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Sonntags-Blatt. Nr. 32. Berlin, 8. August 1869.

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[Beginn Spaltensatz] Sagte, eine Viertelstunde von hier sei eine alte Ruine; ob ich's nicht
schon in mir verspürt hätte, wie manche Leute den herankommenden
Regen. Habe nämlich ein großes Faible für Ruinen; les extremes
se touchent
, meine Gnädige. Sie nennen sie im Dorf die Narren-
burg und es sei nicht geheuer darin; ob ich die Courage hätte, den
Geistern zu begegnen. Man sähe dort dasjenige, was Einem das
Werthvollste sei, wenn es tausend Meilen entfernt wäre. Sind Alle
abergläubisch, diese wackern Schweizer. Werde nicht weit zu sehen
haben, meine Gnädige, versichere Sie, kaum fünf Fuß weit, wenn ich
mich so nahe bei Jhnen befinde, wie jetzt."

Es giebt plötzliche Gedanken, die wie ein Blitz einschlagen und
ebenso elektrisch fortwirken, und als ein solcher bewies sich für die ge-
sammte Abendgesellschaft des Bodenhauses der Einfall, die gemeiniglich
"Zur Burg" benannte Ruine in der Nähe des Dorfes noch in der
Nacht mit Fackeln zu besuchen. Eine allgemeine Zustimmung erfolgte,
von der sich nur wenige der anwesenden Herren und von den fackel-
beleuchteter Romantik selten abgeneigten Damen nur einige, besonders
ältliche, ausschlossen, und der Art improvisirter Unternehmungen ge-
mäß, waren die nöthigen Vorbereitungen schneller getroffen, als wenn
man sich tagelang vorbedacht, für diesen Moment gerüstet hätte. Kaum
eine Viertelstunde war nach der ersten Anregung der Jdee verflossen,
als sich schon die aus dreißig Theilnehmern bestehende Cavalcade
unter dem rothglühenden Licht eines halben Dutzend von Fackeln und
unter Führung eines seit längerer Zeit der Gegend genau kundigen,
alten Herrn, ihrem Ziel entgegenbewegte. Nisida eröffnete, an Lind-
horst 's Arm, den Vortrab, an ihrer andern Seite tänzelte Herr von
Goldapfel so elegant am Rande eines im Dunkel verschwindenden Ab-
sturzes, daß die Sängerin, zwar ohne besondere Gemüthsaffektion, aber
doch ein über das andere Mal wiederholte, er werde noch der Narren-
burg und seinem Faible zu Liebe den Hals brechen.

"Wenn Sie darüber weinen wollten, meine Gnädige, würde mir
zur Ehre anrechnen. Zwar plebejische Todesart, Genick brechen, erinnert
an gehängt werden Aber wie sagt von Schiller? Ein Augenblick von
Jhnen auf solcher Wiese, wird nicht zu theuer mit dem Genick bezahlt.
Bin so bezaubert von Jhrer Nähe, daß ich nur mit Dichtern reden
möchte, sogar mit Juden. Werde immer an Loreley von Cohn oder
Heine erinnert, wenn ich Sie ansehe. Apropos Loreley, genialer Ge-
danke, Sie müssen auf Ruine sitzen und singen. Wahrhaftig, ver-
sichere Sie, stürze mich sonst vor Jhren Augen von alter Mauer her-
unter und rufe: Das hat mit ihrem Nichtsingen die göttliche Nisida
gethan!"

"Das wäre schade für ihre Toilette", lachte die Sängerin, "aber
ich wiederhole Jhnen, sehen Sie vor die Füße und nicht in meine
Augen, sonst könnte das Malheur zu früh eintreten; es wird glatt hier."

Den Nachtrab bildete das Kemptener Gymnasium. Es hatte sich
in corpore betheiligt, marschirte aber, in dem Gefühl, auch geistig
in die Arrieregarde zurückgedrängt zu sein, stumm und verdrossen.
Der lange Fritz kaute unausgesetzt an den Nägeln; Windflucht mur-
melte etwas von "Nachtfeier der Venus". Das veranlaßte Tritschler
zu summen:

"Heute liebe, wer noch nimmer
Hat geliebet je zuvor;
Wer geliebet sonst und immer,
Liebe heute nach wie vor --

Gedicht an Molly", setzte er, literar=historisch kommentirend, hinzu.

"Ja, ihr Gesicht ist joli ", nickte Briesack.

"Und ihr seid Alle jaloux ", platzte Otto Busse heraus, "bis auf
Kleist, und wenn Kleist wüßte, was ich weiß, wäre er es erst recht."

Kleist schien indeß auch so auf das bezeichnete Epitheton Anspruch
machen zu wollen, denn er sagte in demselben Augenblick zu Hilmar,
mit dem er wieder Arm in Arm ging:

"Du bist manchmal recht wunderlich, Ernst. Jch begreife nicht,
wie Du allein zu dem Zimmer gekommen bist, da man uns Allen
erklärt hat, daß keins mehr vorhanden sei. Was ich aber noch we-
niger begreife, ist --"

Der Sprecher sah sich abbrechend um, denn Otto Busse zupfte
ihn am Aermel.

"Was willst Du, Kleiner?" fragte er.

Der Sekundaner machte "Pst!" und legte den Finger auf den Mund.
Kleist blickte sich um, was das Zeichen bedeuten solle, gewahrte indeß
nichts und erwiderte:

"Sei nicht so albern, Otto. Jch weiß wenigstens", fuhr er, gegen
Hilmar gewendet, fort, "daß, wenn ich wirklich Freundschaft für einen
Andern empfände, ich anders gehandelt hätte. Es ist mir an sich
gewiß völlig gleichgültig, ob ich eine Nacht im Bett oder im Heu ver-
bringe, aber einem Freunde, den ich wahrhaft liebte -- ich sage offen
heraus, was ich denke -- hätte ich immer gefragt, ob er das Zim-
mer, das ich einem glücklichen Zufall verdankte, wenn es auch noch so
eng wäre, mit mir theilen wollte. Und wenn --"

Diesmal zupfte Otto Busse den Sprecher nicht am Aermel, er
riß ihn gradezu. Kleist drehte sich wieder um und sagte ärgerlich:

[Spaltenumbruch]

"Jch verbitte mir Deine Kindereien --"

Der Kleine aber hatte jetzt einen Grund für seine Possen zur
Hand, denn er deutete auf den Weg hinunter und sagte:

"Es wäre besser, wenn Du Hilmar sorgsamer führtest und vor die
Füße sähest, es liegen hier Steine im Wege, wie Fritzens Kopf groß.
Ohne Fackeln wäre es ein kurioses Vergnügen, hier vor Mitternacht
herumzulaufen, als ob man zwei Hälse, einen nach rechts und einen
nach links, zu riskiren hätte. Uebrigens, wenn ich Hilmar wäre, machte
ich es grade wie er."

Der Weg war in der That schlecht und nicht ohne Gefahr. Ab
und zu ertönte ein weiblicher Schrei, doch das stets darauf folgende
lustige Lachen besagte, daß kein wirklicher Unfall geschehen. Die Ent-
fernung zur Ruine mochte bei Tageslicht leicht in einer Viertelstunde
zurückzulegen sein, doch unter den obwaltenden Umständen gebrauchte
die nächtliche Kolonne fast die doppelte Zeit. Nun beglänzten die
vordersten Fackeln das alte Gemäuer. Dasselbe bestand aus ziemlich
umfangreichen Ueberbleibseln eines ehemaligen Schlosses, dessen Decken
überall eingestürzt waren. Nur die Seitenwände standen noch, hier
und da hochgegiebelt, von wild aufgewuchertem Gestrüpp dicht über-
rankt. Es war ein phantastischer Anblick, wenn plötzlich eine Fackel
hinter einer leeren Fensterhöhlung auftauchte, einen Moment ihren
glührothen Schein in den alten, grasbewachsenen Burghof herabwarf
und wieder hinter einer Mauer verschwand. Die Gesellschaft hatte
sich getheilt und folgte partieenweise den mit Fackeln Versehenen. Bald
hier, bald dort klangen Stimmen, die Herren deklamirten oder ermu-
thigten die Damen, ihnen in eine unbekannte Finsterniß, unter einem
dicht verhängten Bogen durch, zu folgen. Hin und wieder rollte
ein Stein unter dem Fußtritt eines im Dunkel Kletternden fort und
sprang in die Tiefe. Allmälig trafen die einzelnen Abtheilungen
wieder in dem größten Burgraum zusammen. Die Herren hatten die
Fackeln ziemlich symmetrisch zwischen lockeres Gestein oder in Mauer-
ritzen gesteckt und dadurch den von vier größtentheils wohlerhaltenen
Wänden umschlossenen Gelaß ein gewisses gespenstisches Leben verliehen.
So mochten vor manchen Jahrhunderten die Fackeln an den nämlichen
Mauern aufgereiht gewesen sein, wenn sie auf ritterliches Zechgelage
oder auf einen Kranz edler Burgfräulein herabblickten. Auch das der
Romantik fremdeste Gemüth vermag sich einem gewissen Eindruck nicht
leicht zu entziehen, wenn es um Mitternacht bei Fackelglanz auf ein-
samer Höhe auf den Trümmern eines lang' vergangenen Lebens ruht,
und das Gespräch lenkte sich naturgemäß auf die Vorzeit hin. Ab
und zu sahen die Damen weiße, sonderbare Gesichter aus dem Epheu-
und Brombeergerank hervorlugen, und die Herren gaben sich alle
Mühe, ihre Begleiterinnen zu erschrecken und in furchtsame Stimmung
zu versetzen. Vorzüglich wurde der alte Herr, welcher der Gesellschaft
als Führer diente, bestürmt, die sagenhaften Erinnerungen mitzutheilen,
von denen er gesagt, daß sie sich an die Burg knüpften. Allein er
weigerte sich mit schalkhafter Hartnäckigkeit, dies vor Mitternacht zu
thun. Wenn die Uhr, die man hier oben bei der totalen, ungewöhn-
lichen Windstille deutlich hören müsse, vom Dorf heraufschlage, sei er
bereit. Herr von Goldapfel lachte freilich unbändig über den Aber-
glauben, der in dieser famosen Schweizerlandschaft auch die Fremden
anzustecken scheine, doch der alte Herr ließ sich dadurch nicht beirren,
und ihm gewaltsam seine Erzählung vorher zu entreißen, wußte auch
Herr von Goldapfel keinen Rath. Statt dessen fiel ihm plötzlich sein
göttlicher Gedanke von vorhin wieder ein, daß Nisida hier oben singen
müsse. Der Vorschlag erregte allgemeinsten Beifall; Jeder versprach
sich den unvergleichlichsten Genuß und erklärte die Sängerin im Vor-
aus für unbarmherzig, wenn sie den einstimmigen Bitten der Gesell-
schaft nicht Gehör schenken würde.

Nisida war nicht grausam. Sie stand mit einem zauberischen
Lächeln auf und verschwand aus dem Fackelkreis. Herr von Gold-
apfel wollte sie begleiten, da er schwur, daß jeder Dorn, an dem sie
sich im Dunkel ritzen könne, ihm ein Jahr seines Lebens kosten würde,
aber sie lehnte seine Fürsorge mit einem spöttischen Knix ab, so daß
demselben nichts übrig blieb, als sich, gleich der übrigen Gesellschaft,
auf dem warmen Rasenboden des Burghofs zu lagern.

Nach einigen Minuten ertönte die Stimme der schönen Jtalienerin
über den Versammelten aus der Höhe. Sie kam aus dem Dunkel
wie vom Himmel herab, glockenhell, weit in die Nacht hinaus. Es
war eine italienische Arie, die sie sang, und die Töne liefen sonderbar
an dem alten Mauerwerk hin und wieder; daß sie von unsichtbaren
Lippen ausströmten, erhöhte unwillkürlich ihren Reiz. Doch für ein
feineres Gefühl erschienen sie so unpassend wie möglich gewählt. Jm
blendenden, Gaslicht ausstrahlenden Gesellschaftssaal oder auf der
Opernbühne mochten sie an ihrer Stelle sein, hier, wo die Todten
unter dem Schutt schliefen, hatten sie einen leichtfertigen, fast frevel-
haften Klang.

( Fortsetzung folgt. )



[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Sagte, eine Viertelstunde von hier sei eine alte Ruine; ob ich's nicht
schon in mir verspürt hätte, wie manche Leute den herankommenden
Regen. Habe nämlich ein großes Faible für Ruinen; les extrêmes
se touchent
, meine Gnädige. Sie nennen sie im Dorf die Narren-
burg und es sei nicht geheuer darin; ob ich die Courage hätte, den
Geistern zu begegnen. Man sähe dort dasjenige, was Einem das
Werthvollste sei, wenn es tausend Meilen entfernt wäre. Sind Alle
abergläubisch, diese wackern Schweizer. Werde nicht weit zu sehen
haben, meine Gnädige, versichere Sie, kaum fünf Fuß weit, wenn ich
mich so nahe bei Jhnen befinde, wie jetzt.“

Es giebt plötzliche Gedanken, die wie ein Blitz einschlagen und
ebenso elektrisch fortwirken, und als ein solcher bewies sich für die ge-
sammte Abendgesellschaft des Bodenhauses der Einfall, die gemeiniglich
„Zur Burg“ benannte Ruine in der Nähe des Dorfes noch in der
Nacht mit Fackeln zu besuchen. Eine allgemeine Zustimmung erfolgte,
von der sich nur wenige der anwesenden Herren und von den fackel-
beleuchteter Romantik selten abgeneigten Damen nur einige, besonders
ältliche, ausschlossen, und der Art improvisirter Unternehmungen ge-
mäß, waren die nöthigen Vorbereitungen schneller getroffen, als wenn
man sich tagelang vorbedacht, für diesen Moment gerüstet hätte. Kaum
eine Viertelstunde war nach der ersten Anregung der Jdee verflossen,
als sich schon die aus dreißig Theilnehmern bestehende Cavalcade
unter dem rothglühenden Licht eines halben Dutzend von Fackeln und
unter Führung eines seit längerer Zeit der Gegend genau kundigen,
alten Herrn, ihrem Ziel entgegenbewegte. Nisida eröffnete, an Lind-
horst 's Arm, den Vortrab, an ihrer andern Seite tänzelte Herr von
Goldapfel so elegant am Rande eines im Dunkel verschwindenden Ab-
sturzes, daß die Sängerin, zwar ohne besondere Gemüthsaffektion, aber
doch ein über das andere Mal wiederholte, er werde noch der Narren-
burg und seinem Faible zu Liebe den Hals brechen.

„Wenn Sie darüber weinen wollten, meine Gnädige, würde mir
zur Ehre anrechnen. Zwar plebejische Todesart, Genick brechen, erinnert
an gehängt werden Aber wie sagt von Schiller? Ein Augenblick von
Jhnen auf solcher Wiese, wird nicht zu theuer mit dem Genick bezahlt.
Bin so bezaubert von Jhrer Nähe, daß ich nur mit Dichtern reden
möchte, sogar mit Juden. Werde immer an Loreley von Cohn oder
Heine erinnert, wenn ich Sie ansehe. Apropos Loreley, genialer Ge-
danke, Sie müssen auf Ruine sitzen und singen. Wahrhaftig, ver-
sichere Sie, stürze mich sonst vor Jhren Augen von alter Mauer her-
unter und rufe: Das hat mit ihrem Nichtsingen die göttliche Nisida
gethan!“

„Das wäre schade für ihre Toilette“, lachte die Sängerin, „aber
ich wiederhole Jhnen, sehen Sie vor die Füße und nicht in meine
Augen, sonst könnte das Malheur zu früh eintreten; es wird glatt hier.“

Den Nachtrab bildete das Kemptener Gymnasium. Es hatte sich
in corpore betheiligt, marschirte aber, in dem Gefühl, auch geistig
in die Arrieregarde zurückgedrängt zu sein, stumm und verdrossen.
Der lange Fritz kaute unausgesetzt an den Nägeln; Windflucht mur-
melte etwas von „Nachtfeier der Venus“. Das veranlaßte Tritschler
zu summen:

„Heute liebe, wer noch nimmer
Hat geliebet je zuvor;
Wer geliebet sonst und immer,
Liebe heute nach wie vor —

Gedicht an Molly“, setzte er, literar=historisch kommentirend, hinzu.

„Ja, ihr Gesicht ist joli “, nickte Briesack.

„Und ihr seid Alle jaloux “, platzte Otto Busse heraus, „bis auf
Kleist, und wenn Kleist wüßte, was ich weiß, wäre er es erst recht.“

Kleist schien indeß auch so auf das bezeichnete Epitheton Anspruch
machen zu wollen, denn er sagte in demselben Augenblick zu Hilmar,
mit dem er wieder Arm in Arm ging:

„Du bist manchmal recht wunderlich, Ernst. Jch begreife nicht,
wie Du allein zu dem Zimmer gekommen bist, da man uns Allen
erklärt hat, daß keins mehr vorhanden sei. Was ich aber noch we-
niger begreife, ist —“

Der Sprecher sah sich abbrechend um, denn Otto Busse zupfte
ihn am Aermel.

„Was willst Du, Kleiner?“ fragte er.

Der Sekundaner machte „Pst!“ und legte den Finger auf den Mund.
Kleist blickte sich um, was das Zeichen bedeuten solle, gewahrte indeß
nichts und erwiderte:

„Sei nicht so albern, Otto. Jch weiß wenigstens“, fuhr er, gegen
Hilmar gewendet, fort, „daß, wenn ich wirklich Freundschaft für einen
Andern empfände, ich anders gehandelt hätte. Es ist mir an sich
gewiß völlig gleichgültig, ob ich eine Nacht im Bett oder im Heu ver-
bringe, aber einem Freunde, den ich wahrhaft liebte — ich sage offen
heraus, was ich denke — hätte ich immer gefragt, ob er das Zim-
mer, das ich einem glücklichen Zufall verdankte, wenn es auch noch so
eng wäre, mit mir theilen wollte. Und wenn —“

Diesmal zupfte Otto Busse den Sprecher nicht am Aermel, er
riß ihn gradezu. Kleist drehte sich wieder um und sagte ärgerlich:

[Spaltenumbruch]

„Jch verbitte mir Deine Kindereien —“

Der Kleine aber hatte jetzt einen Grund für seine Possen zur
Hand, denn er deutete auf den Weg hinunter und sagte:

„Es wäre besser, wenn Du Hilmar sorgsamer führtest und vor die
Füße sähest, es liegen hier Steine im Wege, wie Fritzens Kopf groß.
Ohne Fackeln wäre es ein kurioses Vergnügen, hier vor Mitternacht
herumzulaufen, als ob man zwei Hälse, einen nach rechts und einen
nach links, zu riskiren hätte. Uebrigens, wenn ich Hilmar wäre, machte
ich es grade wie er.“

Der Weg war in der That schlecht und nicht ohne Gefahr. Ab
und zu ertönte ein weiblicher Schrei, doch das stets darauf folgende
lustige Lachen besagte, daß kein wirklicher Unfall geschehen. Die Ent-
fernung zur Ruine mochte bei Tageslicht leicht in einer Viertelstunde
zurückzulegen sein, doch unter den obwaltenden Umständen gebrauchte
die nächtliche Kolonne fast die doppelte Zeit. Nun beglänzten die
vordersten Fackeln das alte Gemäuer. Dasselbe bestand aus ziemlich
umfangreichen Ueberbleibseln eines ehemaligen Schlosses, dessen Decken
überall eingestürzt waren. Nur die Seitenwände standen noch, hier
und da hochgegiebelt, von wild aufgewuchertem Gestrüpp dicht über-
rankt. Es war ein phantastischer Anblick, wenn plötzlich eine Fackel
hinter einer leeren Fensterhöhlung auftauchte, einen Moment ihren
glührothen Schein in den alten, grasbewachsenen Burghof herabwarf
und wieder hinter einer Mauer verschwand. Die Gesellschaft hatte
sich getheilt und folgte partieenweise den mit Fackeln Versehenen. Bald
hier, bald dort klangen Stimmen, die Herren deklamirten oder ermu-
thigten die Damen, ihnen in eine unbekannte Finsterniß, unter einem
dicht verhängten Bogen durch, zu folgen. Hin und wieder rollte
ein Stein unter dem Fußtritt eines im Dunkel Kletternden fort und
sprang in die Tiefe. Allmälig trafen die einzelnen Abtheilungen
wieder in dem größten Burgraum zusammen. Die Herren hatten die
Fackeln ziemlich symmetrisch zwischen lockeres Gestein oder in Mauer-
ritzen gesteckt und dadurch den von vier größtentheils wohlerhaltenen
Wänden umschlossenen Gelaß ein gewisses gespenstisches Leben verliehen.
So mochten vor manchen Jahrhunderten die Fackeln an den nämlichen
Mauern aufgereiht gewesen sein, wenn sie auf ritterliches Zechgelage
oder auf einen Kranz edler Burgfräulein herabblickten. Auch das der
Romantik fremdeste Gemüth vermag sich einem gewissen Eindruck nicht
leicht zu entziehen, wenn es um Mitternacht bei Fackelglanz auf ein-
samer Höhe auf den Trümmern eines lang' vergangenen Lebens ruht,
und das Gespräch lenkte sich naturgemäß auf die Vorzeit hin. Ab
und zu sahen die Damen weiße, sonderbare Gesichter aus dem Epheu-
und Brombeergerank hervorlugen, und die Herren gaben sich alle
Mühe, ihre Begleiterinnen zu erschrecken und in furchtsame Stimmung
zu versetzen. Vorzüglich wurde der alte Herr, welcher der Gesellschaft
als Führer diente, bestürmt, die sagenhaften Erinnerungen mitzutheilen,
von denen er gesagt, daß sie sich an die Burg knüpften. Allein er
weigerte sich mit schalkhafter Hartnäckigkeit, dies vor Mitternacht zu
thun. Wenn die Uhr, die man hier oben bei der totalen, ungewöhn-
lichen Windstille deutlich hören müsse, vom Dorf heraufschlage, sei er
bereit. Herr von Goldapfel lachte freilich unbändig über den Aber-
glauben, der in dieser famosen Schweizerlandschaft auch die Fremden
anzustecken scheine, doch der alte Herr ließ sich dadurch nicht beirren,
und ihm gewaltsam seine Erzählung vorher zu entreißen, wußte auch
Herr von Goldapfel keinen Rath. Statt dessen fiel ihm plötzlich sein
göttlicher Gedanke von vorhin wieder ein, daß Nisida hier oben singen
müsse. Der Vorschlag erregte allgemeinsten Beifall; Jeder versprach
sich den unvergleichlichsten Genuß und erklärte die Sängerin im Vor-
aus für unbarmherzig, wenn sie den einstimmigen Bitten der Gesell-
schaft nicht Gehör schenken würde.

Nisida war nicht grausam. Sie stand mit einem zauberischen
Lächeln auf und verschwand aus dem Fackelkreis. Herr von Gold-
apfel wollte sie begleiten, da er schwur, daß jeder Dorn, an dem sie
sich im Dunkel ritzen könne, ihm ein Jahr seines Lebens kosten würde,
aber sie lehnte seine Fürsorge mit einem spöttischen Knix ab, so daß
demselben nichts übrig blieb, als sich, gleich der übrigen Gesellschaft,
auf dem warmen Rasenboden des Burghofs zu lagern.

Nach einigen Minuten ertönte die Stimme der schönen Jtalienerin
über den Versammelten aus der Höhe. Sie kam aus dem Dunkel
wie vom Himmel herab, glockenhell, weit in die Nacht hinaus. Es
war eine italienische Arie, die sie sang, und die Töne liefen sonderbar
an dem alten Mauerwerk hin und wieder; daß sie von unsichtbaren
Lippen ausströmten, erhöhte unwillkürlich ihren Reiz. Doch für ein
feineres Gefühl erschienen sie so unpassend wie möglich gewählt. Jm
blendenden, Gaslicht ausstrahlenden Gesellschaftssaal oder auf der
Opernbühne mochten sie an ihrer Stelle sein, hier, wo die Todten
unter dem Schutt schliefen, hatten sie einen leichtfertigen, fast frevel-
haften Klang.

( Fortsetzung folgt. )



[Ende Spaltensatz]
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        <p rendition="#c">( Fortsetzung folgt. )<note type="editorial">Die unmittelbar folgenden Ausgaben, die (vermutlich) Fortsetzungsteile des Artikels enthalten, fehlen. In <ref target="nn_sonntagsblatt35_1869#Chur2">Ausgabe 35</ref> ist ein weitere Fortsetzungsteil enthalten.</note></p>
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[251/0003] 251 Sagte, eine Viertelstunde von hier sei eine alte Ruine; ob ich's nicht schon in mir verspürt hätte, wie manche Leute den herankommenden Regen. Habe nämlich ein großes Faible für Ruinen; les extrêmes se touchent, meine Gnädige. Sie nennen sie im Dorf die Narren- burg und es sei nicht geheuer darin; ob ich die Courage hätte, den Geistern zu begegnen. Man sähe dort dasjenige, was Einem das Werthvollste sei, wenn es tausend Meilen entfernt wäre. Sind Alle abergläubisch, diese wackern Schweizer. Werde nicht weit zu sehen haben, meine Gnädige, versichere Sie, kaum fünf Fuß weit, wenn ich mich so nahe bei Jhnen befinde, wie jetzt.“ Es giebt plötzliche Gedanken, die wie ein Blitz einschlagen und ebenso elektrisch fortwirken, und als ein solcher bewies sich für die ge- sammte Abendgesellschaft des Bodenhauses der Einfall, die gemeiniglich „Zur Burg“ benannte Ruine in der Nähe des Dorfes noch in der Nacht mit Fackeln zu besuchen. Eine allgemeine Zustimmung erfolgte, von der sich nur wenige der anwesenden Herren und von den fackel- beleuchteter Romantik selten abgeneigten Damen nur einige, besonders ältliche, ausschlossen, und der Art improvisirter Unternehmungen ge- mäß, waren die nöthigen Vorbereitungen schneller getroffen, als wenn man sich tagelang vorbedacht, für diesen Moment gerüstet hätte. Kaum eine Viertelstunde war nach der ersten Anregung der Jdee verflossen, als sich schon die aus dreißig Theilnehmern bestehende Cavalcade unter dem rothglühenden Licht eines halben Dutzend von Fackeln und unter Führung eines seit längerer Zeit der Gegend genau kundigen, alten Herrn, ihrem Ziel entgegenbewegte. Nisida eröffnete, an Lind- horst 's Arm, den Vortrab, an ihrer andern Seite tänzelte Herr von Goldapfel so elegant am Rande eines im Dunkel verschwindenden Ab- sturzes, daß die Sängerin, zwar ohne besondere Gemüthsaffektion, aber doch ein über das andere Mal wiederholte, er werde noch der Narren- burg und seinem Faible zu Liebe den Hals brechen. „Wenn Sie darüber weinen wollten, meine Gnädige, würde mir zur Ehre anrechnen. Zwar plebejische Todesart, Genick brechen, erinnert an gehängt werden Aber wie sagt von Schiller? Ein Augenblick von Jhnen auf solcher Wiese, wird nicht zu theuer mit dem Genick bezahlt. Bin so bezaubert von Jhrer Nähe, daß ich nur mit Dichtern reden möchte, sogar mit Juden. Werde immer an Loreley von Cohn oder Heine erinnert, wenn ich Sie ansehe. Apropos Loreley, genialer Ge- danke, Sie müssen auf Ruine sitzen und singen. Wahrhaftig, ver- sichere Sie, stürze mich sonst vor Jhren Augen von alter Mauer her- unter und rufe: Das hat mit ihrem Nichtsingen die göttliche Nisida gethan!“ „Das wäre schade für ihre Toilette“, lachte die Sängerin, „aber ich wiederhole Jhnen, sehen Sie vor die Füße und nicht in meine Augen, sonst könnte das Malheur zu früh eintreten; es wird glatt hier.“ Den Nachtrab bildete das Kemptener Gymnasium. Es hatte sich in corpore betheiligt, marschirte aber, in dem Gefühl, auch geistig in die Arrieregarde zurückgedrängt zu sein, stumm und verdrossen. Der lange Fritz kaute unausgesetzt an den Nägeln; Windflucht mur- melte etwas von „Nachtfeier der Venus“. Das veranlaßte Tritschler zu summen: „Heute liebe, wer noch nimmer Hat geliebet je zuvor; Wer geliebet sonst und immer, Liebe heute nach wie vor — Gedicht an Molly“, setzte er, literar=historisch kommentirend, hinzu. „Ja, ihr Gesicht ist joli “, nickte Briesack. „Und ihr seid Alle jaloux “, platzte Otto Busse heraus, „bis auf Kleist, und wenn Kleist wüßte, was ich weiß, wäre er es erst recht.“ Kleist schien indeß auch so auf das bezeichnete Epitheton Anspruch machen zu wollen, denn er sagte in demselben Augenblick zu Hilmar, mit dem er wieder Arm in Arm ging: „Du bist manchmal recht wunderlich, Ernst. Jch begreife nicht, wie Du allein zu dem Zimmer gekommen bist, da man uns Allen erklärt hat, daß keins mehr vorhanden sei. Was ich aber noch we- niger begreife, ist —“ Der Sprecher sah sich abbrechend um, denn Otto Busse zupfte ihn am Aermel. „Was willst Du, Kleiner?“ fragte er. Der Sekundaner machte „Pst!“ und legte den Finger auf den Mund. Kleist blickte sich um, was das Zeichen bedeuten solle, gewahrte indeß nichts und erwiderte: „Sei nicht so albern, Otto. Jch weiß wenigstens“, fuhr er, gegen Hilmar gewendet, fort, „daß, wenn ich wirklich Freundschaft für einen Andern empfände, ich anders gehandelt hätte. Es ist mir an sich gewiß völlig gleichgültig, ob ich eine Nacht im Bett oder im Heu ver- bringe, aber einem Freunde, den ich wahrhaft liebte — ich sage offen heraus, was ich denke — hätte ich immer gefragt, ob er das Zim- mer, das ich einem glücklichen Zufall verdankte, wenn es auch noch so eng wäre, mit mir theilen wollte. Und wenn —“ Diesmal zupfte Otto Busse den Sprecher nicht am Aermel, er riß ihn gradezu. Kleist drehte sich wieder um und sagte ärgerlich: „Jch verbitte mir Deine Kindereien —“ Der Kleine aber hatte jetzt einen Grund für seine Possen zur Hand, denn er deutete auf den Weg hinunter und sagte: „Es wäre besser, wenn Du Hilmar sorgsamer führtest und vor die Füße sähest, es liegen hier Steine im Wege, wie Fritzens Kopf groß. Ohne Fackeln wäre es ein kurioses Vergnügen, hier vor Mitternacht herumzulaufen, als ob man zwei Hälse, einen nach rechts und einen nach links, zu riskiren hätte. Uebrigens, wenn ich Hilmar wäre, machte ich es grade wie er.“ Der Weg war in der That schlecht und nicht ohne Gefahr. Ab und zu ertönte ein weiblicher Schrei, doch das stets darauf folgende lustige Lachen besagte, daß kein wirklicher Unfall geschehen. Die Ent- fernung zur Ruine mochte bei Tageslicht leicht in einer Viertelstunde zurückzulegen sein, doch unter den obwaltenden Umständen gebrauchte die nächtliche Kolonne fast die doppelte Zeit. Nun beglänzten die vordersten Fackeln das alte Gemäuer. Dasselbe bestand aus ziemlich umfangreichen Ueberbleibseln eines ehemaligen Schlosses, dessen Decken überall eingestürzt waren. Nur die Seitenwände standen noch, hier und da hochgegiebelt, von wild aufgewuchertem Gestrüpp dicht über- rankt. Es war ein phantastischer Anblick, wenn plötzlich eine Fackel hinter einer leeren Fensterhöhlung auftauchte, einen Moment ihren glührothen Schein in den alten, grasbewachsenen Burghof herabwarf und wieder hinter einer Mauer verschwand. Die Gesellschaft hatte sich getheilt und folgte partieenweise den mit Fackeln Versehenen. Bald hier, bald dort klangen Stimmen, die Herren deklamirten oder ermu- thigten die Damen, ihnen in eine unbekannte Finsterniß, unter einem dicht verhängten Bogen durch, zu folgen. Hin und wieder rollte ein Stein unter dem Fußtritt eines im Dunkel Kletternden fort und sprang in die Tiefe. Allmälig trafen die einzelnen Abtheilungen wieder in dem größten Burgraum zusammen. Die Herren hatten die Fackeln ziemlich symmetrisch zwischen lockeres Gestein oder in Mauer- ritzen gesteckt und dadurch den von vier größtentheils wohlerhaltenen Wänden umschlossenen Gelaß ein gewisses gespenstisches Leben verliehen. So mochten vor manchen Jahrhunderten die Fackeln an den nämlichen Mauern aufgereiht gewesen sein, wenn sie auf ritterliches Zechgelage oder auf einen Kranz edler Burgfräulein herabblickten. Auch das der Romantik fremdeste Gemüth vermag sich einem gewissen Eindruck nicht leicht zu entziehen, wenn es um Mitternacht bei Fackelglanz auf ein- samer Höhe auf den Trümmern eines lang' vergangenen Lebens ruht, und das Gespräch lenkte sich naturgemäß auf die Vorzeit hin. Ab und zu sahen die Damen weiße, sonderbare Gesichter aus dem Epheu- und Brombeergerank hervorlugen, und die Herren gaben sich alle Mühe, ihre Begleiterinnen zu erschrecken und in furchtsame Stimmung zu versetzen. Vorzüglich wurde der alte Herr, welcher der Gesellschaft als Führer diente, bestürmt, die sagenhaften Erinnerungen mitzutheilen, von denen er gesagt, daß sie sich an die Burg knüpften. Allein er weigerte sich mit schalkhafter Hartnäckigkeit, dies vor Mitternacht zu thun. Wenn die Uhr, die man hier oben bei der totalen, ungewöhn- lichen Windstille deutlich hören müsse, vom Dorf heraufschlage, sei er bereit. Herr von Goldapfel lachte freilich unbändig über den Aber- glauben, der in dieser famosen Schweizerlandschaft auch die Fremden anzustecken scheine, doch der alte Herr ließ sich dadurch nicht beirren, und ihm gewaltsam seine Erzählung vorher zu entreißen, wußte auch Herr von Goldapfel keinen Rath. Statt dessen fiel ihm plötzlich sein göttlicher Gedanke von vorhin wieder ein, daß Nisida hier oben singen müsse. Der Vorschlag erregte allgemeinsten Beifall; Jeder versprach sich den unvergleichlichsten Genuß und erklärte die Sängerin im Vor- aus für unbarmherzig, wenn sie den einstimmigen Bitten der Gesell- schaft nicht Gehör schenken würde. Nisida war nicht grausam. Sie stand mit einem zauberischen Lächeln auf und verschwand aus dem Fackelkreis. Herr von Gold- apfel wollte sie begleiten, da er schwur, daß jeder Dorn, an dem sie sich im Dunkel ritzen könne, ihm ein Jahr seines Lebens kosten würde, aber sie lehnte seine Fürsorge mit einem spöttischen Knix ab, so daß demselben nichts übrig blieb, als sich, gleich der übrigen Gesellschaft, auf dem warmen Rasenboden des Burghofs zu lagern. Nach einigen Minuten ertönte die Stimme der schönen Jtalienerin über den Versammelten aus der Höhe. Sie kam aus dem Dunkel wie vom Himmel herab, glockenhell, weit in die Nacht hinaus. Es war eine italienische Arie, die sie sang, und die Töne liefen sonderbar an dem alten Mauerwerk hin und wieder; daß sie von unsichtbaren Lippen ausströmten, erhöhte unwillkürlich ihren Reiz. Doch für ein feineres Gefühl erschienen sie so unpassend wie möglich gewählt. Jm blendenden, Gaslicht ausstrahlenden Gesellschaftssaal oder auf der Opernbühne mochten sie an ihrer Stelle sein, hier, wo die Todten unter dem Schutt schliefen, hatten sie einen leichtfertigen, fast frevel- haften Klang. ( Fortsetzung folgt. )

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 32. Berlin, 8. August 1869, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt32_1869/3>, abgerufen am 14.06.2024.