Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Neuntes Kapitel. §. 98.
denn nicht, warum es so, sondern wie es zugegangen sei,
ist die Frage. So beruht mithin Alles, was Olshausen hier
gethan zu haben glaubt, um das Wunder denkbarer zu
machen, auf der Amphibolie des Ausdrucks: Vermittlung,
und es bleibt die Undenkbarkeit einer unmittelbaren Ein-
wirkung des Willens Jesu auf die vernunftlose Natur die-
ser Geschichte mit den zulezt erwogenen gemein.

Doch eigenthümlich vor den andern ist ihr die Schwie-
rigkeit, dass hier nicht bloss wie bisher von einer den
Naturgegenständen ertheilten Richtung oder Modifikation,
sondern von einer Vermehrung derselben, und zwar in's
Ungeheure, die Rede ist. Zwar ist uns nichts alltäglicher,
als Wachsthum und Vermehrung der Naturgegenstände,
wie sie z. B. vom Samenkorn in den Parabeln vom Säe-
mann und vom Senfkorn dargestellt ist. Allein diese ge-
schieht erstlich nicht ohne Zutritt anderer Naturdinge, wie
Erde, Wasser, Luft, so dass auch hier, nach dem bekann-
ten Saz der Naturlehre, nicht eigentlich die Substanz ver-
mehrt, sondern nur die Accidenzien verwandelt werden;
zweitens geschieht dieser Process so, dass er seine verschie-
denen Stadien in entsprechenden Zeitdistanzen zurücklegt.
Hier dagegen, bei der Vermehrung der Nahrungsmittel
durch Jesus, findet weder das Eine noch das Andere statt:
das Brot in der Hand Jesu hängt nicht mehr, wie der
Halm, auf welchem die Frucht wuchs, mit dem mütterli-
chen Boden zusammen, noch geschieht seine Vermehrung
allmählig, sondern plözlich.

Das aber eben soll das Wunderbare an der Sache sein,
und namentlich nach der lezteren Seite hin das gegenwär-
tige Wunder ein beschleunigter Naturprocess genannt wer-
den können. Was von der Aussaat bis zur Ernte in drei
Vierteljahren geschieht, soll da in Minuten unter der Aus-
theilung der Speise geschehen sein; denn einer Beschleu-
nigung seien die Naturentwicklungen fähig, und einer wie

Neuntes Kapitel. §. 98.
denn nicht, warum es so, sondern wie es zugegangen sei,
ist die Frage. So beruht mithin Alles, was Olshausen hier
gethan zu haben glaubt, um das Wunder denkbarer zu
machen, auf der Amphibolie des Ausdrucks: Vermittlung,
und es bleibt die Undenkbarkeit einer unmittelbaren Ein-
wirkung des Willens Jesu auf die vernunftlose Natur die-
ser Geschichte mit den zulezt erwogenen gemein.

Doch eigenthümlich vor den andern ist ihr die Schwie-
rigkeit, daſs hier nicht bloſs wie bisher von einer den
Naturgegenständen ertheilten Richtung oder Modifikation,
sondern von einer Vermehrung derselben, und zwar in's
Ungeheure, die Rede ist. Zwar ist uns nichts alltäglicher,
als Wachsthum und Vermehrung der Naturgegenstände,
wie sie z. B. vom Samenkorn in den Parabeln vom Säe-
mann und vom Senfkorn dargestellt ist. Allein diese ge-
schieht erstlich nicht ohne Zutritt anderer Naturdinge, wie
Erde, Wasser, Luft, so daſs auch hier, nach dem bekann-
ten Saz der Naturlehre, nicht eigentlich die Substanz ver-
mehrt, sondern nur die Accidenzien verwandelt werden;
zweitens geschieht dieser Proceſs so, daſs er seine verschie-
denen Stadien in entsprechenden Zeitdistanzen zurücklegt.
Hier dagegen, bei der Vermehrung der Nahrungsmittel
durch Jesus, findet weder das Eine noch das Andere statt:
das Brot in der Hand Jesu hängt nicht mehr, wie der
Halm, auf welchem die Frucht wuchs, mit dem mütterli-
chen Boden zusammen, noch geschieht seine Vermehrung
allmählig, sondern plözlich.

Das aber eben soll das Wunderbare an der Sache sein,
und namentlich nach der lezteren Seite hin das gegenwär-
tige Wunder ein beschleunigter Naturproceſs genannt wer-
den können. Was von der Aussaat bis zur Ernte in drei
Vierteljahren geschieht, soll da in Minuten unter der Aus-
theilung der Speise geschehen sein; denn einer Beschleu-
nigung seien die Naturentwicklungen fähig, und einer wie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0224" n="205"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Neuntes Kapitel</hi>. §. 98.</fw><lb/>
denn nicht, warum es so, sondern wie es zugegangen sei,<lb/>
ist die Frage. So beruht mithin Alles, was <hi rendition="#k">Olshausen</hi> hier<lb/>
gethan zu haben glaubt, um das Wunder denkbarer zu<lb/>
machen, auf der Amphibolie des Ausdrucks: Vermittlung,<lb/>
und es bleibt die Undenkbarkeit einer unmittelbaren Ein-<lb/>
wirkung des Willens Jesu auf die vernunftlose Natur die-<lb/>
ser Geschichte mit den zulezt erwogenen gemein.</p><lb/>
          <p>Doch eigenthümlich vor den andern ist ihr die Schwie-<lb/>
rigkeit, da&#x017F;s hier nicht blo&#x017F;s wie bisher von einer den<lb/>
Naturgegenständen ertheilten Richtung oder Modifikation,<lb/>
sondern von einer Vermehrung derselben, und zwar in's<lb/>
Ungeheure, die Rede ist. Zwar ist uns nichts alltäglicher,<lb/>
als Wachsthum und Vermehrung der Naturgegenstände,<lb/>
wie sie z. B. vom Samenkorn in den Parabeln vom Säe-<lb/>
mann und vom Senfkorn dargestellt ist. Allein diese ge-<lb/>
schieht erstlich nicht ohne Zutritt anderer Naturdinge, wie<lb/>
Erde, Wasser, Luft, so da&#x017F;s auch hier, nach dem bekann-<lb/>
ten Saz der Naturlehre, nicht eigentlich die Substanz ver-<lb/>
mehrt, sondern nur die Accidenzien verwandelt werden;<lb/>
zweitens geschieht dieser Proce&#x017F;s so, da&#x017F;s er seine verschie-<lb/>
denen Stadien in entsprechenden Zeitdistanzen zurücklegt.<lb/>
Hier dagegen, bei der Vermehrung der Nahrungsmittel<lb/>
durch Jesus, findet weder das Eine noch das Andere statt:<lb/>
das Brot in der Hand Jesu hängt nicht mehr, wie der<lb/>
Halm, auf welchem die Frucht wuchs, mit dem mütterli-<lb/>
chen Boden zusammen, noch geschieht seine Vermehrung<lb/>
allmählig, sondern plözlich.</p><lb/>
          <p>Das aber eben soll das Wunderbare an der Sache sein,<lb/>
und namentlich nach der lezteren Seite hin das gegenwär-<lb/>
tige Wunder ein beschleunigter Naturproce&#x017F;s genannt wer-<lb/>
den können. Was von der Aussaat bis zur Ernte in drei<lb/>
Vierteljahren geschieht, soll da in Minuten unter der Aus-<lb/>
theilung der Speise geschehen sein; denn einer Beschleu-<lb/>
nigung seien die Naturentwicklungen fähig, und einer wie<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[205/0224] Neuntes Kapitel. §. 98. denn nicht, warum es so, sondern wie es zugegangen sei, ist die Frage. So beruht mithin Alles, was Olshausen hier gethan zu haben glaubt, um das Wunder denkbarer zu machen, auf der Amphibolie des Ausdrucks: Vermittlung, und es bleibt die Undenkbarkeit einer unmittelbaren Ein- wirkung des Willens Jesu auf die vernunftlose Natur die- ser Geschichte mit den zulezt erwogenen gemein. Doch eigenthümlich vor den andern ist ihr die Schwie- rigkeit, daſs hier nicht bloſs wie bisher von einer den Naturgegenständen ertheilten Richtung oder Modifikation, sondern von einer Vermehrung derselben, und zwar in's Ungeheure, die Rede ist. Zwar ist uns nichts alltäglicher, als Wachsthum und Vermehrung der Naturgegenstände, wie sie z. B. vom Samenkorn in den Parabeln vom Säe- mann und vom Senfkorn dargestellt ist. Allein diese ge- schieht erstlich nicht ohne Zutritt anderer Naturdinge, wie Erde, Wasser, Luft, so daſs auch hier, nach dem bekann- ten Saz der Naturlehre, nicht eigentlich die Substanz ver- mehrt, sondern nur die Accidenzien verwandelt werden; zweitens geschieht dieser Proceſs so, daſs er seine verschie- denen Stadien in entsprechenden Zeitdistanzen zurücklegt. Hier dagegen, bei der Vermehrung der Nahrungsmittel durch Jesus, findet weder das Eine noch das Andere statt: das Brot in der Hand Jesu hängt nicht mehr, wie der Halm, auf welchem die Frucht wuchs, mit dem mütterli- chen Boden zusammen, noch geschieht seine Vermehrung allmählig, sondern plözlich. Das aber eben soll das Wunderbare an der Sache sein, und namentlich nach der lezteren Seite hin das gegenwär- tige Wunder ein beschleunigter Naturproceſs genannt wer- den können. Was von der Aussaat bis zur Ernte in drei Vierteljahren geschieht, soll da in Minuten unter der Aus- theilung der Speise geschehen sein; denn einer Beschleu- nigung seien die Naturentwicklungen fähig, und einer wie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/224
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/224>, abgerufen am 01.11.2024.