O Rosa, warum bin ich nicht zufrieden und glücklich? Warum bleibt ein Wunsch nur so lange Wunsch, bis er erfüllt ist? Hab' ich nicht alles, was ich verlangte? und dennoch werd ich immer weiter vorgedrängt, und auch im höch- sten Genusse lauert gewiß schon eine neue Be- gierde, die sich selbst nicht kennt. Welcher böse Geist ist es, der uns so durch alle Freuden an- winkt? Er lockt uns von einem Tage zum an- dern hinüber, wir folgen betäubt, ohne zu wis- sen, wohin wir treten, und sinken so in einer verächtlichen Trunkenheit in unser Grab. Ich schwöre Ihnen, daß mir in manchen Momenten aller Genuß der Sinne verabscheuungswürdig erscheint, daß ich mich vor mir selber schäme, wenn ich diese holden Züge betrachte, diese Un- schuld, die sich auf der weißen reinen Stirn abspiegelt; es ist mir manchmal, als wenn mich eine Gottheit durch ihre hellen Augen anschaute, und ich erröthe dann wie ein Knabe.
38. William Lovell an Roſa.
Rom.
O Roſa, warum bin ich nicht zufrieden und gluͤcklich? Warum bleibt ein Wunſch nur ſo lange Wunſch, bis er erfuͤllt iſt? Hab’ ich nicht alles, was ich verlangte? und dennoch werd ich immer weiter vorgedraͤngt, und auch im hoͤch- ſten Genuſſe lauert gewiß ſchon eine neue Be- gierde, die ſich ſelbſt nicht kennt. Welcher boͤſe Geiſt iſt es, der uns ſo durch alle Freuden an- winkt? Er lockt uns von einem Tage zum an- dern hinuͤber, wir folgen betaͤubt, ohne zu wiſ- ſen, wohin wir treten, und ſinken ſo in einer veraͤchtlichen Trunkenheit in unſer Grab. Ich ſchwoͤre Ihnen, daß mir in manchen Momenten aller Genuß der Sinne verabſcheuungswuͤrdig erſcheint, daß ich mich vor mir ſelber ſchaͤme, wenn ich dieſe holden Zuͤge betrachte, dieſe Un- ſchuld, die ſich auf der weißen reinen Stirn abſpiegelt; es iſt mir manchmal, als wenn mich eine Gottheit durch ihre hellen Augen anſchaute, und ich erroͤthe dann wie ein Knabe.
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38.
William Lovell an Roſa.
Rom.
O Roſa, warum bin ich nicht zufrieden und
gluͤcklich? Warum bleibt ein Wunſch nur ſo
lange Wunſch, bis er erfuͤllt iſt? Hab’ ich nicht
alles, was ich verlangte? und dennoch werd ich
immer weiter vorgedraͤngt, und auch im hoͤch-
ſten Genuſſe lauert gewiß ſchon eine neue Be-
gierde, die ſich ſelbſt nicht kennt. Welcher boͤſe
Geiſt iſt es, der uns ſo durch alle Freuden an-
winkt? Er lockt uns von einem Tage zum an-
dern hinuͤber, wir folgen betaͤubt, ohne zu wiſ-
ſen, wohin wir treten, und ſinken ſo in einer
veraͤchtlichen Trunkenheit in unſer Grab. Ich
ſchwoͤre Ihnen, daß mir in manchen Momenten
aller Genuß der Sinne verabſcheuungswuͤrdig
erſcheint, daß ich mich vor mir ſelber ſchaͤme,
wenn ich dieſe holden Zuͤge betrachte, dieſe Un-
ſchuld, die ſich auf der weißen reinen Stirn
abſpiegelt; es iſt mir manchmal, als wenn mich
eine Gottheit durch ihre hellen Augen anſchaute,
und ich erroͤthe dann wie ein Knabe.
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/161>, abgerufen am 31.10.2024.
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