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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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man mit Schelling (Ueber d. Verh. d. bild. K. zu d. Natur) sagen: die
Vorschrift, daß der Ausdruck der Leidenschaft zu mäßigen sei, damit die
Schönheit nicht leide, ist umzukehren und so auszudrücken, daß die Leiden-
schaft eben durch die Schönheit selbst gemäßigt werden solle. In der
That ist denn schon das griechische Profil "ein unerschütterlicher Damm,
welchen der reißendste Strom der Leidenschaft nie ganz durchbrechen
kann" u. s. w. (Feuerbach a. a. O. S. 52. 54); es ist aber nur die
höchste Ansammlung eines Ebenmaaßes, das die ganze Gestalt wie ein
edler Panzer einfaßt und gegen die Zerreißung ihrer Formen durch Ueber-
maaß der Leidenschaft schirmt. Hieher gehört nun gerade namentlich der
Laokoon. Er leidet so schrecklich, daß der Ausdruck des, die physische
und moralische Qual niederkämpfenden, Willens in der That weniger in
irgend einem besondern Zuge, als in dem ungestörten Adel aller
Form und Bewegung, in dem reinen Schwung und der Auge und Sinn
beruhigenden Kreisschwingung aller Linien der ganzen Gruppe als ein
unsichtbar sichtbar ergossener Geist keuscher Grazie zu suchen ist. In der
Niobe treffen gerade diese Mittel des plastischen Styls mit dem oben er-
wähnten Vortheile des Mythus zusammen: sie wird im höchsten Schmerze
zu Stein und dieser Stein ist der Marmor im Adel seiner Künstlerform.
Auch lag hier eine große Erleichterung, vielmehr selbst ein Motiv der
Schönheit in der Art des Leidens: tief und entsetzlich, war es doch nicht
ein solches, das die Seele häßlich zerreißt, wie Schaam und Reue, es
war der Schmerz der Mutterliebe, an sich selber schön und göttlich; der
Bildner durfte ihn nur nicht zur wilden Verzweiflung werden lassen,
sondern das Auflösende, Hinschmelzende, Hinschwindende darin mit der
griechischen Anschauung des Schicksals als eines Unabwendbaren, das der
Mensch nach vergeblichem Widerstand mit der Großheit objectiven Noth-
wendigkeits-Sinns hinnimmt, zusammenfassen, so stellte er das Urbild
der unendlich leidenden, im Leiden noch unendlich erhabenen Mutterliebe
vor unser Auge. Es ist aber noch der dritte Fall zu unterscheiden und
wir machen ihn sogleich durch Beispiele klar. Der Athamas des Aristonidas
erschien von Schaam und Reue, von den Spuren der eben erst gewichenen
Wuth, die sterbende Jokaste des Silanion von sittlichem Grauen vor
sich selbst im Innersten zerwühlt: das sind andere, häßliche, grasse Affecte;
hier vereinigte sich jene Aufgabe, das Zerreißende des Schmerzes durch
ausdrückliche Offenbarung der herrschenden Seelengewalt zu dämpfen,
mit der andern, allgemeinen, den ganzen Adel der plastischen Form gegen
das Widerliche der Seelenzerrüttung in Kampf zu führen und dadurch
den Ausdruck dieser zur dünneren Wolke umzubilden, durch deren Schauer-
flor die auch in der tiefen Zerklüftung noch große, wie in sich selbst
gedoppelte und mit ihrem höheren Selbst über ihrem leidenden Selbst

man mit Schelling (Ueber d. Verh. d. bild. K. zu d. Natur) ſagen: die
Vorſchrift, daß der Ausdruck der Leidenſchaft zu mäßigen ſei, damit die
Schönheit nicht leide, iſt umzukehren und ſo auszudrücken, daß die Leiden-
ſchaft eben durch die Schönheit ſelbſt gemäßigt werden ſolle. In der
That iſt denn ſchon das griechiſche Profil „ein unerſchütterlicher Damm,
welchen der reißendſte Strom der Leidenſchaft nie ganz durchbrechen
kann“ u. ſ. w. (Feuerbach a. a. O. S. 52. 54); es iſt aber nur die
höchſte Anſammlung eines Ebenmaaßes, das die ganze Geſtalt wie ein
edler Panzer einfaßt und gegen die Zerreißung ihrer Formen durch Ueber-
maaß der Leidenſchaft ſchirmt. Hieher gehört nun gerade namentlich der
Laokoon. Er leidet ſo ſchrecklich, daß der Ausdruck des, die phyſiſche
und moraliſche Qual niederkämpfenden, Willens in der That weniger in
irgend einem beſondern Zuge, als in dem ungeſtörten Adel aller
Form und Bewegung, in dem reinen Schwung und der Auge und Sinn
beruhigenden Kreisſchwingung aller Linien der ganzen Gruppe als ein
unſichtbar ſichtbar ergoſſener Geiſt keuſcher Grazie zu ſuchen iſt. In der
Niobe treffen gerade dieſe Mittel des plaſtiſchen Styls mit dem oben er-
wähnten Vortheile des Mythus zuſammen: ſie wird im höchſten Schmerze
zu Stein und dieſer Stein iſt der Marmor im Adel ſeiner Künſtlerform.
Auch lag hier eine große Erleichterung, vielmehr ſelbſt ein Motiv der
Schönheit in der Art des Leidens: tief und entſetzlich, war es doch nicht
ein ſolches, das die Seele häßlich zerreißt, wie Schaam und Reue, es
war der Schmerz der Mutterliebe, an ſich ſelber ſchön und göttlich; der
Bildner durfte ihn nur nicht zur wilden Verzweiflung werden laſſen,
ſondern das Auflöſende, Hinſchmelzende, Hinſchwindende darin mit der
griechiſchen Anſchauung des Schickſals als eines Unabwendbaren, das der
Menſch nach vergeblichem Widerſtand mit der Großheit objectiven Noth-
wendigkeits-Sinns hinnimmt, zuſammenfaſſen, ſo ſtellte er das Urbild
der unendlich leidenden, im Leiden noch unendlich erhabenen Mutterliebe
vor unſer Auge. Es iſt aber noch der dritte Fall zu unterſcheiden und
wir machen ihn ſogleich durch Beiſpiele klar. Der Athamas des Ariſtonidas
erſchien von Schaam und Reue, von den Spuren der eben erſt gewichenen
Wuth, die ſterbende Jokaſte des Silanion von ſittlichem Grauen vor
ſich ſelbſt im Innerſten zerwühlt: das ſind andere, häßliche, graſſe Affecte;
hier vereinigte ſich jene Aufgabe, das Zerreißende des Schmerzes durch
ausdrückliche Offenbarung der herrſchenden Seelengewalt zu dämpfen,
mit der andern, allgemeinen, den ganzen Adel der plaſtiſchen Form gegen
das Widerliche der Seelenzerrüttung in Kampf zu führen und dadurch
den Ausdruck dieſer zur dünneren Wolke umzubilden, durch deren Schauer-
flor die auch in der tiefen Zerklüftung noch große, wie in ſich ſelbſt
gedoppelte und mit ihrem höheren Selbſt über ihrem leidenden Selbſt

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[434/0108] man mit Schelling (Ueber d. Verh. d. bild. K. zu d. Natur) ſagen: die Vorſchrift, daß der Ausdruck der Leidenſchaft zu mäßigen ſei, damit die Schönheit nicht leide, iſt umzukehren und ſo auszudrücken, daß die Leiden- ſchaft eben durch die Schönheit ſelbſt gemäßigt werden ſolle. In der That iſt denn ſchon das griechiſche Profil „ein unerſchütterlicher Damm, welchen der reißendſte Strom der Leidenſchaft nie ganz durchbrechen kann“ u. ſ. w. (Feuerbach a. a. O. S. 52. 54); es iſt aber nur die höchſte Anſammlung eines Ebenmaaßes, das die ganze Geſtalt wie ein edler Panzer einfaßt und gegen die Zerreißung ihrer Formen durch Ueber- maaß der Leidenſchaft ſchirmt. Hieher gehört nun gerade namentlich der Laokoon. Er leidet ſo ſchrecklich, daß der Ausdruck des, die phyſiſche und moraliſche Qual niederkämpfenden, Willens in der That weniger in irgend einem beſondern Zuge, als in dem ungeſtörten Adel aller Form und Bewegung, in dem reinen Schwung und der Auge und Sinn beruhigenden Kreisſchwingung aller Linien der ganzen Gruppe als ein unſichtbar ſichtbar ergoſſener Geiſt keuſcher Grazie zu ſuchen iſt. In der Niobe treffen gerade dieſe Mittel des plaſtiſchen Styls mit dem oben er- wähnten Vortheile des Mythus zuſammen: ſie wird im höchſten Schmerze zu Stein und dieſer Stein iſt der Marmor im Adel ſeiner Künſtlerform. Auch lag hier eine große Erleichterung, vielmehr ſelbſt ein Motiv der Schönheit in der Art des Leidens: tief und entſetzlich, war es doch nicht ein ſolches, das die Seele häßlich zerreißt, wie Schaam und Reue, es war der Schmerz der Mutterliebe, an ſich ſelber ſchön und göttlich; der Bildner durfte ihn nur nicht zur wilden Verzweiflung werden laſſen, ſondern das Auflöſende, Hinſchmelzende, Hinſchwindende darin mit der griechiſchen Anſchauung des Schickſals als eines Unabwendbaren, das der Menſch nach vergeblichem Widerſtand mit der Großheit objectiven Noth- wendigkeits-Sinns hinnimmt, zuſammenfaſſen, ſo ſtellte er das Urbild der unendlich leidenden, im Leiden noch unendlich erhabenen Mutterliebe vor unſer Auge. Es iſt aber noch der dritte Fall zu unterſcheiden und wir machen ihn ſogleich durch Beiſpiele klar. Der Athamas des Ariſtonidas erſchien von Schaam und Reue, von den Spuren der eben erſt gewichenen Wuth, die ſterbende Jokaſte des Silanion von ſittlichem Grauen vor ſich ſelbſt im Innerſten zerwühlt: das ſind andere, häßliche, graſſe Affecte; hier vereinigte ſich jene Aufgabe, das Zerreißende des Schmerzes durch ausdrückliche Offenbarung der herrſchenden Seelengewalt zu dämpfen, mit der andern, allgemeinen, den ganzen Adel der plaſtiſchen Form gegen das Widerliche der Seelenzerrüttung in Kampf zu führen und dadurch den Ausdruck dieſer zur dünneren Wolke umzubilden, durch deren Schauer- flor die auch in der tiefen Zerklüftung noch große, wie in ſich ſelbſt gedoppelte und mit ihrem höheren Selbſt über ihrem leidenden Selbſt

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/108>, abgerufen am 01.11.2024.