ebenfalls über dem Wasser-
spiegel hin und her, dazwischen kakern drüben, am Waldrand, Elstern,
erschallen die gellenden Rufe eines Hähers, der scharfe Schrei eines
seitwärts aufgescheuchten Reihers, und das entrüstete Zizi -- hä hä hä!
der Meisen.

Auch wir erheben uns in diesem Lärm zum Heimgange. Und
während wir durch das dunkle Vorholz dahinschreiten, hören wir noch
immer weithin die Klagen und Rufe der Entrüstung über den Frevel
jenes blutdürstigen Ruhestörers, welcher jetzt ebenso, wie alle Thier-
welt rings umher, des Schutzes der Schonzeit sich erfreut, und den-
noch seinerseits mordet und raubt, bis ihm endlich, nach der Wieder-
eröffnung der Jagd im Herbst oder Winter, die Vergeltung naht, in
einem wohlgezielten Schusse, im Eisen oder durch das furchtbare Ge-
biß der Windhunde.



Aus der Kaiserstadt an der Donau.
Von
Wilhelm Augerstein.
V.
Die Komödiantenbörse in Wien.

" Eine Komödiantenbörse?" fragt vielleicht Mancher mit einem
etwas zweifelnden Blick auf die Worte, die da schwarz und weiß auf
dem Papier stehen.

Ja, verehrtester Leser, jede Gegend hat ihre Eigenthümlichkeiten
und in jeder Stadt erzeugen die Verhältnisse ihre ganz besonderen
Produkte. Wer in Berlin zwischen elf und zwölf Uhr Vormittags
in das Kastanienwäldchen geht, der findet dort die Musikantenbörse,
[Spaltenumbruch] und wenn er seinen Weg durch den Lustgarten nimmt, so wird er
vor dem Museum noch eine andere Börse zu sehen bekommen, die
anderswo schwerlich ihres Gleichen haben dürfte, nämlich die Bauern-
fängerbörse. So wirft das sociale Leben in dem Gährungsprozeß,
in welchem es sich fortdauernd befindet, manchmal recht seltsame Blasen,
und eine der seltsamsten ist ohne Zweifel die Wiener Komödianten-
börse, die indessen nicht das ganze Jahr hindurch existirt, sondern
nur während einiger Tage alljährlich, während der sogenannten "stillen
Woche", etwa vom Charfreitag bis zum Ostersonntag. Um diese
Zeit versammeln sich die Priester und Priesterinnen Thaliens und
Melpomenens und die Theaterdirektoren aus Znaim, Leitomischl, Jglau,
Stixneusiedl u. s. w., die Tyrannen der wandernden Schauspieler-
truppen reisen in die Kaiserstadt an der Donau, um ihren Bedarf an
"Helden", "Liebhabern", "Liebhaberinnen", "Soubretten", " Natur-
burschen ", "komischen Alten", "Jntriguanten" für die kommende
Saison zu engagiren.

Man darf nicht denken, daß diese Komödiantenbörse etwas Neues
sei; ach nein, schon länger, als Menschengedenken, existirt sie, bereits
vor fünfzig Jahren konnte man sie alljährlich um dieselbe Zeit finden,
aber damals erledigte sie ihre Geschäfte noch nicht in demselben Lokale,
in welchem sie heut tagt. Damals gab es nahe bei dem Theater an
der Wien, wo jetzt Marie Geistinger und Swoboda als leuchtende
Sterne glänzen, in der sogenannten "Leimgrube" ein altes Wirths-
haus, halb von Holz erbaut, verräuchert und schmutzig, wie es eben
das Alter unter gewissen, hier nicht näher zu bezeichnenden Umständen
mit sich bringt, und dies Wirthshaus führte in seinem Schilde den
vielsagenden Namen "Das Loch". Jm "Loch" nun hat die Komö-
diantenbörse zuerst ihre Geschäfte abgeschlossen; man konnte durch die
kleinen, trüben Fenster desselben aufblicken zur Hinterfront des eben
genannten Theaters, es hatte die "Börse" also eine würdige Nach-
barschaft. So schmutzig übrigens das Häuschen aussah, so ist darin
doch stets eine originelle und oftmals eine gewählte Gesellschaft zu
finden gewesen. Es haben dort die klassischsten und unklassischsten
Mimen gehaust, Fritz Demmer, der unübertroffene Melchthal, der
stillbrütende Küstner, der geniale Vagabund Reitzenberg, Ha-
senhut
und Wilhelm Kunst, solche Männer bildeten die Gäste
des "Loch", dessen Wände sie von ihren tollen Späßen und wüsten,
merkwürdigen Gelagen widerhallen ließen. Aber wie die Künstler,
deren Namen hier genannt sind, in Noth und Armuth zu Grunde
gegangen, so ist ihre unscheinbare Stammkneipe endlich auch der Ver-
nichtung anheimgefallen, sie hat vom Erdboden verschwinden müssen,
als der Palast der Geniedirektion und der Kriegsschule erbaut werden
sollte. Jetzt liegen der Hinterfront des Theaters an der Wien die
Fenster von den Wohnzimmern der Kriegsschüler gegenüber, eine Ein-
richtung, die vielleicht mit weiser Berechnung getroffen ist, damit das
Theaterballetpersonal vom Probirzimmer aus ein Objekt für den
Kokettir=Unterricht erhalte und vice versa die Söhne des Mars
einen vortheilhaften strategischen Punkt für ihre speziellen Eroberungs-
pläne gewinnen sollten.

Als das "Loch" das Ende seiner Tage erlebt hatte, mußte die
Komödiantenbörse ein anderes Lokal suchen, und sie fand dasselbe in
der innern Stadt Wien in einem schmalen, stark nach Ammoniak
duftenden Gäßchen hinter der kaiserlichen Oper; aber hier scheint sie
sich nicht recht heimisch gefunden zu haben, denn bald ist sie wieder
ausgezogen, wieder zur Vorstadt in die Nähe des ehemals benutzten
Wirthshauses, wo sie sich heut noch befindet.

Am letzten März knarren die Thore all' der kleinen und größern
dramatischen Marterhöhlen, die man gewöhnlich Theater nennt, in den
Provinzen des Kaiserstaats, und die Mimen, welche dieselben verlassen,
ziehen nach Wien, um sich auf der Komödiantenbörse ein neues Feld
der Wirksamkeit zu erobern. Die Einen kommen mit der Eisenbahn,
die Andern stolz zu Fuß, jene besitzen noch einen Koffer mit " Garde-
robe ", diese haben ihre Habseligkeiten in ein baumwollenes Taschen-
tuch gebunden, aber Alle führen etwas mit sich, das ihnen kein Dieb
rauben kann, obgleich sie glauben, es gehöre ihnen damit gleichzeitig
die Erde mit allen ihren funkelnden Schätzen. Dieses geheimnißvolle
Etwas ist das Künstlerbewußtsein, das der Mephisto aus Stockerau
in mindestens ebenso hohem Maße in sich trägt, wie es nur je ein
Devrient besessen haben kann. Jn Wien angelangt, wandern sie durch
die langen, schmalen Straßen bis in die abgelegene " Dreihufeisen-
gasse " hinter dem Theater an der Wien, dort suchen sie das Gast-
haus "Zum Wasen", und wenn sie die Firma gefunden, dann kehren
sie ein in die dumpfen, gewölbten Räume, wo ihnen das Glück für
das nächste Jahr erblühen soll.

Auch wir, verehrte Leser, treten ein; wir sind so glücklich, einen
Platz an einem großen, runden Tisch zu bekommen, von welchem aus
man das ganze, lange Lokal überblicken kann. Wenigstens hundert
Menschen beiderlei Geschlechts sind anwesend, in lebhafter Unterhaltung
begriffen. Das schwirrt durcheinander in allen nur möglichen Jdiomen.
Wien, Berlin, Sachsen, Baiern, Schwaben, Schlesien, gradezu alle
Dialekte der deutschen Sprache sind hier vertreten. Neben der seidenen
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] mand kann behaupten, daß des Enterichs Liebe in dieser Zeit nicht
ganz ebenso glühend, treu und innig sei, als die aller Uebrigen; er
verfolgt sein Schätzchen auf Schritt und Tritt, wackelt so verliebt,
wie nur irgend Einer, hinter ihr her, und schwimmt jetzt vor uns auf
dem Wasser wohl stundenlang mit ihr in der Runde, um ihre höchste
Gunst zu erwerben. Allein er ist ein loser Schelm, und zwar in viel
höherem Grade, als viele Menschenkinder. Denn kaum beginnt die
junge Entenfrau, sich häuslich einzurichten, ihr Nest mehr und mehr
mit Eiern zu füllen, oder gar zu brüten — da läßt er sie im Stich,
eilt davon, seinen früheren Kumpanen zu, mit denen er lustig in
Saus und Braus lebt und um sein armes Weib sich gar nicht mehr
bekümmert, während die brave Mutter eine ganze Schaar kleinen Nach-
wuchses in treuester Sorgfalt erbrütet, schützt und ernährt.

Dies sei jedoch nur nebensächlich hier erzählt. Während unserer
Betrachtungen sind die beiden Enten unweit von uns an's Land ge-
kommen und schnattern hier gar vergnüglich in dem sumpfigen Morast
einer kleinen Bucht umher.

Wiederum beginnen drüben, vom spitzigen Kirchthurm her, die
melodischen Klänge der Glocken. Jn der That, ein lieblicheres Bild
des Friedens und der Ruhe, als es hier vor uns im Bereich jener
Friedensstimmen liegt, kann man unmöglich sich denken, und wer uns
da von „Kampf und Krieg in der Natur“ erzählen wollte, den wür-
den wir verlachen und würden ihm höhnend zurufen: „Ja, werther
Mensch, bei Dir, in Deiner Welt, mag all' der grimmige Kampf
um's Dasein heimisch sein und immerfort toben — hier aber, in der
schönen, freien Natur, giebt's nur Friede, Glück und Wonne.“

Höher steigen die Schatten; um uns, im kleinen Erlengebüsch,
wispern Rothkehlchen und kleine Nonnenmeisen, über uns, auf der Eiche,
schmettert ein Fink seinen einförmigen, doch melodischen Sang, drüben,
vom Föhrenwalde, hallt das Abendlied einer Amsel herüber, hin und
wieder unterbrochen von dem deutlich wahrnehmbaren Klopfen oder
dem schrillen Schrei eines Spechtes.

Allmälig erwacht ein linder Hauch und läßt die Rohrfahnen sanft
hin und her wehen. Tief im grünen Dickicht beginnt ein einsamer
Rohrsänger sein melodienreiches Lied, welches mit dem Jubeltrillern
der Lerchen, dem Waldabendsang der Schwarzdrossel und dem pfei-
fenden Gesumme der Mückenschwärme so unendlich harmonisch ver-
schmilzt.

Ruhe und Friede — — — Da plötzlich hören wir, unweit neben
uns, einen Plump in's Wasser, mit scharfem Patsch, patsch, patsch!
surren die beiden Enten an uns vorüber, davon, und auf einer Rohr-
kaupe erscheint urplötzlich mit funkelndem, lüsternem Blick, mordlustig
geschwungenem Schwanze, der grimmige Räuber Reinicke, welchen dies-
mal nur sein eigenes Ungeschick oder seine Uebereilung zum Fehl-
sprung gebracht und damit verhindert hat, dem liebeblinden Wild-
erpel den Hals umzudrehen.

Wie mit einem Schlage ist das Bild vor uns verändert; während
die Enten schreiend und sausend davonfliegen und über der Stätte
hoch in der blauen Luft noch lange umherkreisen, während der Fuchs
Wasser und Morast vom Pelz sich schüttelt und dann mißmuthig
in's Gebüsch zurückschlüpft, haben mit gewaltigem Gekrächze die Krähen
aus den Erlen sich erhoben und fliegen ebenfalls über dem Wasser-
spiegel hin und her, dazwischen kakern drüben, am Waldrand, Elstern,
erschallen die gellenden Rufe eines Hähers, der scharfe Schrei eines
seitwärts aufgescheuchten Reihers, und das entrüstete Zizi — hä hä hä!
der Meisen.

Auch wir erheben uns in diesem Lärm zum Heimgange. Und
während wir durch das dunkle Vorholz dahinschreiten, hören wir noch
immer weithin die Klagen und Rufe der Entrüstung über den Frevel
jenes blutdürstigen Ruhestörers, welcher jetzt ebenso, wie alle Thier-
welt rings umher, des Schutzes der Schonzeit sich erfreut, und den-
noch seinerseits mordet und raubt, bis ihm endlich, nach der Wieder-
eröffnung der Jagd im Herbst oder Winter, die Vergeltung naht, in
einem wohlgezielten Schusse, im Eisen oder durch das furchtbare Ge-
biß der Windhunde.



Aus der Kaiserstadt an der Donau.
Von
Wilhelm Augerstein.
V.
Die Komödiantenbörse in Wien.

Eine Komödiantenbörse?“ fragt vielleicht Mancher mit einem
etwas zweifelnden Blick auf die Worte, die da schwarz und weiß auf
dem Papier stehen.

Ja, verehrtester Leser, jede Gegend hat ihre Eigenthümlichkeiten
und in jeder Stadt erzeugen die Verhältnisse ihre ganz besonderen
Produkte. Wer in Berlin zwischen elf und zwölf Uhr Vormittags
in das Kastanienwäldchen geht, der findet dort die Musikantenbörse,
[Spaltenumbruch] und wenn er seinen Weg durch den Lustgarten nimmt, so wird er
vor dem Museum noch eine andere Börse zu sehen bekommen, die
anderswo schwerlich ihres Gleichen haben dürfte, nämlich die Bauern-
fängerbörse. So wirft das sociale Leben in dem Gährungsprozeß,
in welchem es sich fortdauernd befindet, manchmal recht seltsame Blasen,
und eine der seltsamsten ist ohne Zweifel die Wiener Komödianten-
börse, die indessen nicht das ganze Jahr hindurch existirt, sondern
nur während einiger Tage alljährlich, während der sogenannten „stillen
Woche“, etwa vom Charfreitag bis zum Ostersonntag. Um diese
Zeit versammeln sich die Priester und Priesterinnen Thaliens und
Melpomenens und die Theaterdirektoren aus Znaim, Leitomischl, Jglau,
Stixneusiedl u. s. w., die Tyrannen der wandernden Schauspieler-
truppen reisen in die Kaiserstadt an der Donau, um ihren Bedarf an
„Helden“, „Liebhabern“, „Liebhaberinnen“, „Soubretten“, „ Natur-
burschen “, „komischen Alten“, „Jntriguanten“ für die kommende
Saison zu engagiren.

Man darf nicht denken, daß diese Komödiantenbörse etwas Neues
sei; ach nein, schon länger, als Menschengedenken, existirt sie, bereits
vor fünfzig Jahren konnte man sie alljährlich um dieselbe Zeit finden,
aber damals erledigte sie ihre Geschäfte noch nicht in demselben Lokale,
in welchem sie heut tagt. Damals gab es nahe bei dem Theater an
der Wien, wo jetzt Marie Geistinger und Swoboda als leuchtende
Sterne glänzen, in der sogenannten „Leimgrube“ ein altes Wirths-
haus, halb von Holz erbaut, verräuchert und schmutzig, wie es eben
das Alter unter gewissen, hier nicht näher zu bezeichnenden Umständen
mit sich bringt, und dies Wirthshaus führte in seinem Schilde den
vielsagenden Namen „Das Loch“. Jm „Loch“ nun hat die Komö-
diantenbörse zuerst ihre Geschäfte abgeschlossen; man konnte durch die
kleinen, trüben Fenster desselben aufblicken zur Hinterfront des eben
genannten Theaters, es hatte die „Börse“ also eine würdige Nach-
barschaft. So schmutzig übrigens das Häuschen aussah, so ist darin
doch stets eine originelle und oftmals eine gewählte Gesellschaft zu
finden gewesen. Es haben dort die klassischsten und unklassischsten
Mimen gehaust, Fritz Demmer, der unübertroffene Melchthal, der
stillbrütende Küstner, der geniale Vagabund Reitzenberg, Ha-
senhut
und Wilhelm Kunst, solche Männer bildeten die Gäste
des „Loch“, dessen Wände sie von ihren tollen Späßen und wüsten,
merkwürdigen Gelagen widerhallen ließen. Aber wie die Künstler,
deren Namen hier genannt sind, in Noth und Armuth zu Grunde
gegangen, so ist ihre unscheinbare Stammkneipe endlich auch der Ver-
nichtung anheimgefallen, sie hat vom Erdboden verschwinden müssen,
als der Palast der Geniedirektion und der Kriegsschule erbaut werden
sollte. Jetzt liegen der Hinterfront des Theaters an der Wien die
Fenster von den Wohnzimmern der Kriegsschüler gegenüber, eine Ein-
richtung, die vielleicht mit weiser Berechnung getroffen ist, damit das
Theaterballetpersonal vom Probirzimmer aus ein Objekt für den
Kokettir=Unterricht erhalte und vice versa die Söhne des Mars
einen vortheilhaften strategischen Punkt für ihre speziellen Eroberungs-
pläne gewinnen sollten.

Als das „Loch“ das Ende seiner Tage erlebt hatte, mußte die
Komödiantenbörse ein anderes Lokal suchen, und sie fand dasselbe in
der innern Stadt Wien in einem schmalen, stark nach Ammoniak
duftenden Gäßchen hinter der kaiserlichen Oper; aber hier scheint sie
sich nicht recht heimisch gefunden zu haben, denn bald ist sie wieder
ausgezogen, wieder zur Vorstadt in die Nähe des ehemals benutzten
Wirthshauses, wo sie sich heut noch befindet.

Am letzten März knarren die Thore all' der kleinen und größern
dramatischen Marterhöhlen, die man gewöhnlich Theater nennt, in den
Provinzen des Kaiserstaats, und die Mimen, welche dieselben verlassen,
ziehen nach Wien, um sich auf der Komödiantenbörse ein neues Feld
der Wirksamkeit zu erobern. Die Einen kommen mit der Eisenbahn,
die Andern stolz zu Fuß, jene besitzen noch einen Koffer mit „ Garde-
robe “, diese haben ihre Habseligkeiten in ein baumwollenes Taschen-
tuch gebunden, aber Alle führen etwas mit sich, das ihnen kein Dieb
rauben kann, obgleich sie glauben, es gehöre ihnen damit gleichzeitig
die Erde mit allen ihren funkelnden Schätzen. Dieses geheimnißvolle
Etwas ist das Künstlerbewußtsein, das der Mephisto aus Stockerau
in mindestens ebenso hohem Maße in sich trägt, wie es nur je ein
Devrient besessen haben kann. Jn Wien angelangt, wandern sie durch
die langen, schmalen Straßen bis in die abgelegene „ Dreihufeisen-
gasse “ hinter dem Theater an der Wien, dort suchen sie das Gast-
haus „Zum Wasen“, und wenn sie die Firma gefunden, dann kehren
sie ein in die dumpfen, gewölbten Räume, wo ihnen das Glück für
das nächste Jahr erblühen soll.

Auch wir, verehrte Leser, treten ein; wir sind so glücklich, einen
Platz an einem großen, runden Tisch zu bekommen, von welchem aus
man das ganze, lange Lokal überblicken kann. Wenigstens hundert
Menschen beiderlei Geschlechts sind anwesend, in lebhafter Unterhaltung
begriffen. Das schwirrt durcheinander in allen nur möglichen Jdiomen.
Wien, Berlin, Sachsen, Baiern, Schwaben, Schlesien, gradezu alle
Dialekte der deutschen Sprache sind hier vertreten. Neben der seidenen
[Ende Spaltensatz]

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[190/0006] 190 mand kann behaupten, daß des Enterichs Liebe in dieser Zeit nicht ganz ebenso glühend, treu und innig sei, als die aller Uebrigen; er verfolgt sein Schätzchen auf Schritt und Tritt, wackelt so verliebt, wie nur irgend Einer, hinter ihr her, und schwimmt jetzt vor uns auf dem Wasser wohl stundenlang mit ihr in der Runde, um ihre höchste Gunst zu erwerben. Allein er ist ein loser Schelm, und zwar in viel höherem Grade, als viele Menschenkinder. Denn kaum beginnt die junge Entenfrau, sich häuslich einzurichten, ihr Nest mehr und mehr mit Eiern zu füllen, oder gar zu brüten — da läßt er sie im Stich, eilt davon, seinen früheren Kumpanen zu, mit denen er lustig in Saus und Braus lebt und um sein armes Weib sich gar nicht mehr bekümmert, während die brave Mutter eine ganze Schaar kleinen Nach- wuchses in treuester Sorgfalt erbrütet, schützt und ernährt. Dies sei jedoch nur nebensächlich hier erzählt. Während unserer Betrachtungen sind die beiden Enten unweit von uns an's Land ge- kommen und schnattern hier gar vergnüglich in dem sumpfigen Morast einer kleinen Bucht umher. Wiederum beginnen drüben, vom spitzigen Kirchthurm her, die melodischen Klänge der Glocken. Jn der That, ein lieblicheres Bild des Friedens und der Ruhe, als es hier vor uns im Bereich jener Friedensstimmen liegt, kann man unmöglich sich denken, und wer uns da von „Kampf und Krieg in der Natur“ erzählen wollte, den wür- den wir verlachen und würden ihm höhnend zurufen: „Ja, werther Mensch, bei Dir, in Deiner Welt, mag all' der grimmige Kampf um's Dasein heimisch sein und immerfort toben — hier aber, in der schönen, freien Natur, giebt's nur Friede, Glück und Wonne.“ Höher steigen die Schatten; um uns, im kleinen Erlengebüsch, wispern Rothkehlchen und kleine Nonnenmeisen, über uns, auf der Eiche, schmettert ein Fink seinen einförmigen, doch melodischen Sang, drüben, vom Föhrenwalde, hallt das Abendlied einer Amsel herüber, hin und wieder unterbrochen von dem deutlich wahrnehmbaren Klopfen oder dem schrillen Schrei eines Spechtes. Allmälig erwacht ein linder Hauch und läßt die Rohrfahnen sanft hin und her wehen. Tief im grünen Dickicht beginnt ein einsamer Rohrsänger sein melodienreiches Lied, welches mit dem Jubeltrillern der Lerchen, dem Waldabendsang der Schwarzdrossel und dem pfei- fenden Gesumme der Mückenschwärme so unendlich harmonisch ver- schmilzt. Ruhe und Friede — — — Da plötzlich hören wir, unweit neben uns, einen Plump in's Wasser, mit scharfem Patsch, patsch, patsch! surren die beiden Enten an uns vorüber, davon, und auf einer Rohr- kaupe erscheint urplötzlich mit funkelndem, lüsternem Blick, mordlustig geschwungenem Schwanze, der grimmige Räuber Reinicke, welchen dies- mal nur sein eigenes Ungeschick oder seine Uebereilung zum Fehl- sprung gebracht und damit verhindert hat, dem liebeblinden Wild- erpel den Hals umzudrehen. Wie mit einem Schlage ist das Bild vor uns verändert; während die Enten schreiend und sausend davonfliegen und über der Stätte hoch in der blauen Luft noch lange umherkreisen, während der Fuchs Wasser und Morast vom Pelz sich schüttelt und dann mißmuthig in's Gebüsch zurückschlüpft, haben mit gewaltigem Gekrächze die Krähen aus den Erlen sich erhoben und fliegen ebenfalls über dem Wasser- spiegel hin und her, dazwischen kakern drüben, am Waldrand, Elstern, erschallen die gellenden Rufe eines Hähers, der scharfe Schrei eines seitwärts aufgescheuchten Reihers, und das entrüstete Zizi — hä hä hä! der Meisen. Auch wir erheben uns in diesem Lärm zum Heimgange. Und während wir durch das dunkle Vorholz dahinschreiten, hören wir noch immer weithin die Klagen und Rufe der Entrüstung über den Frevel jenes blutdürstigen Ruhestörers, welcher jetzt ebenso, wie alle Thier- welt rings umher, des Schutzes der Schonzeit sich erfreut, und den- noch seinerseits mordet und raubt, bis ihm endlich, nach der Wieder- eröffnung der Jagd im Herbst oder Winter, die Vergeltung naht, in einem wohlgezielten Schusse, im Eisen oder durch das furchtbare Ge- biß der Windhunde. Aus der Kaiserstadt an der Donau. Von Wilhelm Augerstein. V. Die Komödiantenbörse in Wien. „ Eine Komödiantenbörse?“ fragt vielleicht Mancher mit einem etwas zweifelnden Blick auf die Worte, die da schwarz und weiß auf dem Papier stehen. Ja, verehrtester Leser, jede Gegend hat ihre Eigenthümlichkeiten und in jeder Stadt erzeugen die Verhältnisse ihre ganz besonderen Produkte. Wer in Berlin zwischen elf und zwölf Uhr Vormittags in das Kastanienwäldchen geht, der findet dort die Musikantenbörse, und wenn er seinen Weg durch den Lustgarten nimmt, so wird er vor dem Museum noch eine andere Börse zu sehen bekommen, die anderswo schwerlich ihres Gleichen haben dürfte, nämlich die Bauern- fängerbörse. So wirft das sociale Leben in dem Gährungsprozeß, in welchem es sich fortdauernd befindet, manchmal recht seltsame Blasen, und eine der seltsamsten ist ohne Zweifel die Wiener Komödianten- börse, die indessen nicht das ganze Jahr hindurch existirt, sondern nur während einiger Tage alljährlich, während der sogenannten „stillen Woche“, etwa vom Charfreitag bis zum Ostersonntag. Um diese Zeit versammeln sich die Priester und Priesterinnen Thaliens und Melpomenens und die Theaterdirektoren aus Znaim, Leitomischl, Jglau, Stixneusiedl u. s. w., die Tyrannen der wandernden Schauspieler- truppen reisen in die Kaiserstadt an der Donau, um ihren Bedarf an „Helden“, „Liebhabern“, „Liebhaberinnen“, „Soubretten“, „ Natur- burschen “, „komischen Alten“, „Jntriguanten“ für die kommende Saison zu engagiren. Man darf nicht denken, daß diese Komödiantenbörse etwas Neues sei; ach nein, schon länger, als Menschengedenken, existirt sie, bereits vor fünfzig Jahren konnte man sie alljährlich um dieselbe Zeit finden, aber damals erledigte sie ihre Geschäfte noch nicht in demselben Lokale, in welchem sie heut tagt. Damals gab es nahe bei dem Theater an der Wien, wo jetzt Marie Geistinger und Swoboda als leuchtende Sterne glänzen, in der sogenannten „Leimgrube“ ein altes Wirths- haus, halb von Holz erbaut, verräuchert und schmutzig, wie es eben das Alter unter gewissen, hier nicht näher zu bezeichnenden Umständen mit sich bringt, und dies Wirthshaus führte in seinem Schilde den vielsagenden Namen „Das Loch“. Jm „Loch“ nun hat die Komö- diantenbörse zuerst ihre Geschäfte abgeschlossen; man konnte durch die kleinen, trüben Fenster desselben aufblicken zur Hinterfront des eben genannten Theaters, es hatte die „Börse“ also eine würdige Nach- barschaft. So schmutzig übrigens das Häuschen aussah, so ist darin doch stets eine originelle und oftmals eine gewählte Gesellschaft zu finden gewesen. Es haben dort die klassischsten und unklassischsten Mimen gehaust, Fritz Demmer, der unübertroffene Melchthal, der stillbrütende Küstner, der geniale Vagabund Reitzenberg, Ha- senhut und Wilhelm Kunst, solche Männer bildeten die Gäste des „Loch“, dessen Wände sie von ihren tollen Späßen und wüsten, merkwürdigen Gelagen widerhallen ließen. Aber wie die Künstler, deren Namen hier genannt sind, in Noth und Armuth zu Grunde gegangen, so ist ihre unscheinbare Stammkneipe endlich auch der Ver- nichtung anheimgefallen, sie hat vom Erdboden verschwinden müssen, als der Palast der Geniedirektion und der Kriegsschule erbaut werden sollte. Jetzt liegen der Hinterfront des Theaters an der Wien die Fenster von den Wohnzimmern der Kriegsschüler gegenüber, eine Ein- richtung, die vielleicht mit weiser Berechnung getroffen ist, damit das Theaterballetpersonal vom Probirzimmer aus ein Objekt für den Kokettir=Unterricht erhalte und vice versa die Söhne des Mars einen vortheilhaften strategischen Punkt für ihre speziellen Eroberungs- pläne gewinnen sollten. Als das „Loch“ das Ende seiner Tage erlebt hatte, mußte die Komödiantenbörse ein anderes Lokal suchen, und sie fand dasselbe in der innern Stadt Wien in einem schmalen, stark nach Ammoniak duftenden Gäßchen hinter der kaiserlichen Oper; aber hier scheint sie sich nicht recht heimisch gefunden zu haben, denn bald ist sie wieder ausgezogen, wieder zur Vorstadt in die Nähe des ehemals benutzten Wirthshauses, wo sie sich heut noch befindet. Am letzten März knarren die Thore all' der kleinen und größern dramatischen Marterhöhlen, die man gewöhnlich Theater nennt, in den Provinzen des Kaiserstaats, und die Mimen, welche dieselben verlassen, ziehen nach Wien, um sich auf der Komödiantenbörse ein neues Feld der Wirksamkeit zu erobern. Die Einen kommen mit der Eisenbahn, die Andern stolz zu Fuß, jene besitzen noch einen Koffer mit „ Garde- robe “, diese haben ihre Habseligkeiten in ein baumwollenes Taschen- tuch gebunden, aber Alle führen etwas mit sich, das ihnen kein Dieb rauben kann, obgleich sie glauben, es gehöre ihnen damit gleichzeitig die Erde mit allen ihren funkelnden Schätzen. Dieses geheimnißvolle Etwas ist das Künstlerbewußtsein, das der Mephisto aus Stockerau in mindestens ebenso hohem Maße in sich trägt, wie es nur je ein Devrient besessen haben kann. Jn Wien angelangt, wandern sie durch die langen, schmalen Straßen bis in die abgelegene „ Dreihufeisen- gasse “ hinter dem Theater an der Wien, dort suchen sie das Gast- haus „Zum Wasen“, und wenn sie die Firma gefunden, dann kehren sie ein in die dumpfen, gewölbten Räume, wo ihnen das Glück für das nächste Jahr erblühen soll. Auch wir, verehrte Leser, treten ein; wir sind so glücklich, einen Platz an einem großen, runden Tisch zu bekommen, von welchem aus man das ganze, lange Lokal überblicken kann. Wenigstens hundert Menschen beiderlei Geschlechts sind anwesend, in lebhafter Unterhaltung begriffen. Das schwirrt durcheinander in allen nur möglichen Jdiomen. Wien, Berlin, Sachsen, Baiern, Schwaben, Schlesien, gradezu alle Dialekte der deutschen Sprache sind hier vertreten. Neben der seidenen

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 24. Berlin, 13. Juni 1869, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt24_1869/6>, abgerufen am 15.06.2024.