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Sonntags-Blatt. Nr. 44. Berlin, 1. November 1868.

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[Beginn Spaltensatz] wenn Sie mich rufen wollen". Es mag wohl sein, daß sie, wie
manche, die in den Schauspielerstand treten, ihren Familiennamen
gern verschweigt, weil sie fürchtet, daß sie demselben Unehre machen
könne. Hätte sie aber wirklich nicht nöthig gehabt, da sie an uns in
Wahrheit wie eine Cölestine, d. h. wie eine Sendbotin des Himmels,
gehandelt hat, und wir ihren Namen und ihr Gedächtniß in Ehren
halten werden bis an's Ende. Jch hoffe indeß, es wird uns noch
einmal im Leben vergönnt sein, sie wiederzusehen, um ihr unsern
Dank kund zu geben, und der Doktor hat mir versprochen, auf seinen
Rundfahrten in der Gegend Erkundigungen einzuziehen, wohin die
Gesellschaft gegangen sein mag.

    Den 4. Juli.

Erhalte eben einen Brief mit dem Poststempel der Hauptstadt,
darin steht nichts, als:

"Bitte, forschen Sie nicht nach mir. Jch bin nicht wieder-
gekommen, da Jhr Pflegekind meiner nicht mehr bedurfte. Wenn
Sie sich darüber gewundert haben sollten, daß eine Fremde sich in
Jhr Haus eingedrängt und die Rechte der Mutter in Anspruch ge-
nommen, so bedenken Sie, daß die Krankheit durch mein Verschul-
den hervorgerufen, daß ich eine Pflicht zu erfüllen hatte und daß
Sie unendlich viel mehr gethan, als Sie aus Menschenliebe ein
fremdes Kind an Tochterstatt in Jhrem Hause und Jhrem Herzen
adoptirt. Man gewinnt aber ein Kind lieb, wenn man Nachts
allein an seinem Bettchen sitzt und auf seinen Athem lauscht; darum,
wenn Sie mich glücklich machen und mir Dank abtragen wollen,
lassen Sie mich von Zeit zu Zeit hören, wie es Judica geht.

    Cölestine. "

Der Brief ist so unleserlich und so unorthographisch mit schlechter
Handschrift verfaßt, daß ich gar nicht begreife, wie die Fremde, die
so gut und klangreich sprach und von der Bühne eine so mächtige
Wirkung inmitten ihrer verkommenen Umgebung ausübte, mit der
Feder nur so gar erbärmlich umzugehen vermag. Jch freue mich
indessen, ihr unsere Dankbarkeit doch in Etwas, wenn auch auf diese
seltsame Art, beweisen zu können, und will es mir zur Regel machen,
ihr unter der angegebenen fremden Adresse ab und zu eine freundliche
Erinnerung von uns zukommen zu lassen. Werde jetzt doch versuchen,
ob ich mich ihr nicht mit einer kleinen Geldunterstützung zu bestimm-
ten Terminen hülfreich erzeigen kann, und morgen die erste Sendung
in Judica's Namen in die Residenz abgehen lassen.

    Den 1. Januar 1845.

Die Jahre rollen ab, eh' man es denkt, und der Zeitpunkt, von
dem man gemeint, er liege noch in unberechenbarer Ferne vor uns,
ist plötzlich da und blickt Einem unvorbereitet in's Gesicht. Jch fühle,
daß es mit Hans' Unterricht so nicht mehr fortgehen kann, daß eine
gewisse Methode darin mangelt, welche den festen Grund für den
späteren eigenen Aufbau des gewählten Lebensberufes legen muß.
Meine Sophie und ich sind lange zu Rathe gegangen, wie wir das
Ding angreifen sollten; endlich haben wir uns, freilich nicht mit ganz
leichtem Herzen, entschlossen, in Gottes Namen mit dem Einfachsten
und Nächstliegenden einen Versuch zu machen, und ich bin auf's
Schloß gewandert und habe mit dem Baron Hochseß darüber konfe-
rirt, ob Hans nicht für ein von mir zu entrichtendes Extrahonorar
an den Lektionen seines Stiefsohnes theilnehmen könne. Hab' ich
mich aber doch schier erschreckt bei dem Anblick des Barons, den ich
wohl seit fast zwei Jahren nicht gesehen und der nun plötzlich wie
um eben so viel Jahrzehnte gealtert, mit trüben Augen und beinahe
ergrautem Haar vor mir stand. Er deutete auf seine Kehle und
sprach heiser und unartikulirt, war jedoch gleich zuvorkommend bereit,
auf mein Ansinnen einzugehen, und drückte den Wunsch aus, daß ich
doch meine bisherige Zurückhaltung aufgeben und ihn öfter aufsuchen
möge. Das versprach ich ihm, und somit wird Hans mit dem Som-
mer seinen neuen Unterricht beginnen. Jch werde meine Zeit dafür
desto mehr Judica zuwenden können, der eine ernsthaftere Jnanspruch-
nahme ebenfalls im höchsten Grade noth thut. Sie wird neun Jahre
alt und macht sich in ihrer Freiheit an allerhand Dinge, die weder
für ihr Alter noch ihre ganze Zukunft geeignet sind. Neulich betraf
ich sie auf dem Trockenboden, daß sie sich heimlich einen Band meiner
Shakespeare=Uebersetzung vom Büchergestell geholt und sich droben eine
Ecke mit ein paar alten Teppichen und Decken ausstaffirt hatte, in
der sie saß und mit glühendem Gesicht aus dem Buche laut dekla-
mirte. Das sind Kindereien, die ich ihr, wenn ich sie noch einmal
dabei antreffe, mit Strenge verbieten werde. Weiß der Himmel, wie
das Mädchen darauf geräth, und alle Spiele und Erholungen, an
denen doch Kinder in dem Alter sonst ihre Freude zu haben pflegen,
darüber verabsäumt. Sie ist in dem letzten Jahr stark gewachsen,
und zum Kummer meiner Sophie bei Weitem nicht so schön und
lieblich mehr, wie sie als kleines Kind war. Jch denke indeß, wenn
nur ein braves und tüchtiges Mädchen aus ihr wird, so ist's besser,
[Spaltenumbruch] daß sie die Schönheit entbehrt, als wenn es umgekehrt wäre. Und
dafür bin ich allein verantwortlich und werde ich, sollt' es nicht anders
gehen, mit Härte sogar zu sorgen wissen.

    Den 1. Januar 1846.

Es ist mit Hans' Unterricht besser gegangen, als ich anfänglich
zu hoffen wagte. Der jetzige Lehrer auf dem Schloß ist ein fein-
gebildeter und verständiger Mann, und sucht den Altersunterschied
zwischen seinen beiden Zöglingen möglichst zu berücksichtigen; er sagte mir
indeß vor einigen Wochen, daß Hans in den meisten Dingen fast eben
so weit sei, als sein vier Jahre älterer Gefährte. Auch war er sonst
mit meinem guten Jungen sehr zufrieden, da derselbe allzeit freundlich
und bescheiden sei, sich dabei aber, was ihm besonders gefalle, von
dem jungen Baron durchaus nichts bieten lasse, so daß dieser, der sich
sonst gegen alle Knaben seines Alters, wie sogar gegen Erwachsene,
oft übermüthig und hochfahrend betrage, vor Hans einen gewissen
Respekt besitze und ihm nicht leicht zu nahe trete. Sieht Hans mit
seinen breiten Schultern und kräftigen Gliedern aber auch fast eben
so alt, als der hagere und schmächtige Albert aus, der von seiner
Mutter verhätschelt und ängstlich vor jedem Luftzug behütet wird,
während Hans sich im Sommer und Winter in gleichem Anzuge
herumtummelt und in seinem Leben bis jetzt weder Husten noch
Schnupfen gekannt hat.

Von Cölestine erhalte ich auf die kleinen Geldunterstützungen, die
ich fortsetze, immer eine prompte Antwort. Meine Frau glaubte im
Anfang, sie werde zu stolz sein, sie anzunehmen; allein sie dankt jedes-
mal in der Kürze auf's Herzlichste und zeichnet einen Kuß für Judica
daneben. Kann doch eine Schauspielerin eine gar treue Seele sein.

    Den 1. Januar 1848.

Zwei stille Jahre zwischen der letzten Zeile und dieser. Es ist
zweimal Sommer und zweimal Winter gewesen, und unser Kopfmaß
am Thürpfosten weist nach, daß Hans um drei Zoll, Judica fast um
einen Kopf größer geworden. Jch hoffe, daß sie innerlich auch so ge-
wachsen sind; wenn man Jemanden täglich um sich hat, springen
weder körperliche noch geistige Veränderungen sehr in die Augen.
Hans trägt seine alte Kinderidee jetzt ernsthaft im Kopf herum und
ist entschlossen, Arzt zu werden. Er hat Recht, es ist der beste Beruf,
den heutzutage ein tüchtiger Mensch wählen kann, d. h. wenn es ihm
Ernst um die Wissenschaft ist und er einen andern edlern Zweck
vor Augen hegt, als seinen Kranken gedankenlos Recepte zu verschrei-
ben und die Sporteln dafür mit dem Apotheker zu theilen. Es mag
wohl sein, daß der Doktor Fabri aus der Stadt dabei auf Hans
Einfluß gehabt, da er in letzter Zeit öfter bei uns vorgesprochen und
sich freundlich und angelegentlich mit ihm über die Wahl seines Stu-
diums unterhalten. Der Doktor kommt jetzt nämlich regelmäßig zwei-
mal in der Woche auf's Schloß, weil der Baron entschieden kränkelt
und sich schon seit geraumer Zeit gar nicht mehr zu erholen vermag.
Da scheint der noch junge, äußerst gebildete und liebenswürdige Mann
gern auf ein Stündchen bei uns einzukehren, bleibt auch wohl, wenn
seine Zeit es ihm einmal verstattet, als Abendgast. Der Lehrer vom
Schloß kommt ebenfalls nicht selten, und hie und da noch dieses und
jenes jüngere Element aus der Umgegend, so daß es oft gar lebendig
in unserem Hause jetzt zugeht, und ich kaum begreife, was die Jugend
an uns findet, daß sie, anstatt den Vergnügungen ihres Alters nach-
zugehen, lustig oder ernsthaft mit einer Pastorenfamilie plaudert oder
diese selbst wie Kinder mit den Kindern im Garten Scherz und Spiele
betreibt. Habe ich jedoch meine besondere Freude daran, da ich stets
dafür gehalten, daß das Haus ein gutes und gottgefälliges sei, in
welchem die Jugend sich fröhlich und glücklich fühlt. Fällt allerdings
hie und da, und leider öfter als ich wünsche, ein ernsthaftes Wort
dazwischen, das ich mit Judica reden muß, bei der immer stärker ein
phantastischer Sinn und ein Hang zum Abenteuerlichen zum Vorschein
kommt, der sich für ein Mädchen ihres Standes, wie überhaupt für
eine heranreifende Jungfrau, nicht ziemt. Jch bereue es gar oft im
Stillen, daß ich sie damals, vor nun schon über fünf Jahren, in die
unglückselige Dorfkomödie mitgenommen, denn es ist mir immer, als
ob durch sie dieses wunderliche Wesen in dem Kinde, wenn nicht ge-
weckt, doch recht eigentlich genährt worden sei. Blättre da in meinem
Tagebuche und sehe, daß ich an dem Sonntage, an welchem Judica
zu uns gekommen, geschrieben, daß man von solch' einer fremden
Kinderseele nie wisse, welchem Keim sie entstamme und welche Frucht
sie zeitigen werde. Daran muß ich oftmals denken, weil es gar zu
ersichtlich ist, daß alle Erziehung gegen die Art, die ursprünglich in
einen Menschen gelegt worden, nur wenig auszurichten im Stande ist.
Judica hält sich übrigens noch immer für unsere Tochter, und ich
habe von Anfang an den Entschluß gefaßt, sie, bis sie erwachsen, bei
diesem Glauben zu belassen.

( Fortsetzung folgt. )



[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] wenn Sie mich rufen wollen“. Es mag wohl sein, daß sie, wie
manche, die in den Schauspielerstand treten, ihren Familiennamen
gern verschweigt, weil sie fürchtet, daß sie demselben Unehre machen
könne. Hätte sie aber wirklich nicht nöthig gehabt, da sie an uns in
Wahrheit wie eine Cölestine, d. h. wie eine Sendbotin des Himmels,
gehandelt hat, und wir ihren Namen und ihr Gedächtniß in Ehren
halten werden bis an's Ende. Jch hoffe indeß, es wird uns noch
einmal im Leben vergönnt sein, sie wiederzusehen, um ihr unsern
Dank kund zu geben, und der Doktor hat mir versprochen, auf seinen
Rundfahrten in der Gegend Erkundigungen einzuziehen, wohin die
Gesellschaft gegangen sein mag.

    Den 4. Juli.

Erhalte eben einen Brief mit dem Poststempel der Hauptstadt,
darin steht nichts, als:

„Bitte, forschen Sie nicht nach mir. Jch bin nicht wieder-
gekommen, da Jhr Pflegekind meiner nicht mehr bedurfte. Wenn
Sie sich darüber gewundert haben sollten, daß eine Fremde sich in
Jhr Haus eingedrängt und die Rechte der Mutter in Anspruch ge-
nommen, so bedenken Sie, daß die Krankheit durch mein Verschul-
den hervorgerufen, daß ich eine Pflicht zu erfüllen hatte und daß
Sie unendlich viel mehr gethan, als Sie aus Menschenliebe ein
fremdes Kind an Tochterstatt in Jhrem Hause und Jhrem Herzen
adoptirt. Man gewinnt aber ein Kind lieb, wenn man Nachts
allein an seinem Bettchen sitzt und auf seinen Athem lauscht; darum,
wenn Sie mich glücklich machen und mir Dank abtragen wollen,
lassen Sie mich von Zeit zu Zeit hören, wie es Judica geht.

    Cölestine.

Der Brief ist so unleserlich und so unorthographisch mit schlechter
Handschrift verfaßt, daß ich gar nicht begreife, wie die Fremde, die
so gut und klangreich sprach und von der Bühne eine so mächtige
Wirkung inmitten ihrer verkommenen Umgebung ausübte, mit der
Feder nur so gar erbärmlich umzugehen vermag. Jch freue mich
indessen, ihr unsere Dankbarkeit doch in Etwas, wenn auch auf diese
seltsame Art, beweisen zu können, und will es mir zur Regel machen,
ihr unter der angegebenen fremden Adresse ab und zu eine freundliche
Erinnerung von uns zukommen zu lassen. Werde jetzt doch versuchen,
ob ich mich ihr nicht mit einer kleinen Geldunterstützung zu bestimm-
ten Terminen hülfreich erzeigen kann, und morgen die erste Sendung
in Judica's Namen in die Residenz abgehen lassen.

    Den 1. Januar 1845.

Die Jahre rollen ab, eh' man es denkt, und der Zeitpunkt, von
dem man gemeint, er liege noch in unberechenbarer Ferne vor uns,
ist plötzlich da und blickt Einem unvorbereitet in's Gesicht. Jch fühle,
daß es mit Hans' Unterricht so nicht mehr fortgehen kann, daß eine
gewisse Methode darin mangelt, welche den festen Grund für den
späteren eigenen Aufbau des gewählten Lebensberufes legen muß.
Meine Sophie und ich sind lange zu Rathe gegangen, wie wir das
Ding angreifen sollten; endlich haben wir uns, freilich nicht mit ganz
leichtem Herzen, entschlossen, in Gottes Namen mit dem Einfachsten
und Nächstliegenden einen Versuch zu machen, und ich bin auf's
Schloß gewandert und habe mit dem Baron Hochseß darüber konfe-
rirt, ob Hans nicht für ein von mir zu entrichtendes Extrahonorar
an den Lektionen seines Stiefsohnes theilnehmen könne. Hab' ich
mich aber doch schier erschreckt bei dem Anblick des Barons, den ich
wohl seit fast zwei Jahren nicht gesehen und der nun plötzlich wie
um eben so viel Jahrzehnte gealtert, mit trüben Augen und beinahe
ergrautem Haar vor mir stand. Er deutete auf seine Kehle und
sprach heiser und unartikulirt, war jedoch gleich zuvorkommend bereit,
auf mein Ansinnen einzugehen, und drückte den Wunsch aus, daß ich
doch meine bisherige Zurückhaltung aufgeben und ihn öfter aufsuchen
möge. Das versprach ich ihm, und somit wird Hans mit dem Som-
mer seinen neuen Unterricht beginnen. Jch werde meine Zeit dafür
desto mehr Judica zuwenden können, der eine ernsthaftere Jnanspruch-
nahme ebenfalls im höchsten Grade noth thut. Sie wird neun Jahre
alt und macht sich in ihrer Freiheit an allerhand Dinge, die weder
für ihr Alter noch ihre ganze Zukunft geeignet sind. Neulich betraf
ich sie auf dem Trockenboden, daß sie sich heimlich einen Band meiner
Shakespeare=Uebersetzung vom Büchergestell geholt und sich droben eine
Ecke mit ein paar alten Teppichen und Decken ausstaffirt hatte, in
der sie saß und mit glühendem Gesicht aus dem Buche laut dekla-
mirte. Das sind Kindereien, die ich ihr, wenn ich sie noch einmal
dabei antreffe, mit Strenge verbieten werde. Weiß der Himmel, wie
das Mädchen darauf geräth, und alle Spiele und Erholungen, an
denen doch Kinder in dem Alter sonst ihre Freude zu haben pflegen,
darüber verabsäumt. Sie ist in dem letzten Jahr stark gewachsen,
und zum Kummer meiner Sophie bei Weitem nicht so schön und
lieblich mehr, wie sie als kleines Kind war. Jch denke indeß, wenn
nur ein braves und tüchtiges Mädchen aus ihr wird, so ist's besser,
[Spaltenumbruch] daß sie die Schönheit entbehrt, als wenn es umgekehrt wäre. Und
dafür bin ich allein verantwortlich und werde ich, sollt' es nicht anders
gehen, mit Härte sogar zu sorgen wissen.

    Den 1. Januar 1846.

Es ist mit Hans' Unterricht besser gegangen, als ich anfänglich
zu hoffen wagte. Der jetzige Lehrer auf dem Schloß ist ein fein-
gebildeter und verständiger Mann, und sucht den Altersunterschied
zwischen seinen beiden Zöglingen möglichst zu berücksichtigen; er sagte mir
indeß vor einigen Wochen, daß Hans in den meisten Dingen fast eben
so weit sei, als sein vier Jahre älterer Gefährte. Auch war er sonst
mit meinem guten Jungen sehr zufrieden, da derselbe allzeit freundlich
und bescheiden sei, sich dabei aber, was ihm besonders gefalle, von
dem jungen Baron durchaus nichts bieten lasse, so daß dieser, der sich
sonst gegen alle Knaben seines Alters, wie sogar gegen Erwachsene,
oft übermüthig und hochfahrend betrage, vor Hans einen gewissen
Respekt besitze und ihm nicht leicht zu nahe trete. Sieht Hans mit
seinen breiten Schultern und kräftigen Gliedern aber auch fast eben
so alt, als der hagere und schmächtige Albert aus, der von seiner
Mutter verhätschelt und ängstlich vor jedem Luftzug behütet wird,
während Hans sich im Sommer und Winter in gleichem Anzuge
herumtummelt und in seinem Leben bis jetzt weder Husten noch
Schnupfen gekannt hat.

Von Cölestine erhalte ich auf die kleinen Geldunterstützungen, die
ich fortsetze, immer eine prompte Antwort. Meine Frau glaubte im
Anfang, sie werde zu stolz sein, sie anzunehmen; allein sie dankt jedes-
mal in der Kürze auf's Herzlichste und zeichnet einen Kuß für Judica
daneben. Kann doch eine Schauspielerin eine gar treue Seele sein.

    Den 1. Januar 1848.

Zwei stille Jahre zwischen der letzten Zeile und dieser. Es ist
zweimal Sommer und zweimal Winter gewesen, und unser Kopfmaß
am Thürpfosten weist nach, daß Hans um drei Zoll, Judica fast um
einen Kopf größer geworden. Jch hoffe, daß sie innerlich auch so ge-
wachsen sind; wenn man Jemanden täglich um sich hat, springen
weder körperliche noch geistige Veränderungen sehr in die Augen.
Hans trägt seine alte Kinderidee jetzt ernsthaft im Kopf herum und
ist entschlossen, Arzt zu werden. Er hat Recht, es ist der beste Beruf,
den heutzutage ein tüchtiger Mensch wählen kann, d. h. wenn es ihm
Ernst um die Wissenschaft ist und er einen andern edlern Zweck
vor Augen hegt, als seinen Kranken gedankenlos Recepte zu verschrei-
ben und die Sporteln dafür mit dem Apotheker zu theilen. Es mag
wohl sein, daß der Doktor Fabri aus der Stadt dabei auf Hans
Einfluß gehabt, da er in letzter Zeit öfter bei uns vorgesprochen und
sich freundlich und angelegentlich mit ihm über die Wahl seines Stu-
diums unterhalten. Der Doktor kommt jetzt nämlich regelmäßig zwei-
mal in der Woche auf's Schloß, weil der Baron entschieden kränkelt
und sich schon seit geraumer Zeit gar nicht mehr zu erholen vermag.
Da scheint der noch junge, äußerst gebildete und liebenswürdige Mann
gern auf ein Stündchen bei uns einzukehren, bleibt auch wohl, wenn
seine Zeit es ihm einmal verstattet, als Abendgast. Der Lehrer vom
Schloß kommt ebenfalls nicht selten, und hie und da noch dieses und
jenes jüngere Element aus der Umgegend, so daß es oft gar lebendig
in unserem Hause jetzt zugeht, und ich kaum begreife, was die Jugend
an uns findet, daß sie, anstatt den Vergnügungen ihres Alters nach-
zugehen, lustig oder ernsthaft mit einer Pastorenfamilie plaudert oder
diese selbst wie Kinder mit den Kindern im Garten Scherz und Spiele
betreibt. Habe ich jedoch meine besondere Freude daran, da ich stets
dafür gehalten, daß das Haus ein gutes und gottgefälliges sei, in
welchem die Jugend sich fröhlich und glücklich fühlt. Fällt allerdings
hie und da, und leider öfter als ich wünsche, ein ernsthaftes Wort
dazwischen, das ich mit Judica reden muß, bei der immer stärker ein
phantastischer Sinn und ein Hang zum Abenteuerlichen zum Vorschein
kommt, der sich für ein Mädchen ihres Standes, wie überhaupt für
eine heranreifende Jungfrau, nicht ziemt. Jch bereue es gar oft im
Stillen, daß ich sie damals, vor nun schon über fünf Jahren, in die
unglückselige Dorfkomödie mitgenommen, denn es ist mir immer, als
ob durch sie dieses wunderliche Wesen in dem Kinde, wenn nicht ge-
weckt, doch recht eigentlich genährt worden sei. Blättre da in meinem
Tagebuche und sehe, daß ich an dem Sonntage, an welchem Judica
zu uns gekommen, geschrieben, daß man von solch' einer fremden
Kinderseele nie wisse, welchem Keim sie entstamme und welche Frucht
sie zeitigen werde. Daran muß ich oftmals denken, weil es gar zu
ersichtlich ist, daß alle Erziehung gegen die Art, die ursprünglich in
einen Menschen gelegt worden, nur wenig auszurichten im Stande ist.
Judica hält sich übrigens noch immer für unsere Tochter, und ich
habe von Anfang an den Entschluß gefaßt, sie, bis sie erwachsen, bei
diesem Glauben zu belassen.

( Fortsetzung folgt. )



[Ende Spaltensatz]
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[347/0003] 347 wenn Sie mich rufen wollen“. Es mag wohl sein, daß sie, wie manche, die in den Schauspielerstand treten, ihren Familiennamen gern verschweigt, weil sie fürchtet, daß sie demselben Unehre machen könne. Hätte sie aber wirklich nicht nöthig gehabt, da sie an uns in Wahrheit wie eine Cölestine, d. h. wie eine Sendbotin des Himmels, gehandelt hat, und wir ihren Namen und ihr Gedächtniß in Ehren halten werden bis an's Ende. Jch hoffe indeß, es wird uns noch einmal im Leben vergönnt sein, sie wiederzusehen, um ihr unsern Dank kund zu geben, und der Doktor hat mir versprochen, auf seinen Rundfahrten in der Gegend Erkundigungen einzuziehen, wohin die Gesellschaft gegangen sein mag. Den 4. Juli. Erhalte eben einen Brief mit dem Poststempel der Hauptstadt, darin steht nichts, als: „Bitte, forschen Sie nicht nach mir. Jch bin nicht wieder- gekommen, da Jhr Pflegekind meiner nicht mehr bedurfte. Wenn Sie sich darüber gewundert haben sollten, daß eine Fremde sich in Jhr Haus eingedrängt und die Rechte der Mutter in Anspruch ge- nommen, so bedenken Sie, daß die Krankheit durch mein Verschul- den hervorgerufen, daß ich eine Pflicht zu erfüllen hatte und daß Sie unendlich viel mehr gethan, als Sie aus Menschenliebe ein fremdes Kind an Tochterstatt in Jhrem Hause und Jhrem Herzen adoptirt. Man gewinnt aber ein Kind lieb, wenn man Nachts allein an seinem Bettchen sitzt und auf seinen Athem lauscht; darum, wenn Sie mich glücklich machen und mir Dank abtragen wollen, lassen Sie mich von Zeit zu Zeit hören, wie es Judica geht. Cölestine. “ Der Brief ist so unleserlich und so unorthographisch mit schlechter Handschrift verfaßt, daß ich gar nicht begreife, wie die Fremde, die so gut und klangreich sprach und von der Bühne eine so mächtige Wirkung inmitten ihrer verkommenen Umgebung ausübte, mit der Feder nur so gar erbärmlich umzugehen vermag. Jch freue mich indessen, ihr unsere Dankbarkeit doch in Etwas, wenn auch auf diese seltsame Art, beweisen zu können, und will es mir zur Regel machen, ihr unter der angegebenen fremden Adresse ab und zu eine freundliche Erinnerung von uns zukommen zu lassen. Werde jetzt doch versuchen, ob ich mich ihr nicht mit einer kleinen Geldunterstützung zu bestimm- ten Terminen hülfreich erzeigen kann, und morgen die erste Sendung in Judica's Namen in die Residenz abgehen lassen. Den 1. Januar 1845. Die Jahre rollen ab, eh' man es denkt, und der Zeitpunkt, von dem man gemeint, er liege noch in unberechenbarer Ferne vor uns, ist plötzlich da und blickt Einem unvorbereitet in's Gesicht. Jch fühle, daß es mit Hans' Unterricht so nicht mehr fortgehen kann, daß eine gewisse Methode darin mangelt, welche den festen Grund für den späteren eigenen Aufbau des gewählten Lebensberufes legen muß. Meine Sophie und ich sind lange zu Rathe gegangen, wie wir das Ding angreifen sollten; endlich haben wir uns, freilich nicht mit ganz leichtem Herzen, entschlossen, in Gottes Namen mit dem Einfachsten und Nächstliegenden einen Versuch zu machen, und ich bin auf's Schloß gewandert und habe mit dem Baron Hochseß darüber konfe- rirt, ob Hans nicht für ein von mir zu entrichtendes Extrahonorar an den Lektionen seines Stiefsohnes theilnehmen könne. Hab' ich mich aber doch schier erschreckt bei dem Anblick des Barons, den ich wohl seit fast zwei Jahren nicht gesehen und der nun plötzlich wie um eben so viel Jahrzehnte gealtert, mit trüben Augen und beinahe ergrautem Haar vor mir stand. Er deutete auf seine Kehle und sprach heiser und unartikulirt, war jedoch gleich zuvorkommend bereit, auf mein Ansinnen einzugehen, und drückte den Wunsch aus, daß ich doch meine bisherige Zurückhaltung aufgeben und ihn öfter aufsuchen möge. Das versprach ich ihm, und somit wird Hans mit dem Som- mer seinen neuen Unterricht beginnen. Jch werde meine Zeit dafür desto mehr Judica zuwenden können, der eine ernsthaftere Jnanspruch- nahme ebenfalls im höchsten Grade noth thut. Sie wird neun Jahre alt und macht sich in ihrer Freiheit an allerhand Dinge, die weder für ihr Alter noch ihre ganze Zukunft geeignet sind. Neulich betraf ich sie auf dem Trockenboden, daß sie sich heimlich einen Band meiner Shakespeare=Uebersetzung vom Büchergestell geholt und sich droben eine Ecke mit ein paar alten Teppichen und Decken ausstaffirt hatte, in der sie saß und mit glühendem Gesicht aus dem Buche laut dekla- mirte. Das sind Kindereien, die ich ihr, wenn ich sie noch einmal dabei antreffe, mit Strenge verbieten werde. Weiß der Himmel, wie das Mädchen darauf geräth, und alle Spiele und Erholungen, an denen doch Kinder in dem Alter sonst ihre Freude zu haben pflegen, darüber verabsäumt. Sie ist in dem letzten Jahr stark gewachsen, und zum Kummer meiner Sophie bei Weitem nicht so schön und lieblich mehr, wie sie als kleines Kind war. Jch denke indeß, wenn nur ein braves und tüchtiges Mädchen aus ihr wird, so ist's besser, daß sie die Schönheit entbehrt, als wenn es umgekehrt wäre. Und dafür bin ich allein verantwortlich und werde ich, sollt' es nicht anders gehen, mit Härte sogar zu sorgen wissen. Den 1. Januar 1846. Es ist mit Hans' Unterricht besser gegangen, als ich anfänglich zu hoffen wagte. Der jetzige Lehrer auf dem Schloß ist ein fein- gebildeter und verständiger Mann, und sucht den Altersunterschied zwischen seinen beiden Zöglingen möglichst zu berücksichtigen; er sagte mir indeß vor einigen Wochen, daß Hans in den meisten Dingen fast eben so weit sei, als sein vier Jahre älterer Gefährte. Auch war er sonst mit meinem guten Jungen sehr zufrieden, da derselbe allzeit freundlich und bescheiden sei, sich dabei aber, was ihm besonders gefalle, von dem jungen Baron durchaus nichts bieten lasse, so daß dieser, der sich sonst gegen alle Knaben seines Alters, wie sogar gegen Erwachsene, oft übermüthig und hochfahrend betrage, vor Hans einen gewissen Respekt besitze und ihm nicht leicht zu nahe trete. Sieht Hans mit seinen breiten Schultern und kräftigen Gliedern aber auch fast eben so alt, als der hagere und schmächtige Albert aus, der von seiner Mutter verhätschelt und ängstlich vor jedem Luftzug behütet wird, während Hans sich im Sommer und Winter in gleichem Anzuge herumtummelt und in seinem Leben bis jetzt weder Husten noch Schnupfen gekannt hat. Von Cölestine erhalte ich auf die kleinen Geldunterstützungen, die ich fortsetze, immer eine prompte Antwort. Meine Frau glaubte im Anfang, sie werde zu stolz sein, sie anzunehmen; allein sie dankt jedes- mal in der Kürze auf's Herzlichste und zeichnet einen Kuß für Judica daneben. Kann doch eine Schauspielerin eine gar treue Seele sein. Den 1. Januar 1848. Zwei stille Jahre zwischen der letzten Zeile und dieser. Es ist zweimal Sommer und zweimal Winter gewesen, und unser Kopfmaß am Thürpfosten weist nach, daß Hans um drei Zoll, Judica fast um einen Kopf größer geworden. Jch hoffe, daß sie innerlich auch so ge- wachsen sind; wenn man Jemanden täglich um sich hat, springen weder körperliche noch geistige Veränderungen sehr in die Augen. Hans trägt seine alte Kinderidee jetzt ernsthaft im Kopf herum und ist entschlossen, Arzt zu werden. Er hat Recht, es ist der beste Beruf, den heutzutage ein tüchtiger Mensch wählen kann, d. h. wenn es ihm Ernst um die Wissenschaft ist und er einen andern edlern Zweck vor Augen hegt, als seinen Kranken gedankenlos Recepte zu verschrei- ben und die Sporteln dafür mit dem Apotheker zu theilen. Es mag wohl sein, daß der Doktor Fabri aus der Stadt dabei auf Hans Einfluß gehabt, da er in letzter Zeit öfter bei uns vorgesprochen und sich freundlich und angelegentlich mit ihm über die Wahl seines Stu- diums unterhalten. Der Doktor kommt jetzt nämlich regelmäßig zwei- mal in der Woche auf's Schloß, weil der Baron entschieden kränkelt und sich schon seit geraumer Zeit gar nicht mehr zu erholen vermag. Da scheint der noch junge, äußerst gebildete und liebenswürdige Mann gern auf ein Stündchen bei uns einzukehren, bleibt auch wohl, wenn seine Zeit es ihm einmal verstattet, als Abendgast. Der Lehrer vom Schloß kommt ebenfalls nicht selten, und hie und da noch dieses und jenes jüngere Element aus der Umgegend, so daß es oft gar lebendig in unserem Hause jetzt zugeht, und ich kaum begreife, was die Jugend an uns findet, daß sie, anstatt den Vergnügungen ihres Alters nach- zugehen, lustig oder ernsthaft mit einer Pastorenfamilie plaudert oder diese selbst wie Kinder mit den Kindern im Garten Scherz und Spiele betreibt. Habe ich jedoch meine besondere Freude daran, da ich stets dafür gehalten, daß das Haus ein gutes und gottgefälliges sei, in welchem die Jugend sich fröhlich und glücklich fühlt. Fällt allerdings hie und da, und leider öfter als ich wünsche, ein ernsthaftes Wort dazwischen, das ich mit Judica reden muß, bei der immer stärker ein phantastischer Sinn und ein Hang zum Abenteuerlichen zum Vorschein kommt, der sich für ein Mädchen ihres Standes, wie überhaupt für eine heranreifende Jungfrau, nicht ziemt. Jch bereue es gar oft im Stillen, daß ich sie damals, vor nun schon über fünf Jahren, in die unglückselige Dorfkomödie mitgenommen, denn es ist mir immer, als ob durch sie dieses wunderliche Wesen in dem Kinde, wenn nicht ge- weckt, doch recht eigentlich genährt worden sei. Blättre da in meinem Tagebuche und sehe, daß ich an dem Sonntage, an welchem Judica zu uns gekommen, geschrieben, daß man von solch' einer fremden Kinderseele nie wisse, welchem Keim sie entstamme und welche Frucht sie zeitigen werde. Daran muß ich oftmals denken, weil es gar zu ersichtlich ist, daß alle Erziehung gegen die Art, die ursprünglich in einen Menschen gelegt worden, nur wenig auszurichten im Stande ist. Judica hält sich übrigens noch immer für unsere Tochter, und ich habe von Anfang an den Entschluß gefaßt, sie, bis sie erwachsen, bei diesem Glauben zu belassen. ( Fortsetzung folgt. )

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 44. Berlin, 1. November 1868, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt44_1868/3>, abgerufen am 01.06.2024.