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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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hebt, mit dem Guten zusammenhängt. Es fehlt uns also noch die wahre
Ausfüllung des Charakters und sie besteht in nichts Anderem, als einem
bestimmten Pathos, einem Streben auf einen wesentlichen sittlichen Zweck,
das zum stetigen Grund-Affecte, zur andern Natur geworden ist. Von
dieser andern Natur ist die ursprüngliche Natur des Individuums, die
geistige und sittliche Anlage zu unterscheiden. Die individuellen Formen
der Gestalt, wie sie in §. 615, 2. u. 616, 1. schon zur Sprache gekom-
men sind, drücken zunächst dieß Angeborne aus. Das Individuum vor
der Charakterbildung vereinigt eine Vielheit geistiger Kräfte in sich, die
nach einer Einheit in bestimmter Richtung neigen, aber in der Weise der
Zufälligkeit, so daß diese Richtung eine gute sein kann oder nicht und daß
sie die Vielheit nicht rein beherrscht, sondern irgend eine einzelne Kraft,
ein Trieb in der Weise des unberechenbaren Eigensinns, der Grille, der
Absonderlichkeit nebenher für sich sein Spiel treibt. Daher ist diese Ein-
heit eine irrationale. Die Charakterbildung aber trägt in diese chaotische
Halb-Einheit die wahre Einheit. In andern Künsten nun mag auch der
Charakter in diesem intensiven Sinn mit solcher Färbung auftreten, daß
ihm neben seinem sittlichen Kern ein unaufgelöster Bruch aus dem Ge-
misch der Kräfte vor der Charakterbildung zurückbleibt, daß nicht alle
Kräfte an jenen Mittelpunct rein angeschossen sind, daß er in seltsam
abspringender Weise mit diesem Bruche gährt und prozessirt. Solche Na-
turen aber sind unplastisch; im plastischen Styl soll die ursprüngliche Na-
tur der Individualität flüssig und ganz eingegangen sein in die ethische
Einheit des Charakters. Das Individuum behält seine nur ihm eigene
Mischung der Kräfte, seinen eigenen Ton, seine Farbe, aber der ethische
Charakterkern scheint ruhig hindurch und bricht die Farbe nicht in unru-
hige, verwunderliche Reflexe und Töne. Dieß soll nun die Gestalt dar-
stellen; ihre Eigenheit ist jetzt Ausdruck geistiger Eigenheit in diesem mil-
den Sinne; die "zarte Linie der milden Modification" hat jetzt diese tie-
fere Bedeutung erhalten. Im plastischen Ideale hat auch der Gott seine
Eigenheit, seine nur ihm eigene Mischung von Kräften, Sinnesrichtun-
gen, Willensbestimmungen, die sich zu einem unterscheidenden Stim-
mungston
seiner Persönlichkeit zusammenmischen, und jene feinen Un-
terschiede der Gestalt und Züge, von denen zu §. 616, 1. Beispiele ge-
geben wurden, drücken nun diese Charakter-Eigenheit aus. Keine andere
Gottheit gleicht z. B. einer Here, einer Athene. Jene ist Mitherrscherin
über Götter und Menschen, wesentlich aber Vorsteherin der Ehe, diese
die Gottheit der ächt menschlichen Civilisation und des Kampfes für sie;
jene aber ist zugleich stolz, launisch, eifersüchtig, zeigt die Schwächen des
Weibes mit der Majestät ihres Geistes in unvergleichlich eigener Weise
zusammengemischt und in diesen Schwächen klingt zugleich die ursprüng-

hebt, mit dem Guten zuſammenhängt. Es fehlt uns alſo noch die wahre
Ausfüllung des Charakters und ſie beſteht in nichts Anderem, als einem
beſtimmten Pathos, einem Streben auf einen weſentlichen ſittlichen Zweck,
das zum ſtetigen Grund-Affecte, zur andern Natur geworden iſt. Von
dieſer andern Natur iſt die urſprüngliche Natur des Individuums, die
geiſtige und ſittliche Anlage zu unterſcheiden. Die individuellen Formen
der Geſtalt, wie ſie in §. 615, 2. u. 616, 1. ſchon zur Sprache gekom-
men ſind, drücken zunächſt dieß Angeborne aus. Das Individuum vor
der Charakterbildung vereinigt eine Vielheit geiſtiger Kräfte in ſich, die
nach einer Einheit in beſtimmter Richtung neigen, aber in der Weiſe der
Zufälligkeit, ſo daß dieſe Richtung eine gute ſein kann oder nicht und daß
ſie die Vielheit nicht rein beherrſcht, ſondern irgend eine einzelne Kraft,
ein Trieb in der Weiſe des unberechenbaren Eigenſinns, der Grille, der
Abſonderlichkeit nebenher für ſich ſein Spiel treibt. Daher iſt dieſe Ein-
heit eine irrationale. Die Charakterbildung aber trägt in dieſe chaotiſche
Halb-Einheit die wahre Einheit. In andern Künſten nun mag auch der
Charakter in dieſem intenſiven Sinn mit ſolcher Färbung auftreten, daß
ihm neben ſeinem ſittlichen Kern ein unaufgelöster Bruch aus dem Ge-
miſch der Kräfte vor der Charakterbildung zurückbleibt, daß nicht alle
Kräfte an jenen Mittelpunct rein angeſchoſſen ſind, daß er in ſeltſam
abſpringender Weiſe mit dieſem Bruche gährt und prozeſſirt. Solche Na-
turen aber ſind unplaſtiſch; im plaſtiſchen Styl ſoll die urſprüngliche Na-
tur der Individualität flüſſig und ganz eingegangen ſein in die ethiſche
Einheit des Charakters. Das Individuum behält ſeine nur ihm eigene
Miſchung der Kräfte, ſeinen eigenen Ton, ſeine Farbe, aber der ethiſche
Charakterkern ſcheint ruhig hindurch und bricht die Farbe nicht in unru-
hige, verwunderliche Reflexe und Töne. Dieß ſoll nun die Geſtalt dar-
ſtellen; ihre Eigenheit iſt jetzt Ausdruck geiſtiger Eigenheit in dieſem mil-
den Sinne; die „zarte Linie der milden Modification“ hat jetzt dieſe tie-
fere Bedeutung erhalten. Im plaſtiſchen Ideale hat auch der Gott ſeine
Eigenheit, ſeine nur ihm eigene Miſchung von Kräften, Sinnesrichtun-
gen, Willensbeſtimmungen, die ſich zu einem unterſcheidenden Stim-
mungston
ſeiner Perſönlichkeit zuſammenmiſchen, und jene feinen Un-
terſchiede der Geſtalt und Züge, von denen zu §. 616, 1. Beiſpiele ge-
geben wurden, drücken nun dieſe Charakter-Eigenheit aus. Keine andere
Gottheit gleicht z. B. einer Here, einer Athene. Jene iſt Mitherrſcherin
über Götter und Menſchen, weſentlich aber Vorſteherin der Ehe, dieſe
die Gottheit der ächt menſchlichen Civiliſation und des Kampfes für ſie;
jene aber iſt zugleich ſtolz, launiſch, eiferſüchtig, zeigt die Schwächen des
Weibes mit der Majeſtät ihres Geiſtes in unvergleichlich eigener Weiſe
zuſammengemiſcht und in dieſen Schwächen klingt zugleich die urſprüng-

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[440/0114] hebt, mit dem Guten zuſammenhängt. Es fehlt uns alſo noch die wahre Ausfüllung des Charakters und ſie beſteht in nichts Anderem, als einem beſtimmten Pathos, einem Streben auf einen weſentlichen ſittlichen Zweck, das zum ſtetigen Grund-Affecte, zur andern Natur geworden iſt. Von dieſer andern Natur iſt die urſprüngliche Natur des Individuums, die geiſtige und ſittliche Anlage zu unterſcheiden. Die individuellen Formen der Geſtalt, wie ſie in §. 615, 2. u. 616, 1. ſchon zur Sprache gekom- men ſind, drücken zunächſt dieß Angeborne aus. Das Individuum vor der Charakterbildung vereinigt eine Vielheit geiſtiger Kräfte in ſich, die nach einer Einheit in beſtimmter Richtung neigen, aber in der Weiſe der Zufälligkeit, ſo daß dieſe Richtung eine gute ſein kann oder nicht und daß ſie die Vielheit nicht rein beherrſcht, ſondern irgend eine einzelne Kraft, ein Trieb in der Weiſe des unberechenbaren Eigenſinns, der Grille, der Abſonderlichkeit nebenher für ſich ſein Spiel treibt. Daher iſt dieſe Ein- heit eine irrationale. Die Charakterbildung aber trägt in dieſe chaotiſche Halb-Einheit die wahre Einheit. In andern Künſten nun mag auch der Charakter in dieſem intenſiven Sinn mit ſolcher Färbung auftreten, daß ihm neben ſeinem ſittlichen Kern ein unaufgelöster Bruch aus dem Ge- miſch der Kräfte vor der Charakterbildung zurückbleibt, daß nicht alle Kräfte an jenen Mittelpunct rein angeſchoſſen ſind, daß er in ſeltſam abſpringender Weiſe mit dieſem Bruche gährt und prozeſſirt. Solche Na- turen aber ſind unplaſtiſch; im plaſtiſchen Styl ſoll die urſprüngliche Na- tur der Individualität flüſſig und ganz eingegangen ſein in die ethiſche Einheit des Charakters. Das Individuum behält ſeine nur ihm eigene Miſchung der Kräfte, ſeinen eigenen Ton, ſeine Farbe, aber der ethiſche Charakterkern ſcheint ruhig hindurch und bricht die Farbe nicht in unru- hige, verwunderliche Reflexe und Töne. Dieß ſoll nun die Geſtalt dar- ſtellen; ihre Eigenheit iſt jetzt Ausdruck geiſtiger Eigenheit in dieſem mil- den Sinne; die „zarte Linie der milden Modification“ hat jetzt dieſe tie- fere Bedeutung erhalten. Im plaſtiſchen Ideale hat auch der Gott ſeine Eigenheit, ſeine nur ihm eigene Miſchung von Kräften, Sinnesrichtun- gen, Willensbeſtimmungen, die ſich zu einem unterſcheidenden Stim- mungston ſeiner Perſönlichkeit zuſammenmiſchen, und jene feinen Un- terſchiede der Geſtalt und Züge, von denen zu §. 616, 1. Beiſpiele ge- geben wurden, drücken nun dieſe Charakter-Eigenheit aus. Keine andere Gottheit gleicht z. B. einer Here, einer Athene. Jene iſt Mitherrſcherin über Götter und Menſchen, weſentlich aber Vorſteherin der Ehe, dieſe die Gottheit der ächt menſchlichen Civiliſation und des Kampfes für ſie; jene aber iſt zugleich ſtolz, launiſch, eiferſüchtig, zeigt die Schwächen des Weibes mit der Majeſtät ihres Geiſtes in unvergleichlich eigener Weiſe zuſammengemiſcht und in dieſen Schwächen klingt zugleich die urſprüng-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/114>, abgerufen am 01.11.2024.