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Sonntags-Blatt. Nr. 44. Berlin, 1. November 1868.

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[Beginn Spaltensatz] ihr kniete, daß alle Zuschauer ob dem schönen und ergreifenden Bilde
laut mit den Händen applaudirten. Hatte indeß einer von den Schau-
spielern, der den Regisseur vertreten mochte, mittlerweile doch den
Mißgriff bemerkt und rief ihr ein paar Worte zu, auf welche sie sich
langsam erhob, wie betäubt um sich blickte und wie mit sonderbar
bitterem Ausdruck über den irrthümlich angebrachten Beifall auf das
andere Kind zuschwankte. Jch bin, da mir erst allmälig Alles klar
zu werden begann, jetzt schnell aufgesprungen und habe selbst die
widerstrebende Judica, die gar nicht ängstlich und verwirrt erschien,
von der Bühne zurückgeholt, da es denn ein seltener Anblick gewesen
sein mag, einen wirklichen Dorfpastoren im schwarzen Rock hinter den
flackernden Oellampen des Souffleurkastens zu gewahren. Der Schreck
ist uns jedoch so in die Glieder gefahren, daß wir, ohne das Ende
des Stückes abzuwarten, sogleich nach Hause gegangen sind, wo
Judica, die ich zuletzt auf den Arm nehmen mußte, sehr müde, mit
hochglühendem Gesicht angekommen, über Kopfschmerz klagte und die
ganze Nacht im Fieber und laut vor sich hin redend gelegen hat. Es
ist in solchen Lagen eine schwere Sorge, daß der nächste Arzt über
drei Stunden von uns entfernt ist, zumal wenn man sich den Vor-
wurf machen muß, unvernünftig gehandelt und den Bitten eines Kindes
nachgegeben zu haben, wo man dieselben energisch hätte abschlagen
sollen. Man soll immer so lange wie möglich alles Derartige von
einer jungen Phantasie fern halten, da man nie wissen kann, welchen
Eindruck und welche Folgen es für ein von Natur schon so leicht
erregbares Gemüth, wie Judica's vorzüglich, nach sich zu ziehen ver-
mag. Jedes gute Schauspiel soll eine Lehre in sich bergen; an diese
hat der Autor allerdings schwerlich gedacht, ich will sie aber darum
nicht weniger treu für die Zukunft beherzigen.

Wie ich aus der Frühpredigt zurückgekommen, fand ich die Schau-
spielerin vom gestrigen Abend in unserem Hause, die gekommen, um
sich nach dem Befinden Judica's zu erkundigen, und sehr um Ent-
schuldigung bat, daß sie in ihrer Verblendung ja eigentlich selbst der
Anlaß zu der Bestürzung und dem daraus entsprungenen Unwohlsein
des Kindes gewesen. Sah man da im Tageslicht und durch die
Sprache des gewöhnlichen Lebens noch mehr, als auf der Bühne, daß
ein gutes und feines Herz hinter der ärmlichen Kleidung, welche sie
heut trug, verborgen sitzt, und verstattete ich ihr deshalb auch gern,
in das Schlafzimmer, wo Judica's Bett stand, zu gehen und selbst
nach ihr zu sehen. Das Kind war viel stiller geworden, als in der
Nacht, was ich für ein gutes Zeichen hielt; allein die Fremde betrach-
tete es lang und aufmerksam, mit verhaltenem Athem, fühlte seine
Stirn und Lippen und fragte hastig, ob kein Arzt im Dorfe sei. Da
ich ihr indeß erwiderte, daß der nächste drei Stunden entfernt wohne
und daß ich Judica's Zustand nicht derartig halte, um so weit nach
ihm zu schicken, schüttelte sie mit einem Seufzer den Kopf und fragte,
ob ich erlaube, daß sie am Abend noch einmal wiederkomme und
einen Heiltrank mitbringe, von dem sie wisse, daß er sich in vielen
ähnlichen Fällen vortrefflich bewährt. Als ein abgesagter Feind von
aller Quacksalberei und allen Weibermittelchen, bejahte ich das Letztere
nicht grade, stellte es ihr aber gern frei, wieder nach dem Kinde, an
dessen Erkrankung sie übrigens nicht die mindeste Schuld trage, zu
sehen; sie ging dankend fort, ist indeß bis jetzt, wo die Sonne
grad' am Horizont steht, nicht zurückgekehrt, so daß sie doch wohl die
Ungläubigkeit, welche mein Gesicht in Bezug auf ihren Heiltrank
durchblicken ließ, übel genommen und nicht wiederkommt.

    Den 26. Juni.

Wir haben bange Tage und Nächte Judica's wegen gehabt.
Sie begann mit dem Einbruch der Sonntagsnacht wieder zu fiebern,
so daß wir an ihrem Bett wachten. Da ward noch um Mitternacht
an unsere Hausthür geklopft, und die Fremde kam, aufgeregt und
erhitzt, mit ihrer Medizin. Sie sagte, sie habe spielen müssen und
nicht eher kommen können, und ihre Hand zitterte heftig, als sie
sorgsam ein halbes Dutzend brauner Tropfen aus einem Fläschchen
in einen Theelöffel abzählte und sie dem Kinde reichte, das dieselben
mit den vertrockneten Lippen mechanisch hastig einschlürfte. Jch
wollte es anfänglich nicht zugeben, allein die Schauspielerin bat mich
so flehentlich und betheuerte mit einer gewissen überwältigenden Feier-
lichkeit, die Medizin werde der Kranken wohlthun, daß ich in meiner
eigenen Rathlosigkeit endlich die Einwilligung ertheilte. Sie zeigte
sich überhaupt ungleich erfahrener, als meine Frau und ich, die wir
uns Beide noch nie in solcher Lage befunden, so daß wir uns bald
ganz von ihr lenken und schließlich gar zu Bett schicken ließen, da sie
behauptete, daß wir der Ruhe bedürften und sie bei der Kleinen wachen
wolle. Der Kopf wird Einem zuletzt ganz wirr bei derartigen Din-
gen, daß man froh ist, wenn nur Jemand mit Entschiedenheit ein-
greift und sich willig leiten läßt. So legten wir uns im Neben-
zimmer angekleidet auf's Bett, und die seltsame Wärterin blieb an der
[Spaltenumbruch] Wiege sitzen und sang unermüdlich mit leiser, trauriger Stimme das
kranke Kind und uns selbst in Schlaf.

Am andern Morgen schienen die Tropfen wirklich auf einige
Besserung hingewirkt zu haben, und sie ging mit der Bemerkung, daß
sie beschäftigt sei, fort. Allein als ob sie eine Pflicht zu erfüllen
habe, kam sie am späten Nachmittag, wiederum ihrem Aussehen nach
sehr erschöpft, zurück und brachte ein anderes Fläschchen, aus dem sie
dem Kinde einflößte. Die Dauer des Unwohlseins beunruhigte mich
jetzt doch allmälig dergestalt, daß ich meine Absicht, noch am Abend
zum Arzt zu schicken, kundthat; aber die Fremde versicherte mir so
bestimmt, es sei keine Gefahr vorhanden, wenn wir ihr nur Folge
leisteten, und bat, ich möge Judica ihr nur ganz überlassen, daß ich
Alles that, was sie begehrte. Sie wachte die Nacht hindurch an dem
Bett des Kindes, wie in der vorigen, und verschwand den Tag über,
wie am Morgen zuvor, um getreulich mit der sinkenden Sonne
wiederzukehren.

So ist es drei Tage, bis gestern Abend, gegangen, an dem die
Fremde nicht mehr gekommen. Judica ist, Dank ihrer Sorgfalt,
heut schon wieder völlig munter gewesen, und hat mit ihren Puppen
Komödie gespielt, wobei sie zu unserm Erstaunen die Reden, die sie
vor ihrer Krankheit auf dem Dorftheater vernommen, zum Theil
Wort für Wort wiederholte. Jhr Gedächtniß für solche Dinge ist
erstaunlich; fast mehr indeß habe ich mich noch über Hans gewundert,
dessen Kindergesicht während des ganzen Verlaufs immer wie in
ängstliches Nachsinnen vertieft war. Jch traf ihn eines Vormittags
in meiner Bibliothek, wo er ein altes medizinisches Werk ausfindig
gemacht, über das er ernsthaft herabgebückt saß und auf meine Frage,
was er treibe, mit Thränen in den Augen antwortete, er wolle Arzt
werden, um seinem Schwesterchen später und immer, wenn es krank
sei, helfen zu können. Nun ist er der fröhlichste im ganzen Hause,
und fast gegen seine Natur ausgelassen, da Judica ihn wieder
anlächelt.

Meine Frau und ich aber befinden uns in nicht geringer Ver-
legenheit, auf welche Weise wir der Wildfremden, die für unser Kind
eine so große Aufopferung bewiesen, unsern Dank ausdrücken sollen,
da es mir gleich sehr widerstrebt, ihr irgend welchen Lohn dafür an-
zubieten, als sie in ihrer jedenfalls beschränkten Lage und, zumal da
sie Judica's wegen ersichtlich an mehreren Abenden ihren Beruf
versäumt hat, mit einem bloßen herzlichen "Vergelt's Gott!" weiter-
ziehen zu lassen.

    Den 27. Juni.

Es kommen doch merkwürdige, unbegreifliche Dinge im stillsten
Leben vor. Die Schauspielergesellschaft und Judica's Wohlthäterin
sind seit gestern plötzlich und ohne sich einmal bei uns blicken zu lassen,
aus dem Dorf verschwunden. Der Befehl ist unerwartet vom Schloß
gekommen, wie einige sagen, weil die Frau Baronin geäußert, sie be-
fürchte, die Moral ihres Söhnleins könne durch den Aufenthalt der
Theaterheldinnen im Dorf leiden. Es muß nicht gar viel daran zu
verderben sein, wenn man Anlaß zu haben glaubt, über einen kaum
zwölfjährigen Buben derlei Bedenken zu hegen. Andere behaupten
freilich, es habe sich am letzten Spielabende, wo die Herrschaft selbst
das Theater besucht, etwas ereignet, das mir aber doch fast gar zu
unglaublich klingt, da die Frau Baronin beim Fortgehen einer von
den Schauspielerinnen vor der Thür, wie erzählt wird, aus Eifersucht
in's Gesicht gespieen, und der Kammerdiener, der sie begleitet, ihr
Schimpfnamen zugeworfen haben soll, daß sie laut schluchzend in die
Finsterniß hinausgelaufen sei. Wie dem sein mag, die Gesellschaft
ist am Morgen darauf in aller Frühe fortgezogen und Niemand weiß,
wo sie geblieben.

Jst's mir doch bestimmt gewesen, heut Dinge zu vernehmen, die
mich noch sonderbarer berührt haben. Da ich um Mittag zufällig
den Wagen unseres Arztes aus dem Städtchen durch's Dorf fahren
sah, rief ich ihn an und bat ihn, einen Augenblick bei uns abzusteigen.
Jch erzählte ihm da von Judica's Krankheit und wußte nicht, weshalb
er ein immer verwunderteres Gesicht dazu machte, bis er endlich fragte,
ob ich denn nichts davon erfahren, daß er es sei, der die Kleine aus
der Ferne behandelt habe. Kam da allerdings die Reihe des Ver-
wunderns an mich, wie er mittheilte, daß jeden Tag eine angestrengt
aussehende Frau oder Mädchen bei ihm in der Stadt gewesen und
ihm den Zustand ihres kranken Kindes ganz deutlich und bis in die
kleinsten Details geschildert habe, daß er vollkommen im Stande ge-
wesen, daraufhin die Behandlung anzuordnen und Medizin zu ver-
schreiben, weil er, grade außerordentlich in Anspruch genommen, doch
bei der Entfernung, die sie auf fünf Stunden angegeben, persönlich
nicht hätte kommen können. Jst ein weiblich Herz doch eine wunder-
same, unenträthselbare Schöpfung, und wußte weder der Doktor, dem
ich nun Alles vom Beginn berichtete, noch ich, was wir dazu sagen
sollten. Nicht einmal den Namen der Fremden haben wir erfah-
ren, denn als ich sie eines Abends darum befragte, zögerte sie sichtlich
mit der Antwort und sagte endlich: "Heißen Sie mich Cölestine,
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] ihr kniete, daß alle Zuschauer ob dem schönen und ergreifenden Bilde
laut mit den Händen applaudirten. Hatte indeß einer von den Schau-
spielern, der den Regisseur vertreten mochte, mittlerweile doch den
Mißgriff bemerkt und rief ihr ein paar Worte zu, auf welche sie sich
langsam erhob, wie betäubt um sich blickte und wie mit sonderbar
bitterem Ausdruck über den irrthümlich angebrachten Beifall auf das
andere Kind zuschwankte. Jch bin, da mir erst allmälig Alles klar
zu werden begann, jetzt schnell aufgesprungen und habe selbst die
widerstrebende Judica, die gar nicht ängstlich und verwirrt erschien,
von der Bühne zurückgeholt, da es denn ein seltener Anblick gewesen
sein mag, einen wirklichen Dorfpastoren im schwarzen Rock hinter den
flackernden Oellampen des Souffleurkastens zu gewahren. Der Schreck
ist uns jedoch so in die Glieder gefahren, daß wir, ohne das Ende
des Stückes abzuwarten, sogleich nach Hause gegangen sind, wo
Judica, die ich zuletzt auf den Arm nehmen mußte, sehr müde, mit
hochglühendem Gesicht angekommen, über Kopfschmerz klagte und die
ganze Nacht im Fieber und laut vor sich hin redend gelegen hat. Es
ist in solchen Lagen eine schwere Sorge, daß der nächste Arzt über
drei Stunden von uns entfernt ist, zumal wenn man sich den Vor-
wurf machen muß, unvernünftig gehandelt und den Bitten eines Kindes
nachgegeben zu haben, wo man dieselben energisch hätte abschlagen
sollen. Man soll immer so lange wie möglich alles Derartige von
einer jungen Phantasie fern halten, da man nie wissen kann, welchen
Eindruck und welche Folgen es für ein von Natur schon so leicht
erregbares Gemüth, wie Judica's vorzüglich, nach sich zu ziehen ver-
mag. Jedes gute Schauspiel soll eine Lehre in sich bergen; an diese
hat der Autor allerdings schwerlich gedacht, ich will sie aber darum
nicht weniger treu für die Zukunft beherzigen.

Wie ich aus der Frühpredigt zurückgekommen, fand ich die Schau-
spielerin vom gestrigen Abend in unserem Hause, die gekommen, um
sich nach dem Befinden Judica's zu erkundigen, und sehr um Ent-
schuldigung bat, daß sie in ihrer Verblendung ja eigentlich selbst der
Anlaß zu der Bestürzung und dem daraus entsprungenen Unwohlsein
des Kindes gewesen. Sah man da im Tageslicht und durch die
Sprache des gewöhnlichen Lebens noch mehr, als auf der Bühne, daß
ein gutes und feines Herz hinter der ärmlichen Kleidung, welche sie
heut trug, verborgen sitzt, und verstattete ich ihr deshalb auch gern,
in das Schlafzimmer, wo Judica's Bett stand, zu gehen und selbst
nach ihr zu sehen. Das Kind war viel stiller geworden, als in der
Nacht, was ich für ein gutes Zeichen hielt; allein die Fremde betrach-
tete es lang und aufmerksam, mit verhaltenem Athem, fühlte seine
Stirn und Lippen und fragte hastig, ob kein Arzt im Dorfe sei. Da
ich ihr indeß erwiderte, daß der nächste drei Stunden entfernt wohne
und daß ich Judica's Zustand nicht derartig halte, um so weit nach
ihm zu schicken, schüttelte sie mit einem Seufzer den Kopf und fragte,
ob ich erlaube, daß sie am Abend noch einmal wiederkomme und
einen Heiltrank mitbringe, von dem sie wisse, daß er sich in vielen
ähnlichen Fällen vortrefflich bewährt. Als ein abgesagter Feind von
aller Quacksalberei und allen Weibermittelchen, bejahte ich das Letztere
nicht grade, stellte es ihr aber gern frei, wieder nach dem Kinde, an
dessen Erkrankung sie übrigens nicht die mindeste Schuld trage, zu
sehen; sie ging dankend fort, ist indeß bis jetzt, wo die Sonne
grad' am Horizont steht, nicht zurückgekehrt, so daß sie doch wohl die
Ungläubigkeit, welche mein Gesicht in Bezug auf ihren Heiltrank
durchblicken ließ, übel genommen und nicht wiederkommt.

    Den 26. Juni.

Wir haben bange Tage und Nächte Judica's wegen gehabt.
Sie begann mit dem Einbruch der Sonntagsnacht wieder zu fiebern,
so daß wir an ihrem Bett wachten. Da ward noch um Mitternacht
an unsere Hausthür geklopft, und die Fremde kam, aufgeregt und
erhitzt, mit ihrer Medizin. Sie sagte, sie habe spielen müssen und
nicht eher kommen können, und ihre Hand zitterte heftig, als sie
sorgsam ein halbes Dutzend brauner Tropfen aus einem Fläschchen
in einen Theelöffel abzählte und sie dem Kinde reichte, das dieselben
mit den vertrockneten Lippen mechanisch hastig einschlürfte. Jch
wollte es anfänglich nicht zugeben, allein die Schauspielerin bat mich
so flehentlich und betheuerte mit einer gewissen überwältigenden Feier-
lichkeit, die Medizin werde der Kranken wohlthun, daß ich in meiner
eigenen Rathlosigkeit endlich die Einwilligung ertheilte. Sie zeigte
sich überhaupt ungleich erfahrener, als meine Frau und ich, die wir
uns Beide noch nie in solcher Lage befunden, so daß wir uns bald
ganz von ihr lenken und schließlich gar zu Bett schicken ließen, da sie
behauptete, daß wir der Ruhe bedürften und sie bei der Kleinen wachen
wolle. Der Kopf wird Einem zuletzt ganz wirr bei derartigen Din-
gen, daß man froh ist, wenn nur Jemand mit Entschiedenheit ein-
greift und sich willig leiten läßt. So legten wir uns im Neben-
zimmer angekleidet auf's Bett, und die seltsame Wärterin blieb an der
[Spaltenumbruch] Wiege sitzen und sang unermüdlich mit leiser, trauriger Stimme das
kranke Kind und uns selbst in Schlaf.

Am andern Morgen schienen die Tropfen wirklich auf einige
Besserung hingewirkt zu haben, und sie ging mit der Bemerkung, daß
sie beschäftigt sei, fort. Allein als ob sie eine Pflicht zu erfüllen
habe, kam sie am späten Nachmittag, wiederum ihrem Aussehen nach
sehr erschöpft, zurück und brachte ein anderes Fläschchen, aus dem sie
dem Kinde einflößte. Die Dauer des Unwohlseins beunruhigte mich
jetzt doch allmälig dergestalt, daß ich meine Absicht, noch am Abend
zum Arzt zu schicken, kundthat; aber die Fremde versicherte mir so
bestimmt, es sei keine Gefahr vorhanden, wenn wir ihr nur Folge
leisteten, und bat, ich möge Judica ihr nur ganz überlassen, daß ich
Alles that, was sie begehrte. Sie wachte die Nacht hindurch an dem
Bett des Kindes, wie in der vorigen, und verschwand den Tag über,
wie am Morgen zuvor, um getreulich mit der sinkenden Sonne
wiederzukehren.

So ist es drei Tage, bis gestern Abend, gegangen, an dem die
Fremde nicht mehr gekommen. Judica ist, Dank ihrer Sorgfalt,
heut schon wieder völlig munter gewesen, und hat mit ihren Puppen
Komödie gespielt, wobei sie zu unserm Erstaunen die Reden, die sie
vor ihrer Krankheit auf dem Dorftheater vernommen, zum Theil
Wort für Wort wiederholte. Jhr Gedächtniß für solche Dinge ist
erstaunlich; fast mehr indeß habe ich mich noch über Hans gewundert,
dessen Kindergesicht während des ganzen Verlaufs immer wie in
ängstliches Nachsinnen vertieft war. Jch traf ihn eines Vormittags
in meiner Bibliothek, wo er ein altes medizinisches Werk ausfindig
gemacht, über das er ernsthaft herabgebückt saß und auf meine Frage,
was er treibe, mit Thränen in den Augen antwortete, er wolle Arzt
werden, um seinem Schwesterchen später und immer, wenn es krank
sei, helfen zu können. Nun ist er der fröhlichste im ganzen Hause,
und fast gegen seine Natur ausgelassen, da Judica ihn wieder
anlächelt.

Meine Frau und ich aber befinden uns in nicht geringer Ver-
legenheit, auf welche Weise wir der Wildfremden, die für unser Kind
eine so große Aufopferung bewiesen, unsern Dank ausdrücken sollen,
da es mir gleich sehr widerstrebt, ihr irgend welchen Lohn dafür an-
zubieten, als sie in ihrer jedenfalls beschränkten Lage und, zumal da
sie Judica's wegen ersichtlich an mehreren Abenden ihren Beruf
versäumt hat, mit einem bloßen herzlichen „Vergelt's Gott!“ weiter-
ziehen zu lassen.

    Den 27. Juni.

Es kommen doch merkwürdige, unbegreifliche Dinge im stillsten
Leben vor. Die Schauspielergesellschaft und Judica's Wohlthäterin
sind seit gestern plötzlich und ohne sich einmal bei uns blicken zu lassen,
aus dem Dorf verschwunden. Der Befehl ist unerwartet vom Schloß
gekommen, wie einige sagen, weil die Frau Baronin geäußert, sie be-
fürchte, die Moral ihres Söhnleins könne durch den Aufenthalt der
Theaterheldinnen im Dorf leiden. Es muß nicht gar viel daran zu
verderben sein, wenn man Anlaß zu haben glaubt, über einen kaum
zwölfjährigen Buben derlei Bedenken zu hegen. Andere behaupten
freilich, es habe sich am letzten Spielabende, wo die Herrschaft selbst
das Theater besucht, etwas ereignet, das mir aber doch fast gar zu
unglaublich klingt, da die Frau Baronin beim Fortgehen einer von
den Schauspielerinnen vor der Thür, wie erzählt wird, aus Eifersucht
in's Gesicht gespieen, und der Kammerdiener, der sie begleitet, ihr
Schimpfnamen zugeworfen haben soll, daß sie laut schluchzend in die
Finsterniß hinausgelaufen sei. Wie dem sein mag, die Gesellschaft
ist am Morgen darauf in aller Frühe fortgezogen und Niemand weiß,
wo sie geblieben.

Jst's mir doch bestimmt gewesen, heut Dinge zu vernehmen, die
mich noch sonderbarer berührt haben. Da ich um Mittag zufällig
den Wagen unseres Arztes aus dem Städtchen durch's Dorf fahren
sah, rief ich ihn an und bat ihn, einen Augenblick bei uns abzusteigen.
Jch erzählte ihm da von Judica's Krankheit und wußte nicht, weshalb
er ein immer verwunderteres Gesicht dazu machte, bis er endlich fragte,
ob ich denn nichts davon erfahren, daß er es sei, der die Kleine aus
der Ferne behandelt habe. Kam da allerdings die Reihe des Ver-
wunderns an mich, wie er mittheilte, daß jeden Tag eine angestrengt
aussehende Frau oder Mädchen bei ihm in der Stadt gewesen und
ihm den Zustand ihres kranken Kindes ganz deutlich und bis in die
kleinsten Details geschildert habe, daß er vollkommen im Stande ge-
wesen, daraufhin die Behandlung anzuordnen und Medizin zu ver-
schreiben, weil er, grade außerordentlich in Anspruch genommen, doch
bei der Entfernung, die sie auf fünf Stunden angegeben, persönlich
nicht hätte kommen können. Jst ein weiblich Herz doch eine wunder-
same, unenträthselbare Schöpfung, und wußte weder der Doktor, dem
ich nun Alles vom Beginn berichtete, noch ich, was wir dazu sagen
sollten. Nicht einmal den Namen der Fremden haben wir erfah-
ren, denn als ich sie eines Abends darum befragte, zögerte sie sichtlich
mit der Antwort und sagte endlich: „Heißen Sie mich Cölestine,
[Ende Spaltensatz]

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[346/0002] 346 ihr kniete, daß alle Zuschauer ob dem schönen und ergreifenden Bilde laut mit den Händen applaudirten. Hatte indeß einer von den Schau- spielern, der den Regisseur vertreten mochte, mittlerweile doch den Mißgriff bemerkt und rief ihr ein paar Worte zu, auf welche sie sich langsam erhob, wie betäubt um sich blickte und wie mit sonderbar bitterem Ausdruck über den irrthümlich angebrachten Beifall auf das andere Kind zuschwankte. Jch bin, da mir erst allmälig Alles klar zu werden begann, jetzt schnell aufgesprungen und habe selbst die widerstrebende Judica, die gar nicht ängstlich und verwirrt erschien, von der Bühne zurückgeholt, da es denn ein seltener Anblick gewesen sein mag, einen wirklichen Dorfpastoren im schwarzen Rock hinter den flackernden Oellampen des Souffleurkastens zu gewahren. Der Schreck ist uns jedoch so in die Glieder gefahren, daß wir, ohne das Ende des Stückes abzuwarten, sogleich nach Hause gegangen sind, wo Judica, die ich zuletzt auf den Arm nehmen mußte, sehr müde, mit hochglühendem Gesicht angekommen, über Kopfschmerz klagte und die ganze Nacht im Fieber und laut vor sich hin redend gelegen hat. Es ist in solchen Lagen eine schwere Sorge, daß der nächste Arzt über drei Stunden von uns entfernt ist, zumal wenn man sich den Vor- wurf machen muß, unvernünftig gehandelt und den Bitten eines Kindes nachgegeben zu haben, wo man dieselben energisch hätte abschlagen sollen. Man soll immer so lange wie möglich alles Derartige von einer jungen Phantasie fern halten, da man nie wissen kann, welchen Eindruck und welche Folgen es für ein von Natur schon so leicht erregbares Gemüth, wie Judica's vorzüglich, nach sich zu ziehen ver- mag. Jedes gute Schauspiel soll eine Lehre in sich bergen; an diese hat der Autor allerdings schwerlich gedacht, ich will sie aber darum nicht weniger treu für die Zukunft beherzigen. Wie ich aus der Frühpredigt zurückgekommen, fand ich die Schau- spielerin vom gestrigen Abend in unserem Hause, die gekommen, um sich nach dem Befinden Judica's zu erkundigen, und sehr um Ent- schuldigung bat, daß sie in ihrer Verblendung ja eigentlich selbst der Anlaß zu der Bestürzung und dem daraus entsprungenen Unwohlsein des Kindes gewesen. Sah man da im Tageslicht und durch die Sprache des gewöhnlichen Lebens noch mehr, als auf der Bühne, daß ein gutes und feines Herz hinter der ärmlichen Kleidung, welche sie heut trug, verborgen sitzt, und verstattete ich ihr deshalb auch gern, in das Schlafzimmer, wo Judica's Bett stand, zu gehen und selbst nach ihr zu sehen. Das Kind war viel stiller geworden, als in der Nacht, was ich für ein gutes Zeichen hielt; allein die Fremde betrach- tete es lang und aufmerksam, mit verhaltenem Athem, fühlte seine Stirn und Lippen und fragte hastig, ob kein Arzt im Dorfe sei. Da ich ihr indeß erwiderte, daß der nächste drei Stunden entfernt wohne und daß ich Judica's Zustand nicht derartig halte, um so weit nach ihm zu schicken, schüttelte sie mit einem Seufzer den Kopf und fragte, ob ich erlaube, daß sie am Abend noch einmal wiederkomme und einen Heiltrank mitbringe, von dem sie wisse, daß er sich in vielen ähnlichen Fällen vortrefflich bewährt. Als ein abgesagter Feind von aller Quacksalberei und allen Weibermittelchen, bejahte ich das Letztere nicht grade, stellte es ihr aber gern frei, wieder nach dem Kinde, an dessen Erkrankung sie übrigens nicht die mindeste Schuld trage, zu sehen; sie ging dankend fort, ist indeß bis jetzt, wo die Sonne grad' am Horizont steht, nicht zurückgekehrt, so daß sie doch wohl die Ungläubigkeit, welche mein Gesicht in Bezug auf ihren Heiltrank durchblicken ließ, übel genommen und nicht wiederkommt. Den 26. Juni. Wir haben bange Tage und Nächte Judica's wegen gehabt. Sie begann mit dem Einbruch der Sonntagsnacht wieder zu fiebern, so daß wir an ihrem Bett wachten. Da ward noch um Mitternacht an unsere Hausthür geklopft, und die Fremde kam, aufgeregt und erhitzt, mit ihrer Medizin. Sie sagte, sie habe spielen müssen und nicht eher kommen können, und ihre Hand zitterte heftig, als sie sorgsam ein halbes Dutzend brauner Tropfen aus einem Fläschchen in einen Theelöffel abzählte und sie dem Kinde reichte, das dieselben mit den vertrockneten Lippen mechanisch hastig einschlürfte. Jch wollte es anfänglich nicht zugeben, allein die Schauspielerin bat mich so flehentlich und betheuerte mit einer gewissen überwältigenden Feier- lichkeit, die Medizin werde der Kranken wohlthun, daß ich in meiner eigenen Rathlosigkeit endlich die Einwilligung ertheilte. Sie zeigte sich überhaupt ungleich erfahrener, als meine Frau und ich, die wir uns Beide noch nie in solcher Lage befunden, so daß wir uns bald ganz von ihr lenken und schließlich gar zu Bett schicken ließen, da sie behauptete, daß wir der Ruhe bedürften und sie bei der Kleinen wachen wolle. Der Kopf wird Einem zuletzt ganz wirr bei derartigen Din- gen, daß man froh ist, wenn nur Jemand mit Entschiedenheit ein- greift und sich willig leiten läßt. So legten wir uns im Neben- zimmer angekleidet auf's Bett, und die seltsame Wärterin blieb an der Wiege sitzen und sang unermüdlich mit leiser, trauriger Stimme das kranke Kind und uns selbst in Schlaf. Am andern Morgen schienen die Tropfen wirklich auf einige Besserung hingewirkt zu haben, und sie ging mit der Bemerkung, daß sie beschäftigt sei, fort. Allein als ob sie eine Pflicht zu erfüllen habe, kam sie am späten Nachmittag, wiederum ihrem Aussehen nach sehr erschöpft, zurück und brachte ein anderes Fläschchen, aus dem sie dem Kinde einflößte. Die Dauer des Unwohlseins beunruhigte mich jetzt doch allmälig dergestalt, daß ich meine Absicht, noch am Abend zum Arzt zu schicken, kundthat; aber die Fremde versicherte mir so bestimmt, es sei keine Gefahr vorhanden, wenn wir ihr nur Folge leisteten, und bat, ich möge Judica ihr nur ganz überlassen, daß ich Alles that, was sie begehrte. Sie wachte die Nacht hindurch an dem Bett des Kindes, wie in der vorigen, und verschwand den Tag über, wie am Morgen zuvor, um getreulich mit der sinkenden Sonne wiederzukehren. So ist es drei Tage, bis gestern Abend, gegangen, an dem die Fremde nicht mehr gekommen. Judica ist, Dank ihrer Sorgfalt, heut schon wieder völlig munter gewesen, und hat mit ihren Puppen Komödie gespielt, wobei sie zu unserm Erstaunen die Reden, die sie vor ihrer Krankheit auf dem Dorftheater vernommen, zum Theil Wort für Wort wiederholte. Jhr Gedächtniß für solche Dinge ist erstaunlich; fast mehr indeß habe ich mich noch über Hans gewundert, dessen Kindergesicht während des ganzen Verlaufs immer wie in ängstliches Nachsinnen vertieft war. Jch traf ihn eines Vormittags in meiner Bibliothek, wo er ein altes medizinisches Werk ausfindig gemacht, über das er ernsthaft herabgebückt saß und auf meine Frage, was er treibe, mit Thränen in den Augen antwortete, er wolle Arzt werden, um seinem Schwesterchen später und immer, wenn es krank sei, helfen zu können. Nun ist er der fröhlichste im ganzen Hause, und fast gegen seine Natur ausgelassen, da Judica ihn wieder anlächelt. Meine Frau und ich aber befinden uns in nicht geringer Ver- legenheit, auf welche Weise wir der Wildfremden, die für unser Kind eine so große Aufopferung bewiesen, unsern Dank ausdrücken sollen, da es mir gleich sehr widerstrebt, ihr irgend welchen Lohn dafür an- zubieten, als sie in ihrer jedenfalls beschränkten Lage und, zumal da sie Judica's wegen ersichtlich an mehreren Abenden ihren Beruf versäumt hat, mit einem bloßen herzlichen „Vergelt's Gott!“ weiter- ziehen zu lassen. Den 27. Juni. Es kommen doch merkwürdige, unbegreifliche Dinge im stillsten Leben vor. Die Schauspielergesellschaft und Judica's Wohlthäterin sind seit gestern plötzlich und ohne sich einmal bei uns blicken zu lassen, aus dem Dorf verschwunden. Der Befehl ist unerwartet vom Schloß gekommen, wie einige sagen, weil die Frau Baronin geäußert, sie be- fürchte, die Moral ihres Söhnleins könne durch den Aufenthalt der Theaterheldinnen im Dorf leiden. Es muß nicht gar viel daran zu verderben sein, wenn man Anlaß zu haben glaubt, über einen kaum zwölfjährigen Buben derlei Bedenken zu hegen. Andere behaupten freilich, es habe sich am letzten Spielabende, wo die Herrschaft selbst das Theater besucht, etwas ereignet, das mir aber doch fast gar zu unglaublich klingt, da die Frau Baronin beim Fortgehen einer von den Schauspielerinnen vor der Thür, wie erzählt wird, aus Eifersucht in's Gesicht gespieen, und der Kammerdiener, der sie begleitet, ihr Schimpfnamen zugeworfen haben soll, daß sie laut schluchzend in die Finsterniß hinausgelaufen sei. Wie dem sein mag, die Gesellschaft ist am Morgen darauf in aller Frühe fortgezogen und Niemand weiß, wo sie geblieben. Jst's mir doch bestimmt gewesen, heut Dinge zu vernehmen, die mich noch sonderbarer berührt haben. Da ich um Mittag zufällig den Wagen unseres Arztes aus dem Städtchen durch's Dorf fahren sah, rief ich ihn an und bat ihn, einen Augenblick bei uns abzusteigen. Jch erzählte ihm da von Judica's Krankheit und wußte nicht, weshalb er ein immer verwunderteres Gesicht dazu machte, bis er endlich fragte, ob ich denn nichts davon erfahren, daß er es sei, der die Kleine aus der Ferne behandelt habe. Kam da allerdings die Reihe des Ver- wunderns an mich, wie er mittheilte, daß jeden Tag eine angestrengt aussehende Frau oder Mädchen bei ihm in der Stadt gewesen und ihm den Zustand ihres kranken Kindes ganz deutlich und bis in die kleinsten Details geschildert habe, daß er vollkommen im Stande ge- wesen, daraufhin die Behandlung anzuordnen und Medizin zu ver- schreiben, weil er, grade außerordentlich in Anspruch genommen, doch bei der Entfernung, die sie auf fünf Stunden angegeben, persönlich nicht hätte kommen können. Jst ein weiblich Herz doch eine wunder- same, unenträthselbare Schöpfung, und wußte weder der Doktor, dem ich nun Alles vom Beginn berichtete, noch ich, was wir dazu sagen sollten. Nicht einmal den Namen der Fremden haben wir erfah- ren, denn als ich sie eines Abends darum befragte, zögerte sie sichtlich mit der Antwort und sagte endlich: „Heißen Sie mich Cölestine,

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 44. Berlin, 1. November 1868, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt44_1868/2>, abgerufen am 14.06.2024.