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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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dran war, rührte diesmal nicht Hand, nicht Fuß, und
es hätte auch nichts geholfen. Er hatte mich unterm
Arm und wir standen in der Menschenmenge und sahen
zu. Auf einmal schwankt der Thurm, der wie eine
Fackel war, hin und her und stürzt dann herunter auf
das Kirchendach mit einem Krach, daß Menschen und
Pferde in die Knie schossen und ich mit. Mein Alter
aber blieb aufrecht stehen und kehrte sich um und brachte
mich nach Hause. Als wir in unserer Stube waren,
ging er den ganzen Abend auf und ab, bis er plötzlich
vor mir stehen blieb und sagte:

"Mutter, Gottlob, die Tafel ist verbrannt! Mutter,
ich konnt' sie nicht mehr ansehen! -- Gute Nacht Mut-
ter!" -- Ich verstand ihn gar nicht und fragte, was
das bedeuten solle, aber er schüttelte nur mit dem Kopf
und ging zu Bett. Und das will ich auch thun, mein
Flachs ist alle! Gute Nacht Ihr Herrn, gute Nacht
Kinder! -- Komm Annechen!" -- Damit erhob sich
die alte Frau, und ging auf ihren Stock und den Arm
ihrer Tochter gestützt hinaus, ihrer kleinen Kammer zu,
um von ihrem alten Gottfried mit dem eisernen Her-
zen, um von den beiden erschossenen Freiheitskämpfern
weiter zu träumen. Der Karicaturenzeichner macht
heute Abend keinen Witz mehr, der Meister sog an der
erloschenen Pfeife. Es war, als wage Keiner sich von

dran war, rührte diesmal nicht Hand, nicht Fuß, und
es hätte auch nichts geholfen. Er hatte mich unterm
Arm und wir ſtanden in der Menſchenmenge und ſahen
zu. Auf einmal ſchwankt der Thurm, der wie eine
Fackel war, hin und her und ſtürzt dann herunter auf
das Kirchendach mit einem Krach, daß Menſchen und
Pferde in die Knie ſchoſſen und ich mit. Mein Alter
aber blieb aufrecht ſtehen und kehrte ſich um und brachte
mich nach Hauſe. Als wir in unſerer Stube waren,
ging er den ganzen Abend auf und ab, bis er plötzlich
vor mir ſtehen blieb und ſagte:

„Mutter, Gottlob, die Tafel iſt verbrannt! Mutter,
ich konnt’ ſie nicht mehr anſehen! — Gute Nacht Mut-
ter!“ — Ich verſtand ihn gar nicht und fragte, was
das bedeuten ſolle, aber er ſchüttelte nur mit dem Kopf
und ging zu Bett. Und das will ich auch thun, mein
Flachs iſt alle! Gute Nacht Ihr Herrn, gute Nacht
Kinder! — Komm Annechen!“ — Damit erhob ſich
die alte Frau, und ging auf ihren Stock und den Arm
ihrer Tochter geſtützt hinaus, ihrer kleinen Kammer zu,
um von ihrem alten Gottfried mit dem eiſernen Her-
zen, um von den beiden erſchoſſenen Freiheitskämpfern
weiter zu träumen. Der Karicaturenzeichner macht
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[151/0161] dran war, rührte diesmal nicht Hand, nicht Fuß, und es hätte auch nichts geholfen. Er hatte mich unterm Arm und wir ſtanden in der Menſchenmenge und ſahen zu. Auf einmal ſchwankt der Thurm, der wie eine Fackel war, hin und her und ſtürzt dann herunter auf das Kirchendach mit einem Krach, daß Menſchen und Pferde in die Knie ſchoſſen und ich mit. Mein Alter aber blieb aufrecht ſtehen und kehrte ſich um und brachte mich nach Hauſe. Als wir in unſerer Stube waren, ging er den ganzen Abend auf und ab, bis er plötzlich vor mir ſtehen blieb und ſagte: „Mutter, Gottlob, die Tafel iſt verbrannt! Mutter, ich konnt’ ſie nicht mehr anſehen! — Gute Nacht Mut- ter!“ — Ich verſtand ihn gar nicht und fragte, was das bedeuten ſolle, aber er ſchüttelte nur mit dem Kopf und ging zu Bett. Und das will ich auch thun, mein Flachs iſt alle! Gute Nacht Ihr Herrn, gute Nacht Kinder! — Komm Annechen!“ — Damit erhob ſich die alte Frau, und ging auf ihren Stock und den Arm ihrer Tochter geſtützt hinaus, ihrer kleinen Kammer zu, um von ihrem alten Gottfried mit dem eiſernen Her- zen, um von den beiden erſchoſſenen Freiheitskämpfern weiter zu träumen. Der Karicaturenzeichner macht heute Abend keinen Witz mehr, der Meiſter ſog an der erloſchenen Pfeife. Es war, als wage Keiner ſich von

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/161>, abgerufen am 01.11.2024.