Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.
liche Naturbedeutung des wechselnden Erdlebens hindurch; diese hat das
liche Naturbedeutung des wechſelnden Erdlebens hindurch; dieſe hat das <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0115" n="441"/> liche Naturbedeutung des wechſelnden Erdlebens hindurch; dieſe hat das<lb/> Herbe, Kalte der ſpröden Jungfräulichkeit, dem eine atmoſphäriſche Be-<lb/> ziehung zu Grunde liegt, und dieß löst ſich durch eine zarte, tiefe, un-<lb/> nachahmliche Uebertragung in den Geiſt eines ruhig ernſten Sinnens, in<lb/> die bildlich verſtandene klare Kühle des Denkens und der Wiſſenſchaft<lb/> auf. So nun auch der plaſtiſch erfaßte realer beſtimmte Charakter: er<lb/> zeigt eine ſchärfer eigenthümliche Miſchung der Kräfte und Formen,<lb/> aber die Miſchung bleibt auch hier flüſſig, nichts iſt in ſie aufgenommen,<lb/> was in die Sonderbarkeit des unauflösbar Eigenen hineinführte. Der<lb/> Krieger z. B., insbeſondere in der Porträtdarſtellung, erſcheine mehr wild<lb/> oder mehr fein, ſinnend auf Schlachtpläne oder losſchlagend, zeige mehr<lb/> Härte oder auch Weichheit, die verſchiedenſten Miſchungen ſind möglich,<lb/> aber keine erlaubt etwas Närriſches, Grillenhaftes, barbariſch Seltſames.<lb/> So verhält es ſich, wenn man die ſpezielle Einheit des Charakters nach<lb/> der Seite der in ihr gebundenen Vielheit betrachtet; aber eben ſo weſent-<lb/> lich iſt die Beziehung der ſpeziellen Einheit auf die höchſte Einheit. Mit-<lb/> ten in der Einſeitigkeit muß das Individuum jenen Charakter der Allge-<lb/> meinheit haben, worin die Gegenſätze, welche die Welt zerreißen, Denken<lb/> und Wollen, Wollen und Sollen, Geiſt und Natur getilgt ſind. Natür-<lb/> lich nach Maaßgabe der verſchiedenen Kreiſe der Darſtellung. Das aus-<lb/> drücklich, im engern Sinn ideale Weſen, der Gott, athmet, ohne ſeine<lb/> Beſonderheit zu opfern, im reinen, wolkenloſen Aether des Unendlichen:<lb/> „ſowohl den Ernſt und die Arbeit, als die nichtige Luſt, die das leere<lb/> Angeſicht glättet, ließen die Griechen aus der Stirne der ſeligen Götter ver-<lb/> ſchwinden, gaben die Ewigzufriedenen von den Feſſeln jedes Zweckes, jeder<lb/> Pflicht, jeder Sorge frei und machten den <hi rendition="#g">Müßiggang</hi> und die Gleichgültig-<lb/> keit zum beneideten Looſe des Götterſtandes: ein blos menſchlicherer Name für<lb/> das freieſte, erhabenſte Sein. Sowohl der materielle Zwang der Naturgeſetze, als<lb/> der geiſtige Zwang der Sittengeſetze verlor ſich in ihrem höheren Begriffe von<lb/> Nothwendigkeit, der beide Welten zugleich umfaßte, und aus der Einheit<lb/> jener beiden Nothwendigkeiten ging ihnen erſt die wahre Freiheit hervor.<lb/> Beſeelt von dieſem Geiſte löſchten ſie aus den Geſichtszügen ihres Ideals<lb/> zugleich mit der <hi rendition="#g">Neigung</hi> auch alle Spuren des <hi rendition="#g">Willens</hi> aus, oder<lb/> beſſer, ſie machten beide unkenntlich, weil ſie beide in dem innigſten Bunde<lb/> zu verknüpfen wußten. Es iſt weder Anmuth, noch iſt es Würde, was<lb/> aus dem herrlichen Antlitz einer Juno Ludoviſi zu uns ſpricht; es iſt kei-<lb/> nes von beiden, weil es beides zugleich iſt. Indem der weibliche Gott<lb/> unſere Anbetung heiſcht, entzündet das gottgleiche Weib unſere Liebe, aber<lb/> indem wir uns der himmliſchen Holdſeligkeit aufgelöst hingeben, ſchreckt<lb/> die himmliſche Selbſtgenügſamkeit uns zurück. In ſich ſelbſt ruhet und<lb/> wohnt die ganze Geſtalt, eine geſchloſſene Schöpfung, und als wenn ſie<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [441/0115]
liche Naturbedeutung des wechſelnden Erdlebens hindurch; dieſe hat das
Herbe, Kalte der ſpröden Jungfräulichkeit, dem eine atmoſphäriſche Be-
ziehung zu Grunde liegt, und dieß löst ſich durch eine zarte, tiefe, un-
nachahmliche Uebertragung in den Geiſt eines ruhig ernſten Sinnens, in
die bildlich verſtandene klare Kühle des Denkens und der Wiſſenſchaft
auf. So nun auch der plaſtiſch erfaßte realer beſtimmte Charakter: er
zeigt eine ſchärfer eigenthümliche Miſchung der Kräfte und Formen,
aber die Miſchung bleibt auch hier flüſſig, nichts iſt in ſie aufgenommen,
was in die Sonderbarkeit des unauflösbar Eigenen hineinführte. Der
Krieger z. B., insbeſondere in der Porträtdarſtellung, erſcheine mehr wild
oder mehr fein, ſinnend auf Schlachtpläne oder losſchlagend, zeige mehr
Härte oder auch Weichheit, die verſchiedenſten Miſchungen ſind möglich,
aber keine erlaubt etwas Närriſches, Grillenhaftes, barbariſch Seltſames.
So verhält es ſich, wenn man die ſpezielle Einheit des Charakters nach
der Seite der in ihr gebundenen Vielheit betrachtet; aber eben ſo weſent-
lich iſt die Beziehung der ſpeziellen Einheit auf die höchſte Einheit. Mit-
ten in der Einſeitigkeit muß das Individuum jenen Charakter der Allge-
meinheit haben, worin die Gegenſätze, welche die Welt zerreißen, Denken
und Wollen, Wollen und Sollen, Geiſt und Natur getilgt ſind. Natür-
lich nach Maaßgabe der verſchiedenen Kreiſe der Darſtellung. Das aus-
drücklich, im engern Sinn ideale Weſen, der Gott, athmet, ohne ſeine
Beſonderheit zu opfern, im reinen, wolkenloſen Aether des Unendlichen:
„ſowohl den Ernſt und die Arbeit, als die nichtige Luſt, die das leere
Angeſicht glättet, ließen die Griechen aus der Stirne der ſeligen Götter ver-
ſchwinden, gaben die Ewigzufriedenen von den Feſſeln jedes Zweckes, jeder
Pflicht, jeder Sorge frei und machten den Müßiggang und die Gleichgültig-
keit zum beneideten Looſe des Götterſtandes: ein blos menſchlicherer Name für
das freieſte, erhabenſte Sein. Sowohl der materielle Zwang der Naturgeſetze, als
der geiſtige Zwang der Sittengeſetze verlor ſich in ihrem höheren Begriffe von
Nothwendigkeit, der beide Welten zugleich umfaßte, und aus der Einheit
jener beiden Nothwendigkeiten ging ihnen erſt die wahre Freiheit hervor.
Beſeelt von dieſem Geiſte löſchten ſie aus den Geſichtszügen ihres Ideals
zugleich mit der Neigung auch alle Spuren des Willens aus, oder
beſſer, ſie machten beide unkenntlich, weil ſie beide in dem innigſten Bunde
zu verknüpfen wußten. Es iſt weder Anmuth, noch iſt es Würde, was
aus dem herrlichen Antlitz einer Juno Ludoviſi zu uns ſpricht; es iſt kei-
nes von beiden, weil es beides zugleich iſt. Indem der weibliche Gott
unſere Anbetung heiſcht, entzündet das gottgleiche Weib unſere Liebe, aber
indem wir uns der himmliſchen Holdſeligkeit aufgelöst hingeben, ſchreckt
die himmliſche Selbſtgenügſamkeit uns zurück. In ſich ſelbſt ruhet und
wohnt die ganze Geſtalt, eine geſchloſſene Schöpfung, und als wenn ſie
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