Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sonntags-Blatt. Nr. 32. Berlin, 8. August 1869.

Bild:
<< vorherige Seite

[Beginn Spaltensatz] Gespräch an und ließen es wieder fallen und schlangen, metaphorisch
zu reden, ein vielfach durcheinander gekreuztes, loses Fädchen um alle
für die Nacht der Obhut des Bodenhauses Befohlenen, welches die-
selben mit dem Bewußtsein der flüchtigen Zusammengehörigkeit ver-
knüpfte. Am meisten besucht war der Tisch, an welchem sich Nisida,
ihre Begleiterin und Lindhorst befanden. Jn einiger Entfernung saß
die heilige Schaar aus dem baierischen Schwabenlande um einen brei-
ten, sich auf der Gränze zwischen Dunkel und Licht haltenden Tisch
gruppirt. Mit Ausnahme Kleist's und der Gebrüder Busse starrten
sie sämmtlich unabänderlich mit zwischen melancholischer Versunkenheit
und wildester Eifersucht wechselnder Miene nach dem umschwärmten
Sitz der Sängerin hinüber; doch Keiner von ihnen getraute sich,
Fritz Werner's Beispiel nachzuahmen, der legeren Schrittes, die rechte
Hand nachlässig in der Gegend des Herzens in die Weste gesteckt,
ebenfalls umher promenirte, ab und zu artig vor einem Tisch grüßte,
ohne daß die daran Sitzenden eine Ahnung davon erhielten, daß der
Gruß ihnen gelte, und in konzentrischen Kreisen näher rückend, allmälig
im Augen= und Ohrbereich der Jtalienerin Posto zu fassen suchte.

Hilmar trat, mit seiner Zeichnung in der Hand, in den Garten.

"Jch glaube, die Dame drüben hat das Blatt verloren", sagte er,
auf Nisida deutend, zu einem Kellner, "bringen Sie es ihr bei Ge-
legenheit zurück."

Die Gelegenheit, sich der Dankbarkeit eines nobel auftretenden
Gastes zu versichern, pflegt Kellnern nicht viel Kopfzerbrechen zu ver-
ursachen, und ehe eine halbe Minute verflossen war, hatte der Be-
auftragte seine dankbare Mission erfüllt und war mit einer ihm von
Fritz Werner tief beneideten Verbeugung wieder verschwunden. Nisida
hatte von seinen begleitenden Worten nicht viel vernommen und drehte
die Zeichnung verwundert zwischen den Fingern.

"Was bedeutet das? Das verstehe ich arme Unwissenheit nicht",
lachte sie.

Ein junger, fashionabler, a l'Anglais gekleideter Mann, der vor
ihr stand, nahm ihr das Blatt aus der Hand.

"Ah", machte er, ein großes, goldenes Lorgnon in den linken
Augenwinkel einklemmend, "allerliebst gezeichnet; wahrhaftig, versichere
Sie, meine Gnädige, allerliebst. Jst die Brücke in Dingsda, an der
Sie heut Nachmittag auch vorübergekommen sind, mit der lateinischen
Jnschrift. Soll ich sie Jhnen übersetzen, meine Gnädige? Glaube
wohl, daß Sie es nicht können; ist aber nicht Jhr Fehler, denn es
ist Latein, und das lernen die Damen in unseren Pensionen nicht.
Das heißt nämlich:

Die Straße steht offen jetzt
Feinden und Freunden.
"Hütet Euch, Rhätier,
Einfachheit der Sitten --"

Nisida blickte mit auf das Blatt.

"Erlauben Sie, Herr von Goldapfel, wo steht:

Hütet Euch, Rhätier?"

fragte sie plötzlich, mit unwillkürlich zuckenden Mundwinkeln.

"Hier, meine Gnädige, dritte Zeile, oder Vers, wie Sie wollen,
denn das Ganze ist eine Ode: Amica te monet -- Hütet Euch,
Rhätier --"

Ein schallendes Gelächter brach unter den Umstehenden aus, und
die Sängerin lachte rücksichtslos mit.

"Es ist zwar nicht Jhr Fehler, aber ich glaube, Herr von Goldapfel,
Sie sind auch in einer Mädchenpension gewesen, wahrhaftig", sagte sie.
"Zum Glück haben wir hier einen veritablen Gelehrten bei der Hand.
Herr Werner, wollen Sie uns beiden armen Damen nicht diese schwie-
rige Jnschrift erklären?"

Sie winkte dem langen Fritz mit ihrem schönen Finger, und
er kam, vor Beglückung unterwegs über ein Stuhlbein stolpernd,
heran.

"Weiß nicht, was Sie zu lachen haben -- versichere Sie, meine
Gnädige", wiederholte Herr von Goldapfel, in die Tasche greifend,
"es ist Latein." Er zog ein grün gepreßtes Buch hervor, in dem er
blätterte; dann hielt er mit triumphirendem Blick inne.

"Sehen Sie, hier steht's im Escher -- glaube, daß Sie den
einigermaßen als Autorität anerkennen werden, meine Herren --: Jam
via patet
--

Die Straße steht nun offen
Feinden und Freunden.
Hütet Euch, Rhätier --"

Er brach ab, denn Fritz Werner begann, von dem Blatt lesend,
zu deklamiren:

"Der Weg steht nun offen --"

"Hören Sie es, meine Gnädige? Der Weg steht nun offen --
Jam via patet -- sehr richtig, sehr schön ausgedrückt", fiel Herr
von Goldapfel ein.

"Jn's fremde Land",

fuhr der Deklamator fort:

[Spaltenumbruch]
"Dich warnt eine Freundin:
Nur in der Heimath
Harrt Dein die Liebe,
Bleibt Dir die ewige
Treue erhalten.

Es ist eine Variation der Jnschrift auf der Pigneuer Brücke --",
schloß der lange Fritz seinen Vortrag. Er hatte kühn damit begonnen,
"meine Gnädige" in gleicher kavaliermäßiger Art, wie sein augenblick-
liches Vorbild herauszubringen, stolperte jedoch, wie vorhin, über dem
Stuhlbein, über den beiden letzten Silben und ergänzte sie durch einen
plötzlichen Husten.

"Was? Ah! Variation? Wahrhaftig! Schlechter Spaß! Schüler-
hafte Posse, versichere Sie, nicht für gebildete Gesellschaft. Was haben
Sie, meine Gnädige?" stieß Herr von Goldapfel unbekümmert heraus,
indem er sein Lorgnon aus dem Augenwinkel fallen ließ.

"Sie haben ganz recht, irgend eine Schülerdummheit", versetzte
Nisida, die im ersten Moment Werner das Blatt heftig aus der Hand
gerissen; "es war nicht der Mühe werth, uns das zu übersetzen, Herr
Werner. Jch begreife nicht, wie der alberne Kellner dazu gekommen,
es auf meinen Tisch zu legen; er muß sich versehen haben."

Sie zerknitterte das Papier in der Hand und warf es gleichgültig
auf die Erde. Der lange Fritz stand wie niedergedonnert; Baron
Lindhorst hatte während des Vorlesens den Kopf gehoben und ihn
aufmerksam angeblickt. Er nickte leise dazu mit der Stirn, dann glitt
er sich mit der Hand über die Augen. Er trug am kleinen Finger
derselben einen schmalen Goldreif mit einem Türkis, und wie er die
Hand zurückzog, streifte sich der Ring ab und fiel zu Boden. Hastig
bückte sich Lindhorst, um ihn aufzuheben, doch er mußte geraume Zeit
umhersuchen, ehe er ihn fand.

Nisida biß sich heimlich auf die Lippen. Sie sah aus dem Winkel
ihres Auges, daß er mit dem Ring zugleich das von ihr fortgeworfene
Papier aufgenommen und im Rockärmel verborgen hatte. Sie erhob
sich so schnell, daß Herr von Goldapfel kaum noch Zeit besaß, seine
Stiefel mit der ihm zukommenden äußersten Grazie des Anstandes
vor der Berührung mit dem Saum ihres Kleides zu retiriren und
sagte laut:

"Es wird hier entsetzlich eintönig unter den Bäumen. Die Nacht
ist so schön, man sollte einen Spaziergang mit Fackeln machen --"

"Eine sublime Jdee, meine Gnädige; wahrhaftig, ein romantischer
Gedanke! Mit Fackeln! Die Proposition kann nur einem so schönen
Haupte entspringen; was sage ich, nnr einem Wesen, das der göttlichen
Nation der Erde angehört. Auch Jhre Ahnherrinnen, meine Gnädige,
ließen sich Nachts von den vornehmsten Kavalieren der Kaiserzeit mit
Fackeln nach Hause geleiten."

"Jch glaube, es ist nicht sehr schmeichelhaft für das Fräulein, Herr
von Goldapfel, mit den römischen Damen verglichen zu werden, die
sich Nachts mit Fackeln nach Hause geleiten ließen", sagte plötzlich
Baron Lindhorst, der bisher an der Unterhaltung kaum Antheil ge-
nommen, mit scharfem Ton.

Nisida biß sich abermals auf die Lippen, als ob die Jronie der
Bemerkung ihr noch mehr als dem Angeredeten gegolten. Dieser
lachte verlegen:

"Jn der That, muß gestehen, habe mich nicht viel mit dem alten,
historischen Gerümpel beschäftigt. Ueberlasse das Schulfüchsen, verletze
jedoch nie den Anstand, kann mir Niemand nachsagen. Versichere
Sie, meine Gnädige, wenn ich mir erlaube, Sie mit einer andern
Dame zu vergleichen, so ist die Dame anständig."

Lindhorst zog einen Augenblick die Brauen heftig zusammen, als
ob er etwas darauf erwidern wolle, doch die Sängerin lachte ebenfalls:

"Jch glaube Jhnen, Herr von Goldapfel, und sehe keine Gefahr
darin, mich von Jhnen mit Fackeln begleiten zu lassen; Baron Lind-
horst ist etwas zu übertrieben ängstlich. Eilen Sie, Signor, und
schaffen Sie Beleuchtungsmaterial für unsere dunkle Wanderung."

Es war ersichtlich, daß sie einen Streit zwischen den beiden Herren
vermeiden wollte. Herr von Goldapfel flog mit einem halblaut
genäselten "Göttliches Weib!" in falterhafter Anmuth davon, und
Fritz Werner benutzte die durch seine Entfernung entstandene Lücke,
um sich Nisida wieder zu nähern. Doch diese warf ihm einen un-
geheuchelt zornigen Blick zu und sagte, an ihm vorübergehend:

"Sie sind ein abgeschmackter Mensch, machen Sie sich jetzt wenig-
stens nützlich; als Fackelstatist werden Sie doch zu brauchen sein."

Bei alledem verwandte die Sängerin jedoch kein Auge von Lind-
horst. Sie sah, daß er zur Seite getreten war, das zerknitterte Pa-
pier beim Schimmer einer Hängelampe entfaltet hatte und tiefsinnig
darauf hinblickte. Nun rief sie:

"Arminio!" Er fuhr zusammen; doch in demselben Augenblick
kam auch Herr von Goldapfel triumphirend zurück und sagte:

"Famose Wirthin, besitzt immer Fackeln vorräthig; sagt, daß sie
im Winter häufig gebraucht, wenn Viehtreiber im Schnee stecken
bleiben. Versicherte ihr, vollständig verschiedene Sachlage von uns.
Hat gelacht, biederes Schweizergemüth, und mit einem Witz geantwortet.
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Gespräch an und ließen es wieder fallen und schlangen, metaphorisch
zu reden, ein vielfach durcheinander gekreuztes, loses Fädchen um alle
für die Nacht der Obhut des Bodenhauses Befohlenen, welches die-
selben mit dem Bewußtsein der flüchtigen Zusammengehörigkeit ver-
knüpfte. Am meisten besucht war der Tisch, an welchem sich Nisida,
ihre Begleiterin und Lindhorst befanden. Jn einiger Entfernung saß
die heilige Schaar aus dem baierischen Schwabenlande um einen brei-
ten, sich auf der Gränze zwischen Dunkel und Licht haltenden Tisch
gruppirt. Mit Ausnahme Kleist's und der Gebrüder Busse starrten
sie sämmtlich unabänderlich mit zwischen melancholischer Versunkenheit
und wildester Eifersucht wechselnder Miene nach dem umschwärmten
Sitz der Sängerin hinüber; doch Keiner von ihnen getraute sich,
Fritz Werner's Beispiel nachzuahmen, der legeren Schrittes, die rechte
Hand nachlässig in der Gegend des Herzens in die Weste gesteckt,
ebenfalls umher promenirte, ab und zu artig vor einem Tisch grüßte,
ohne daß die daran Sitzenden eine Ahnung davon erhielten, daß der
Gruß ihnen gelte, und in konzentrischen Kreisen näher rückend, allmälig
im Augen= und Ohrbereich der Jtalienerin Posto zu fassen suchte.

Hilmar trat, mit seiner Zeichnung in der Hand, in den Garten.

„Jch glaube, die Dame drüben hat das Blatt verloren“, sagte er,
auf Nisida deutend, zu einem Kellner, „bringen Sie es ihr bei Ge-
legenheit zurück.“

Die Gelegenheit, sich der Dankbarkeit eines nobel auftretenden
Gastes zu versichern, pflegt Kellnern nicht viel Kopfzerbrechen zu ver-
ursachen, und ehe eine halbe Minute verflossen war, hatte der Be-
auftragte seine dankbare Mission erfüllt und war mit einer ihm von
Fritz Werner tief beneideten Verbeugung wieder verschwunden. Nisida
hatte von seinen begleitenden Worten nicht viel vernommen und drehte
die Zeichnung verwundert zwischen den Fingern.

„Was bedeutet das? Das verstehe ich arme Unwissenheit nicht“,
lachte sie.

Ein junger, fashionabler, à l'Anglais gekleideter Mann, der vor
ihr stand, nahm ihr das Blatt aus der Hand.

„Ah“, machte er, ein großes, goldenes Lorgnon in den linken
Augenwinkel einklemmend, „allerliebst gezeichnet; wahrhaftig, versichere
Sie, meine Gnädige, allerliebst. Jst die Brücke in Dingsda, an der
Sie heut Nachmittag auch vorübergekommen sind, mit der lateinischen
Jnschrift. Soll ich sie Jhnen übersetzen, meine Gnädige? Glaube
wohl, daß Sie es nicht können; ist aber nicht Jhr Fehler, denn es
ist Latein, und das lernen die Damen in unseren Pensionen nicht.
Das heißt nämlich:

Die Straße steht offen jetzt
Feinden und Freunden.
„Hütet Euch, Rhätier,
Einfachheit der Sitten —“

Nisida blickte mit auf das Blatt.

„Erlauben Sie, Herr von Goldapfel, wo steht:

Hütet Euch, Rhätier?“

fragte sie plötzlich, mit unwillkürlich zuckenden Mundwinkeln.

„Hier, meine Gnädige, dritte Zeile, oder Vers, wie Sie wollen,
denn das Ganze ist eine Ode: Amica te monet — Hütet Euch,
Rhätier —“

Ein schallendes Gelächter brach unter den Umstehenden aus, und
die Sängerin lachte rücksichtslos mit.

„Es ist zwar nicht Jhr Fehler, aber ich glaube, Herr von Goldapfel,
Sie sind auch in einer Mädchenpension gewesen, wahrhaftig“, sagte sie.
„Zum Glück haben wir hier einen veritablen Gelehrten bei der Hand.
Herr Werner, wollen Sie uns beiden armen Damen nicht diese schwie-
rige Jnschrift erklären?“

Sie winkte dem langen Fritz mit ihrem schönen Finger, und
er kam, vor Beglückung unterwegs über ein Stuhlbein stolpernd,
heran.

„Weiß nicht, was Sie zu lachen haben — versichere Sie, meine
Gnädige“, wiederholte Herr von Goldapfel, in die Tasche greifend,
„es ist Latein.“ Er zog ein grün gepreßtes Buch hervor, in dem er
blätterte; dann hielt er mit triumphirendem Blick inne.

„Sehen Sie, hier steht's im Escher — glaube, daß Sie den
einigermaßen als Autorität anerkennen werden, meine Herren —: Jam
via patet

Die Straße steht nun offen
Feinden und Freunden.
Hütet Euch, Rhätier —“

Er brach ab, denn Fritz Werner begann, von dem Blatt lesend,
zu deklamiren:

„Der Weg steht nun offen —“

„Hören Sie es, meine Gnädige? Der Weg steht nun offen —
Jam via patet — sehr richtig, sehr schön ausgedrückt“, fiel Herr
von Goldapfel ein.

„Jn's fremde Land“,

fuhr der Deklamator fort:

[Spaltenumbruch]
„Dich warnt eine Freundin:
Nur in der Heimath
Harrt Dein die Liebe,
Bleibt Dir die ewige
Treue erhalten.

Es ist eine Variation der Jnschrift auf der Pigneuer Brücke —“,
schloß der lange Fritz seinen Vortrag. Er hatte kühn damit begonnen,
„meine Gnädige“ in gleicher kavaliermäßiger Art, wie sein augenblick-
liches Vorbild herauszubringen, stolperte jedoch, wie vorhin, über dem
Stuhlbein, über den beiden letzten Silben und ergänzte sie durch einen
plötzlichen Husten.

„Was? Ah! Variation? Wahrhaftig! Schlechter Spaß! Schüler-
hafte Posse, versichere Sie, nicht für gebildete Gesellschaft. Was haben
Sie, meine Gnädige?“ stieß Herr von Goldapfel unbekümmert heraus,
indem er sein Lorgnon aus dem Augenwinkel fallen ließ.

„Sie haben ganz recht, irgend eine Schülerdummheit“, versetzte
Nisida, die im ersten Moment Werner das Blatt heftig aus der Hand
gerissen; „es war nicht der Mühe werth, uns das zu übersetzen, Herr
Werner. Jch begreife nicht, wie der alberne Kellner dazu gekommen,
es auf meinen Tisch zu legen; er muß sich versehen haben.“

Sie zerknitterte das Papier in der Hand und warf es gleichgültig
auf die Erde. Der lange Fritz stand wie niedergedonnert; Baron
Lindhorst hatte während des Vorlesens den Kopf gehoben und ihn
aufmerksam angeblickt. Er nickte leise dazu mit der Stirn, dann glitt
er sich mit der Hand über die Augen. Er trug am kleinen Finger
derselben einen schmalen Goldreif mit einem Türkis, und wie er die
Hand zurückzog, streifte sich der Ring ab und fiel zu Boden. Hastig
bückte sich Lindhorst, um ihn aufzuheben, doch er mußte geraume Zeit
umhersuchen, ehe er ihn fand.

Nisida biß sich heimlich auf die Lippen. Sie sah aus dem Winkel
ihres Auges, daß er mit dem Ring zugleich das von ihr fortgeworfene
Papier aufgenommen und im Rockärmel verborgen hatte. Sie erhob
sich so schnell, daß Herr von Goldapfel kaum noch Zeit besaß, seine
Stiefel mit der ihm zukommenden äußersten Grazie des Anstandes
vor der Berührung mit dem Saum ihres Kleides zu retiriren und
sagte laut:

„Es wird hier entsetzlich eintönig unter den Bäumen. Die Nacht
ist so schön, man sollte einen Spaziergang mit Fackeln machen —“

„Eine sublime Jdee, meine Gnädige; wahrhaftig, ein romantischer
Gedanke! Mit Fackeln! Die Proposition kann nur einem so schönen
Haupte entspringen; was sage ich, nnr einem Wesen, das der göttlichen
Nation der Erde angehört. Auch Jhre Ahnherrinnen, meine Gnädige,
ließen sich Nachts von den vornehmsten Kavalieren der Kaiserzeit mit
Fackeln nach Hause geleiten.“

„Jch glaube, es ist nicht sehr schmeichelhaft für das Fräulein, Herr
von Goldapfel, mit den römischen Damen verglichen zu werden, die
sich Nachts mit Fackeln nach Hause geleiten ließen“, sagte plötzlich
Baron Lindhorst, der bisher an der Unterhaltung kaum Antheil ge-
nommen, mit scharfem Ton.

Nisida biß sich abermals auf die Lippen, als ob die Jronie der
Bemerkung ihr noch mehr als dem Angeredeten gegolten. Dieser
lachte verlegen:

„Jn der That, muß gestehen, habe mich nicht viel mit dem alten,
historischen Gerümpel beschäftigt. Ueberlasse das Schulfüchsen, verletze
jedoch nie den Anstand, kann mir Niemand nachsagen. Versichere
Sie, meine Gnädige, wenn ich mir erlaube, Sie mit einer andern
Dame zu vergleichen, so ist die Dame anständig.“

Lindhorst zog einen Augenblick die Brauen heftig zusammen, als
ob er etwas darauf erwidern wolle, doch die Sängerin lachte ebenfalls:

„Jch glaube Jhnen, Herr von Goldapfel, und sehe keine Gefahr
darin, mich von Jhnen mit Fackeln begleiten zu lassen; Baron Lind-
horst ist etwas zu übertrieben ängstlich. Eilen Sie, Signor, und
schaffen Sie Beleuchtungsmaterial für unsere dunkle Wanderung.“

Es war ersichtlich, daß sie einen Streit zwischen den beiden Herren
vermeiden wollte. Herr von Goldapfel flog mit einem halblaut
genäselten „Göttliches Weib!“ in falterhafter Anmuth davon, und
Fritz Werner benutzte die durch seine Entfernung entstandene Lücke,
um sich Nisida wieder zu nähern. Doch diese warf ihm einen un-
geheuchelt zornigen Blick zu und sagte, an ihm vorübergehend:

„Sie sind ein abgeschmackter Mensch, machen Sie sich jetzt wenig-
stens nützlich; als Fackelstatist werden Sie doch zu brauchen sein.“

Bei alledem verwandte die Sängerin jedoch kein Auge von Lind-
horst. Sie sah, daß er zur Seite getreten war, das zerknitterte Pa-
pier beim Schimmer einer Hängelampe entfaltet hatte und tiefsinnig
darauf hinblickte. Nun rief sie:

„Arminio!“ Er fuhr zusammen; doch in demselben Augenblick
kam auch Herr von Goldapfel triumphirend zurück und sagte:

„Famose Wirthin, besitzt immer Fackeln vorräthig; sagt, daß sie
im Winter häufig gebraucht, wenn Viehtreiber im Schnee stecken
bleiben. Versicherte ihr, vollständig verschiedene Sachlage von uns.
Hat gelacht, biederes Schweizergemüth, und mit einem Witz geantwortet.
[Ende Spaltensatz]

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div xml:id="Chur1" type="jArticle" n="1">
        <p><pb facs="#f0002" n="250"/><fw type="pageNum" place="top">250</fw><cb type="start"/>
Gespräch an und ließen es wieder fallen und schlangen, metaphorisch<lb/>
zu reden, ein vielfach durcheinander gekreuztes, loses Fädchen um alle<lb/>
für die Nacht der Obhut des Bodenhauses Befohlenen, welches die-<lb/>
selben mit dem Bewußtsein der flüchtigen Zusammengehörigkeit ver-<lb/>
knüpfte. Am meisten besucht war der Tisch, an welchem sich Nisida,<lb/>
ihre Begleiterin und Lindhorst befanden. Jn einiger Entfernung saß<lb/>
die heilige Schaar aus dem baierischen Schwabenlande um einen brei-<lb/>
ten, sich auf der Gränze zwischen Dunkel und Licht haltenden Tisch<lb/>
gruppirt. Mit Ausnahme Kleist's und der Gebrüder Busse starrten<lb/>
sie sämmtlich unabänderlich mit zwischen melancholischer Versunkenheit<lb/>
und wildester Eifersucht wechselnder Miene nach dem umschwärmten<lb/>
Sitz der Sängerin hinüber; doch Keiner von ihnen getraute sich,<lb/>
Fritz Werner's Beispiel nachzuahmen, der legeren Schrittes, die rechte<lb/>
Hand nachlässig in der Gegend des Herzens in die Weste gesteckt,<lb/>
ebenfalls umher promenirte, ab und zu artig vor einem Tisch grüßte,<lb/>
ohne daß die daran Sitzenden eine Ahnung davon erhielten, daß der<lb/>
Gruß ihnen gelte, und in konzentrischen Kreisen näher rückend, allmälig<lb/>
im Augen= und Ohrbereich der Jtalienerin Posto zu fassen suchte.</p><lb/>
        <p>Hilmar trat, mit seiner Zeichnung in der Hand, in den Garten.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Jch glaube, die Dame drüben hat das Blatt verloren&#x201C;, sagte er,<lb/>
auf Nisida deutend, zu einem Kellner, &#x201E;bringen Sie es ihr bei Ge-<lb/>
legenheit zurück.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Die Gelegenheit, sich der Dankbarkeit eines nobel auftretenden<lb/>
Gastes zu versichern, pflegt Kellnern nicht viel Kopfzerbrechen zu ver-<lb/>
ursachen, und ehe eine halbe Minute verflossen war, hatte der Be-<lb/>
auftragte seine dankbare Mission erfüllt und war mit einer ihm von<lb/>
Fritz Werner tief beneideten Verbeugung wieder verschwunden. Nisida<lb/>
hatte von seinen begleitenden Worten nicht viel vernommen und drehte<lb/>
die Zeichnung verwundert zwischen den Fingern.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Was bedeutet das? Das verstehe ich arme Unwissenheit nicht&#x201C;,<lb/>
lachte sie.</p><lb/>
        <p>Ein junger, fashionabler, <hi rendition="#aq">à l'Anglais</hi> gekleideter Mann, der vor<lb/>
ihr stand, nahm ihr das Blatt aus der Hand.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ah&#x201C;, machte er, ein großes, goldenes Lorgnon in den linken<lb/>
Augenwinkel einklemmend, &#x201E;allerliebst gezeichnet; wahrhaftig, versichere<lb/>
Sie, meine Gnädige, allerliebst. Jst die Brücke in Dingsda, an der<lb/>
Sie heut Nachmittag auch vorübergekommen sind, mit der lateinischen<lb/>
Jnschrift. Soll ich sie Jhnen übersetzen, meine Gnädige? Glaube<lb/>
wohl, daß Sie es nicht können; ist aber nicht Jhr Fehler, denn es<lb/>
ist Latein, und das lernen die Damen in unseren Pensionen nicht.<lb/>
Das heißt nämlich:</p><lb/>
        <lg>
          <l>Die Straße steht offen jetzt</l><lb/>
          <l>Feinden und Freunden.</l><lb/>
          <l>&#x201E;Hütet Euch, Rhätier,</l><lb/>
          <l>Einfachheit der Sitten &#x2014;&#x201C;</l>
        </lg><lb/><lb/>
        <p>Nisida blickte mit auf das Blatt.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Erlauben Sie, Herr von Goldapfel, wo steht:</p><lb/>
        <p rendition="#c">Hütet Euch, Rhätier?&#x201C;</p><lb/>
        <p>fragte sie plötzlich, mit unwillkürlich zuckenden Mundwinkeln.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Hier, meine Gnädige, dritte Zeile, oder Vers, wie Sie wollen,<lb/>
denn das Ganze ist eine Ode: <hi rendition="#aq">Amica te monet</hi> &#x2014; Hütet Euch,<lb/>
Rhätier &#x2014;&#x201C;</p><lb/>
        <p>Ein schallendes Gelächter brach unter den Umstehenden aus, und<lb/>
die Sängerin lachte rücksichtslos mit.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Es ist zwar nicht Jhr Fehler, aber ich glaube, Herr von Goldapfel,<lb/>
Sie sind auch in einer Mädchenpension gewesen, wahrhaftig&#x201C;, sagte sie.<lb/>
&#x201E;Zum Glück haben wir hier einen veritablen Gelehrten bei der Hand.<lb/>
Herr Werner, wollen Sie uns beiden armen Damen nicht diese schwie-<lb/>
rige Jnschrift erklären?&#x201C;</p><lb/>
        <p>Sie winkte dem langen Fritz mit ihrem schönen Finger, und<lb/>
er kam, vor Beglückung unterwegs über ein Stuhlbein stolpernd,<lb/>
heran.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Weiß nicht, was Sie zu lachen haben &#x2014; versichere Sie, meine<lb/>
Gnädige&#x201C;, wiederholte Herr von Goldapfel, in die Tasche greifend,<lb/>
&#x201E;es ist Latein.&#x201C; Er zog ein grün gepreßtes Buch hervor, in dem er<lb/>
blätterte; dann hielt er mit triumphirendem Blick inne.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Sehen Sie, hier steht's im Escher &#x2014; glaube, daß Sie den<lb/>
einigermaßen als Autorität anerkennen werden, meine Herren &#x2014;: <hi rendition="#aq">Jam<lb/>
via patet</hi> &#x2014;</p><lb/>
        <lg>
          <l>Die Straße steht nun offen</l><lb/>
          <l>Feinden und Freunden.</l><lb/>
          <l>Hütet Euch, Rhätier &#x2014;&#x201C;</l>
        </lg><lb/>
        <p>Er brach ab, denn Fritz Werner begann, von dem Blatt lesend,<lb/>
zu deklamiren:</p><lb/>
        <p rendition="#c">&#x201E;Der Weg steht nun offen &#x2014;&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Hören Sie es, meine Gnädige? Der Weg steht nun offen &#x2014;<lb/><hi rendition="#aq">Jam via patet</hi> &#x2014; sehr richtig, sehr schön ausgedrückt&#x201C;, fiel Herr<lb/>
von Goldapfel ein.</p><lb/>
        <p rendition="#c">&#x201E;Jn's fremde Land&#x201C;,</p><lb/>
        <p>fuhr der Deklamator fort:</p><lb/>
        <cb n="2"/>
        <lg>
          <l>&#x201E;Dich warnt eine Freundin:</l><lb/>
          <l>Nur in der Heimath</l><lb/>
          <l>Harrt Dein die Liebe,</l><lb/>
          <l>Bleibt Dir die ewige</l><lb/>
          <l>Treue erhalten.</l>
        </lg><lb/>
        <p>Es ist eine Variation der Jnschrift auf der Pigneuer Brücke &#x2014;&#x201C;,<lb/>
schloß der lange Fritz seinen Vortrag. Er hatte kühn damit begonnen,<lb/>
&#x201E;meine Gnädige&#x201C; in gleicher kavaliermäßiger Art, wie sein augenblick-<lb/>
liches Vorbild herauszubringen, stolperte jedoch, wie vorhin, über dem<lb/>
Stuhlbein, über den beiden letzten Silben und ergänzte sie durch einen<lb/>
plötzlichen Husten.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Was? Ah! Variation? Wahrhaftig! Schlechter Spaß! Schüler-<lb/>
hafte Posse, versichere Sie, nicht für gebildete Gesellschaft. Was haben<lb/>
Sie, meine Gnädige?&#x201C; stieß Herr von Goldapfel unbekümmert heraus,<lb/>
indem er sein Lorgnon aus dem Augenwinkel fallen ließ.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Sie haben ganz recht, irgend eine Schülerdummheit&#x201C;, versetzte<lb/>
Nisida, die im ersten Moment Werner das Blatt heftig aus der Hand<lb/>
gerissen; &#x201E;es war nicht der Mühe werth, uns das zu übersetzen, Herr<lb/>
Werner. Jch begreife nicht, wie der alberne Kellner dazu gekommen,<lb/>
es auf meinen Tisch zu legen; er muß sich versehen haben.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Sie zerknitterte das Papier in der Hand und warf es gleichgültig<lb/>
auf die Erde. Der lange Fritz stand wie niedergedonnert; Baron<lb/>
Lindhorst hatte während des Vorlesens den Kopf gehoben und ihn<lb/>
aufmerksam angeblickt. Er nickte leise dazu mit der Stirn, dann glitt<lb/>
er sich mit der Hand über die Augen. Er trug am kleinen Finger<lb/>
derselben einen schmalen Goldreif mit einem Türkis, und wie er die<lb/>
Hand zurückzog, streifte sich der Ring ab und fiel zu Boden. Hastig<lb/>
bückte sich Lindhorst, um ihn aufzuheben, doch er mußte geraume Zeit<lb/>
umhersuchen, ehe er ihn fand.</p><lb/>
        <p>Nisida biß sich heimlich auf die Lippen. Sie sah aus dem Winkel<lb/>
ihres Auges, daß er mit dem Ring zugleich das von ihr fortgeworfene<lb/>
Papier aufgenommen und im Rockärmel verborgen hatte. Sie erhob<lb/>
sich so schnell, daß Herr von Goldapfel kaum noch Zeit besaß, seine<lb/>
Stiefel mit der ihm zukommenden äußersten Grazie des Anstandes<lb/>
vor der Berührung mit dem Saum ihres Kleides zu retiriren und<lb/>
sagte laut:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Es wird hier entsetzlich eintönig unter den Bäumen. Die Nacht<lb/>
ist so schön, man sollte einen Spaziergang mit Fackeln machen &#x2014;&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Eine sublime Jdee, meine Gnädige; wahrhaftig, ein romantischer<lb/>
Gedanke! Mit Fackeln! Die Proposition kann nur einem so schönen<lb/>
Haupte entspringen; was sage ich, nnr einem Wesen, das der göttlichen<lb/>
Nation der Erde angehört. Auch Jhre Ahnherrinnen, meine Gnädige,<lb/>
ließen sich Nachts von den vornehmsten Kavalieren der Kaiserzeit mit<lb/>
Fackeln nach Hause geleiten.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Jch glaube, es ist nicht sehr schmeichelhaft für das Fräulein, Herr<lb/>
von Goldapfel, mit den römischen Damen verglichen zu werden, die<lb/>
sich Nachts mit Fackeln nach Hause geleiten ließen&#x201C;, sagte plötzlich<lb/>
Baron Lindhorst, der bisher an der Unterhaltung kaum Antheil ge-<lb/>
nommen, mit scharfem Ton.</p><lb/>
        <p>Nisida biß sich abermals auf die Lippen, als ob die Jronie der<lb/>
Bemerkung ihr noch mehr als dem Angeredeten gegolten. Dieser<lb/>
lachte verlegen:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Jn der That, muß gestehen, habe mich nicht viel mit dem alten,<lb/>
historischen Gerümpel beschäftigt. Ueberlasse das Schulfüchsen, verletze<lb/>
jedoch nie den Anstand, kann mir Niemand nachsagen. Versichere<lb/>
Sie, meine Gnädige, wenn ich mir erlaube, Sie mit einer andern<lb/>
Dame zu vergleichen, so ist die Dame anständig.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Lindhorst zog einen Augenblick die Brauen heftig zusammen, als<lb/>
ob er etwas darauf erwidern wolle, doch die Sängerin lachte ebenfalls:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Jch glaube Jhnen, Herr von Goldapfel, und sehe keine Gefahr<lb/>
darin, mich von Jhnen mit Fackeln begleiten zu lassen; Baron Lind-<lb/>
horst ist etwas zu übertrieben ängstlich. Eilen Sie, Signor, und<lb/>
schaffen Sie Beleuchtungsmaterial für unsere dunkle Wanderung.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Es war ersichtlich, daß sie einen Streit zwischen den beiden Herren<lb/>
vermeiden wollte. Herr von Goldapfel flog mit einem halblaut<lb/>
genäselten &#x201E;Göttliches Weib!&#x201C; in falterhafter Anmuth davon, und<lb/>
Fritz Werner benutzte die durch seine Entfernung entstandene Lücke,<lb/>
um sich Nisida wieder zu nähern. Doch diese warf ihm einen un-<lb/>
geheuchelt zornigen Blick zu und sagte, an ihm vorübergehend:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Sie sind ein abgeschmackter Mensch, machen Sie sich jetzt wenig-<lb/>
stens nützlich; als Fackelstatist werden Sie doch zu brauchen sein.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Bei alledem verwandte die Sängerin jedoch kein Auge von Lind-<lb/>
horst. Sie sah, daß er zur Seite getreten war, das zerknitterte Pa-<lb/>
pier beim Schimmer einer Hängelampe entfaltet hatte und tiefsinnig<lb/>
darauf hinblickte. Nun rief sie:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Arminio!&#x201C; Er fuhr zusammen; doch in demselben Augenblick<lb/>
kam auch Herr von Goldapfel triumphirend zurück und sagte:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Famose Wirthin, besitzt immer Fackeln vorräthig; sagt, daß sie<lb/>
im Winter häufig gebraucht, wenn Viehtreiber im Schnee stecken<lb/>
bleiben. Versicherte ihr, vollständig verschiedene Sachlage von uns.<lb/>
Hat gelacht, biederes Schweizergemüth, und mit einem Witz geantwortet.<lb/><cb type="end"/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[250/0002] 250 Gespräch an und ließen es wieder fallen und schlangen, metaphorisch zu reden, ein vielfach durcheinander gekreuztes, loses Fädchen um alle für die Nacht der Obhut des Bodenhauses Befohlenen, welches die- selben mit dem Bewußtsein der flüchtigen Zusammengehörigkeit ver- knüpfte. Am meisten besucht war der Tisch, an welchem sich Nisida, ihre Begleiterin und Lindhorst befanden. Jn einiger Entfernung saß die heilige Schaar aus dem baierischen Schwabenlande um einen brei- ten, sich auf der Gränze zwischen Dunkel und Licht haltenden Tisch gruppirt. Mit Ausnahme Kleist's und der Gebrüder Busse starrten sie sämmtlich unabänderlich mit zwischen melancholischer Versunkenheit und wildester Eifersucht wechselnder Miene nach dem umschwärmten Sitz der Sängerin hinüber; doch Keiner von ihnen getraute sich, Fritz Werner's Beispiel nachzuahmen, der legeren Schrittes, die rechte Hand nachlässig in der Gegend des Herzens in die Weste gesteckt, ebenfalls umher promenirte, ab und zu artig vor einem Tisch grüßte, ohne daß die daran Sitzenden eine Ahnung davon erhielten, daß der Gruß ihnen gelte, und in konzentrischen Kreisen näher rückend, allmälig im Augen= und Ohrbereich der Jtalienerin Posto zu fassen suchte. Hilmar trat, mit seiner Zeichnung in der Hand, in den Garten. „Jch glaube, die Dame drüben hat das Blatt verloren“, sagte er, auf Nisida deutend, zu einem Kellner, „bringen Sie es ihr bei Ge- legenheit zurück.“ Die Gelegenheit, sich der Dankbarkeit eines nobel auftretenden Gastes zu versichern, pflegt Kellnern nicht viel Kopfzerbrechen zu ver- ursachen, und ehe eine halbe Minute verflossen war, hatte der Be- auftragte seine dankbare Mission erfüllt und war mit einer ihm von Fritz Werner tief beneideten Verbeugung wieder verschwunden. Nisida hatte von seinen begleitenden Worten nicht viel vernommen und drehte die Zeichnung verwundert zwischen den Fingern. „Was bedeutet das? Das verstehe ich arme Unwissenheit nicht“, lachte sie. Ein junger, fashionabler, à l'Anglais gekleideter Mann, der vor ihr stand, nahm ihr das Blatt aus der Hand. „Ah“, machte er, ein großes, goldenes Lorgnon in den linken Augenwinkel einklemmend, „allerliebst gezeichnet; wahrhaftig, versichere Sie, meine Gnädige, allerliebst. Jst die Brücke in Dingsda, an der Sie heut Nachmittag auch vorübergekommen sind, mit der lateinischen Jnschrift. Soll ich sie Jhnen übersetzen, meine Gnädige? Glaube wohl, daß Sie es nicht können; ist aber nicht Jhr Fehler, denn es ist Latein, und das lernen die Damen in unseren Pensionen nicht. Das heißt nämlich: Die Straße steht offen jetzt Feinden und Freunden. „Hütet Euch, Rhätier, Einfachheit der Sitten —“ Nisida blickte mit auf das Blatt. „Erlauben Sie, Herr von Goldapfel, wo steht: Hütet Euch, Rhätier?“ fragte sie plötzlich, mit unwillkürlich zuckenden Mundwinkeln. „Hier, meine Gnädige, dritte Zeile, oder Vers, wie Sie wollen, denn das Ganze ist eine Ode: Amica te monet — Hütet Euch, Rhätier —“ Ein schallendes Gelächter brach unter den Umstehenden aus, und die Sängerin lachte rücksichtslos mit. „Es ist zwar nicht Jhr Fehler, aber ich glaube, Herr von Goldapfel, Sie sind auch in einer Mädchenpension gewesen, wahrhaftig“, sagte sie. „Zum Glück haben wir hier einen veritablen Gelehrten bei der Hand. Herr Werner, wollen Sie uns beiden armen Damen nicht diese schwie- rige Jnschrift erklären?“ Sie winkte dem langen Fritz mit ihrem schönen Finger, und er kam, vor Beglückung unterwegs über ein Stuhlbein stolpernd, heran. „Weiß nicht, was Sie zu lachen haben — versichere Sie, meine Gnädige“, wiederholte Herr von Goldapfel, in die Tasche greifend, „es ist Latein.“ Er zog ein grün gepreßtes Buch hervor, in dem er blätterte; dann hielt er mit triumphirendem Blick inne. „Sehen Sie, hier steht's im Escher — glaube, daß Sie den einigermaßen als Autorität anerkennen werden, meine Herren —: Jam via patet — Die Straße steht nun offen Feinden und Freunden. Hütet Euch, Rhätier —“ Er brach ab, denn Fritz Werner begann, von dem Blatt lesend, zu deklamiren: „Der Weg steht nun offen —“ „Hören Sie es, meine Gnädige? Der Weg steht nun offen — Jam via patet — sehr richtig, sehr schön ausgedrückt“, fiel Herr von Goldapfel ein. „Jn's fremde Land“, fuhr der Deklamator fort: „Dich warnt eine Freundin: Nur in der Heimath Harrt Dein die Liebe, Bleibt Dir die ewige Treue erhalten. Es ist eine Variation der Jnschrift auf der Pigneuer Brücke —“, schloß der lange Fritz seinen Vortrag. Er hatte kühn damit begonnen, „meine Gnädige“ in gleicher kavaliermäßiger Art, wie sein augenblick- liches Vorbild herauszubringen, stolperte jedoch, wie vorhin, über dem Stuhlbein, über den beiden letzten Silben und ergänzte sie durch einen plötzlichen Husten. „Was? Ah! Variation? Wahrhaftig! Schlechter Spaß! Schüler- hafte Posse, versichere Sie, nicht für gebildete Gesellschaft. Was haben Sie, meine Gnädige?“ stieß Herr von Goldapfel unbekümmert heraus, indem er sein Lorgnon aus dem Augenwinkel fallen ließ. „Sie haben ganz recht, irgend eine Schülerdummheit“, versetzte Nisida, die im ersten Moment Werner das Blatt heftig aus der Hand gerissen; „es war nicht der Mühe werth, uns das zu übersetzen, Herr Werner. Jch begreife nicht, wie der alberne Kellner dazu gekommen, es auf meinen Tisch zu legen; er muß sich versehen haben.“ Sie zerknitterte das Papier in der Hand und warf es gleichgültig auf die Erde. Der lange Fritz stand wie niedergedonnert; Baron Lindhorst hatte während des Vorlesens den Kopf gehoben und ihn aufmerksam angeblickt. Er nickte leise dazu mit der Stirn, dann glitt er sich mit der Hand über die Augen. Er trug am kleinen Finger derselben einen schmalen Goldreif mit einem Türkis, und wie er die Hand zurückzog, streifte sich der Ring ab und fiel zu Boden. Hastig bückte sich Lindhorst, um ihn aufzuheben, doch er mußte geraume Zeit umhersuchen, ehe er ihn fand. Nisida biß sich heimlich auf die Lippen. Sie sah aus dem Winkel ihres Auges, daß er mit dem Ring zugleich das von ihr fortgeworfene Papier aufgenommen und im Rockärmel verborgen hatte. Sie erhob sich so schnell, daß Herr von Goldapfel kaum noch Zeit besaß, seine Stiefel mit der ihm zukommenden äußersten Grazie des Anstandes vor der Berührung mit dem Saum ihres Kleides zu retiriren und sagte laut: „Es wird hier entsetzlich eintönig unter den Bäumen. Die Nacht ist so schön, man sollte einen Spaziergang mit Fackeln machen —“ „Eine sublime Jdee, meine Gnädige; wahrhaftig, ein romantischer Gedanke! Mit Fackeln! Die Proposition kann nur einem so schönen Haupte entspringen; was sage ich, nnr einem Wesen, das der göttlichen Nation der Erde angehört. Auch Jhre Ahnherrinnen, meine Gnädige, ließen sich Nachts von den vornehmsten Kavalieren der Kaiserzeit mit Fackeln nach Hause geleiten.“ „Jch glaube, es ist nicht sehr schmeichelhaft für das Fräulein, Herr von Goldapfel, mit den römischen Damen verglichen zu werden, die sich Nachts mit Fackeln nach Hause geleiten ließen“, sagte plötzlich Baron Lindhorst, der bisher an der Unterhaltung kaum Antheil ge- nommen, mit scharfem Ton. Nisida biß sich abermals auf die Lippen, als ob die Jronie der Bemerkung ihr noch mehr als dem Angeredeten gegolten. Dieser lachte verlegen: „Jn der That, muß gestehen, habe mich nicht viel mit dem alten, historischen Gerümpel beschäftigt. Ueberlasse das Schulfüchsen, verletze jedoch nie den Anstand, kann mir Niemand nachsagen. Versichere Sie, meine Gnädige, wenn ich mir erlaube, Sie mit einer andern Dame zu vergleichen, so ist die Dame anständig.“ Lindhorst zog einen Augenblick die Brauen heftig zusammen, als ob er etwas darauf erwidern wolle, doch die Sängerin lachte ebenfalls: „Jch glaube Jhnen, Herr von Goldapfel, und sehe keine Gefahr darin, mich von Jhnen mit Fackeln begleiten zu lassen; Baron Lind- horst ist etwas zu übertrieben ängstlich. Eilen Sie, Signor, und schaffen Sie Beleuchtungsmaterial für unsere dunkle Wanderung.“ Es war ersichtlich, daß sie einen Streit zwischen den beiden Herren vermeiden wollte. Herr von Goldapfel flog mit einem halblaut genäselten „Göttliches Weib!“ in falterhafter Anmuth davon, und Fritz Werner benutzte die durch seine Entfernung entstandene Lücke, um sich Nisida wieder zu nähern. Doch diese warf ihm einen un- geheuchelt zornigen Blick zu und sagte, an ihm vorübergehend: „Sie sind ein abgeschmackter Mensch, machen Sie sich jetzt wenig- stens nützlich; als Fackelstatist werden Sie doch zu brauchen sein.“ Bei alledem verwandte die Sängerin jedoch kein Auge von Lind- horst. Sie sah, daß er zur Seite getreten war, das zerknitterte Pa- pier beim Schimmer einer Hängelampe entfaltet hatte und tiefsinnig darauf hinblickte. Nun rief sie: „Arminio!“ Er fuhr zusammen; doch in demselben Augenblick kam auch Herr von Goldapfel triumphirend zurück und sagte: „Famose Wirthin, besitzt immer Fackeln vorräthig; sagt, daß sie im Winter häufig gebraucht, wenn Viehtreiber im Schnee stecken bleiben. Versicherte ihr, vollständig verschiedene Sachlage von uns. Hat gelacht, biederes Schweizergemüth, und mit einem Witz geantwortet.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt32_1869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt32_1869/2
Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 32. Berlin, 8. August 1869, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt32_1869/2>, abgerufen am 15.06.2024.