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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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bilden, welchen der Oberschenkel des ersteren das Gegengewicht gibt.
Eine ähnliche große Hauptlinie geht von rechts unten nach links oben
durch die Figur des Laokoon. Dieß sind nun die unter dem Namen
Contrapost bekannten Contraste der entgegengesetzten Gliederlagen. Die
Contraste gehen aber tief ins Einzelne als Antagonismus der Muskeln, des
Passiven und Activen, des halb und ganz Aetiven. Aber auch dieser durch
das Einzelne fortgeführte Contrast enthält schon an sich auch seine Lösung,
denn der sogenannte Antagonismus ist ja lebendige gegenseitige Unter-
stützung, Wechselwirkung, und die künstlerische Abrundung aller Bewegun-
gen hebt überdieß den Augenschein des Widerstreits auf in jenen Einen
Lebensstrom, der durch das Ganze ergossen im Haupte, das, selbst geneigt,
gewendet, zur Auflösung der todten Symmetrie wesentlich mitwirkt und, ob-
wohl ohne Anspruch tyrannischer Beherrschung, die Bewegung des Gan-
zen im Seelenspiegel des Ausdrucks zur höchsten Einheit concentrirt. Wir
haben nur das Wesentlichste hier angedeutet; die Modificationen sind un-
endlich wie die Erfindung; es können sich auch die gegenüberstehenden
Organ-Paare oder die Organe derselben Seite ähnlich bewegen, dann
tritt im Gleichen ein milderer Contrast des Ungleichen ein, der irgendwie
zugleich jene Kreuz-Linie herstellt. Die Organe sind ja selbst getheilt in
ihre drei größeren, in die untergeordneten und feinsten Gelenke, der lei-
seste Unterschied der Bewegung auf der einen Seite gegenüber der ande-
ren oder unten gegen oben zieht die ganze benachbarte Muskelgruppe
mit sich und so verliert sich der Faden des Bestimmbaren in dem reichen
Gewoge der Formen.

§. 627.

Löst nun die Bildnerkunst diese Einheit in eine Mehrheit von Fi-
guren
auf, so ergibt sich zunächst im Relief die Längerichtung des
streifenförmig Angeordneten. Die Composition ist hier vorerst eine lockere,
welche ihre Figuren ohne weitere Verbindung, als die Beziehungen der Sym-
metrie des gegenüberstehenden Aehnlichen, aneinanderreiht; sodann eine leben-
diger vereinende, worin nicht nur einzelne Gestalten, sondern ganze Gruppen
untergeordnete Einheiten bilden und alle jene Momente §. 495--501 in
reicherer Mannigfaltigkeit sich geltend machen; endlich eine enger verflechtende,
geschlossene, handelnde Gruppen bildende, die sich auf quadratische Felder zu-
sammenzieht.

Mehrheit von Figuren ist eigentlich Auflösung der göttlichen Einheit
in die Vielheit; mehr darüber im Abschnitt von den Zweigen. Warum
wir von der Längen-Composition der an die Architektur im engsten
Sinn angeschlossenen Sculptur, dem Relief, beginnen, wird der Fortgang

bilden, welchen der Oberſchenkel des erſteren das Gegengewicht gibt.
Eine ähnliche große Hauptlinie geht von rechts unten nach links oben
durch die Figur des Laokoon. Dieß ſind nun die unter dem Namen
Contrapoſt bekannten Contraſte der entgegengeſetzten Gliederlagen. Die
Contraſte gehen aber tief ins Einzelne als Antagoniſmus der Muskeln, des
Paſſiven und Activen, des halb und ganz Aetiven. Aber auch dieſer durch
das Einzelne fortgeführte Contraſt enthält ſchon an ſich auch ſeine Löſung,
denn der ſogenannte Antagoniſmus iſt ja lebendige gegenſeitige Unter-
ſtützung, Wechſelwirkung, und die künſtleriſche Abrundung aller Bewegun-
gen hebt überdieß den Augenſchein des Widerſtreits auf in jenen Einen
Lebensſtrom, der durch das Ganze ergoſſen im Haupte, das, ſelbſt geneigt,
gewendet, zur Auflöſung der todten Symmetrie weſentlich mitwirkt und, ob-
wohl ohne Anſpruch tyranniſcher Beherrſchung, die Bewegung des Gan-
zen im Seelenſpiegel des Ausdrucks zur höchſten Einheit concentrirt. Wir
haben nur das Weſentlichſte hier angedeutet; die Modificationen ſind un-
endlich wie die Erfindung; es können ſich auch die gegenüberſtehenden
Organ-Paare oder die Organe derſelben Seite ähnlich bewegen, dann
tritt im Gleichen ein milderer Contraſt des Ungleichen ein, der irgendwie
zugleich jene Kreuz-Linie herſtellt. Die Organe ſind ja ſelbſt getheilt in
ihre drei größeren, in die untergeordneten und feinſten Gelenke, der lei-
ſeſte Unterſchied der Bewegung auf der einen Seite gegenüber der ande-
ren oder unten gegen oben zieht die ganze benachbarte Muſkelgruppe
mit ſich und ſo verliert ſich der Faden des Beſtimmbaren in dem reichen
Gewoge der Formen.

§. 627.

Löſt nun die Bildnerkunſt dieſe Einheit in eine Mehrheit von Fi-
guren
auf, ſo ergibt ſich zunächſt im Relief die Längerichtung des
ſtreifenförmig Angeordneten. Die Compoſition iſt hier vorerſt eine lockere,
welche ihre Figuren ohne weitere Verbindung, als die Beziehungen der Sym-
metrie des gegenüberſtehenden Aehnlichen, aneinanderreiht; ſodann eine leben-
diger vereinende, worin nicht nur einzelne Geſtalten, ſondern ganze Gruppen
untergeordnete Einheiten bilden und alle jene Momente §. 495—501 in
reicherer Mannigfaltigkeit ſich geltend machen; endlich eine enger verflechtende,
geſchloſſene, handelnde Gruppen bildende, die ſich auf quadratiſche Felder zu-
ſammenzieht.

Mehrheit von Figuren iſt eigentlich Auflöſung der göttlichen Einheit
in die Vielheit; mehr darüber im Abſchnitt von den Zweigen. Warum
wir von der Längen-Compoſition der an die Architektur im engſten
Sinn angeſchloſſenen Sculptur, dem Relief, beginnen, wird der Fortgang

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[447/0121] bilden, welchen der Oberſchenkel des erſteren das Gegengewicht gibt. Eine ähnliche große Hauptlinie geht von rechts unten nach links oben durch die Figur des Laokoon. Dieß ſind nun die unter dem Namen Contrapoſt bekannten Contraſte der entgegengeſetzten Gliederlagen. Die Contraſte gehen aber tief ins Einzelne als Antagoniſmus der Muskeln, des Paſſiven und Activen, des halb und ganz Aetiven. Aber auch dieſer durch das Einzelne fortgeführte Contraſt enthält ſchon an ſich auch ſeine Löſung, denn der ſogenannte Antagoniſmus iſt ja lebendige gegenſeitige Unter- ſtützung, Wechſelwirkung, und die künſtleriſche Abrundung aller Bewegun- gen hebt überdieß den Augenſchein des Widerſtreits auf in jenen Einen Lebensſtrom, der durch das Ganze ergoſſen im Haupte, das, ſelbſt geneigt, gewendet, zur Auflöſung der todten Symmetrie weſentlich mitwirkt und, ob- wohl ohne Anſpruch tyranniſcher Beherrſchung, die Bewegung des Gan- zen im Seelenſpiegel des Ausdrucks zur höchſten Einheit concentrirt. Wir haben nur das Weſentlichſte hier angedeutet; die Modificationen ſind un- endlich wie die Erfindung; es können ſich auch die gegenüberſtehenden Organ-Paare oder die Organe derſelben Seite ähnlich bewegen, dann tritt im Gleichen ein milderer Contraſt des Ungleichen ein, der irgendwie zugleich jene Kreuz-Linie herſtellt. Die Organe ſind ja ſelbſt getheilt in ihre drei größeren, in die untergeordneten und feinſten Gelenke, der lei- ſeſte Unterſchied der Bewegung auf der einen Seite gegenüber der ande- ren oder unten gegen oben zieht die ganze benachbarte Muſkelgruppe mit ſich und ſo verliert ſich der Faden des Beſtimmbaren in dem reichen Gewoge der Formen. §. 627. Löſt nun die Bildnerkunſt dieſe Einheit in eine Mehrheit von Fi- guren auf, ſo ergibt ſich zunächſt im Relief die Längerichtung des ſtreifenförmig Angeordneten. Die Compoſition iſt hier vorerſt eine lockere, welche ihre Figuren ohne weitere Verbindung, als die Beziehungen der Sym- metrie des gegenüberſtehenden Aehnlichen, aneinanderreiht; ſodann eine leben- diger vereinende, worin nicht nur einzelne Geſtalten, ſondern ganze Gruppen untergeordnete Einheiten bilden und alle jene Momente §. 495—501 in reicherer Mannigfaltigkeit ſich geltend machen; endlich eine enger verflechtende, geſchloſſene, handelnde Gruppen bildende, die ſich auf quadratiſche Felder zu- ſammenzieht. Mehrheit von Figuren iſt eigentlich Auflöſung der göttlichen Einheit in die Vielheit; mehr darüber im Abſchnitt von den Zweigen. Warum wir von der Längen-Compoſition der an die Architektur im engſten Sinn angeſchloſſenen Sculptur, dem Relief, beginnen, wird der Fortgang

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/121>, abgerufen am 31.10.2024.