Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.V. Prüfung der vorgeschichtlich-anthropologischen Gegeninstanzen. großen Eiszeit eingefrorener Mammuth-Cadaver als einstiges Modelldes prähistorischen Künstlers gedacht werden? Wie man auch diesen Schwierigkeiten abzuhelfen suche, auf jeden Fall ist nichts unmöglicher als die Annahme eines ganz niedrigen und primitiven Culturgrads der in solcher Weise kunstbegabten Urmenschen. Direct aus dem Schooße von Affenmenschen gekommen könnten diese urzeitlichen Naturkinder nimmermehr so bedeutende Kunstleistungen producirt haben! Es fragt sich aber gerade, ob man Beide, die Renthiere sammt den Renthiermenschen, überhaupt so ungeheuer weit in die nebelgraue Urzeit hinein zurückzuschieben hat, wie dieß die Phantasie französischer Paläontologen unabänderlich zu thun pflegt, ob nicht auch hier eine maaßvollere Berechnungsweise, ähnlich jener von Fraas und Ecker, Platz greifen darf. Zu Gunsten einer solchen spricht doch sehr der Umstand, daß noch jetzt manche Naturvölker als im Besitze einer ähnlichen Kunstfertigkeit wie die der französisch- belgisch-süddeutschen Renthiermenschen befindlich erscheinen. So die Bewohner der Aleuten-Jnseln, eine Art von modernen Renthier- menschen des hohen Nordens, deren zierlich geschnitzte Walroßzahn- bilder von Robben, Fischen, Walfischen, Bären etc., lebhaft an die französisch-belgischen Renthierknochen-Schnitzereien erinnern; aber auch die Buschmänner Südafrika's, deren Kunstleistungen (Abbildungen z. B. von Elephanten, Nashörnern, Antilopen, Kühen etc.) nach dem Zeugnisse von Fritsch und andren Afrikareisenden sich auf an- nähernd ähnlicher Stufe halten.1) Diese beiden neueren Parallelen zu unsren westeuropäischen Renthier-Künstlern gehören aller Wahr- scheinlichkeit nach zur Classe der notorisch degradirten, von einst höherer Culturstufe herabgesunkenen Stämme, scheinen Auswürflinge eines relativ höher stehenden Völkerlebens zu sein. Könnte es mit jenen |kunstfertigen Stämmen der europäischen Vorzeit sich nicht ähnlich verhalten haben? -- Auf jeden Fall paßt der Renthier- 1) Ratzel, Vorgeschichte etc., S. 72; Gust. Fritsch, Die Eingebornen
Südafrika's, Bresl. 1872, S. 426 (nebst dazugehöriger Tafel, 50 Abbildungen von Thierbildern der obigen Art enthaltend). V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen. großen Eiszeit eingefrorener Mammuth-Cadaver als einſtiges Modelldes prähiſtoriſchen Künſtlers gedacht werden? Wie man auch dieſen Schwierigkeiten abzuhelfen ſuche, auf jeden Fall iſt nichts unmöglicher als die Annahme eines ganz niedrigen und primitiven Culturgrads der in ſolcher Weiſe kunſtbegabten Urmenſchen. Direct aus dem Schooße von Affenmenſchen gekommen könnten dieſe urzeitlichen Naturkinder nimmermehr ſo bedeutende Kunſtleiſtungen producirt haben! Es fragt ſich aber gerade, ob man Beide, die Renthiere ſammt den Renthiermenſchen, überhaupt ſo ungeheuer weit in die nebelgraue Urzeit hinein zurückzuſchieben hat, wie dieß die Phantaſie franzöſiſcher Paläontologen unabänderlich zu thun pflegt, ob nicht auch hier eine maaßvollere Berechnungsweiſe, ähnlich jener von Fraas und Ecker, Platz greifen darf. Zu Gunſten einer ſolchen ſpricht doch ſehr der Umſtand, daß noch jetzt manche Naturvölker als im Beſitze einer ähnlichen Kunſtfertigkeit wie die der franzöſiſch- belgiſch-ſüddeutſchen Renthiermenſchen befindlich erſcheinen. So die Bewohner der Aleuten-Jnſeln, eine Art von modernen Renthier- menſchen des hohen Nordens, deren zierlich geſchnitzte Walroßzahn- bilder von Robben, Fiſchen, Walfiſchen, Bären ꝛc., lebhaft an die franzöſiſch-belgiſchen Renthierknochen-Schnitzereien erinnern; aber auch die Buſchmänner Südafrika’s, deren Kunſtleiſtungen (Abbildungen z. B. von Elephanten, Nashörnern, Antilopen, Kühen ꝛc.) nach dem Zeugniſſe von Fritſch und andren Afrikareiſenden ſich auf an- nähernd ähnlicher Stufe halten.1) Dieſe beiden neueren Parallelen zu unſren weſteuropäiſchen Renthier-Künſtlern gehören aller Wahr- ſcheinlichkeit nach zur Claſſe der notoriſch degradirten, von einſt höherer Culturſtufe herabgeſunkenen Stämme, ſcheinen Auswürflinge eines relativ höher ſtehenden Völkerlebens zu ſein. Könnte es mit jenen |kunſtfertigen Stämmen der europäiſchen Vorzeit ſich nicht ähnlich verhalten haben? — Auf jeden Fall paßt der Renthier- 1) Ratzel, Vorgeſchichte ꝛc., S. 72; Guſt. Fritſch, Die Eingebornen
Südafrika’s, Bresl. 1872, S. 426 (nebſt dazugehöriger Tafel, 50 Abbildungen von Thierbildern der obigen Art enthaltend). <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0175" n="165"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.</fw><lb/> großen Eiszeit eingefrorener Mammuth-Cadaver als einſtiges Modell<lb/> des prähiſtoriſchen Künſtlers gedacht werden? Wie man auch dieſen<lb/> Schwierigkeiten abzuhelfen ſuche, auf jeden Fall iſt nichts unmöglicher<lb/> als die Annahme eines ganz niedrigen und primitiven Culturgrads<lb/> der in ſolcher Weiſe kunſtbegabten Urmenſchen. Direct aus dem<lb/> Schooße von Affenmenſchen gekommen könnten dieſe urzeitlichen<lb/> Naturkinder nimmermehr ſo bedeutende Kunſtleiſtungen producirt<lb/> haben! Es fragt ſich aber gerade, ob man Beide, die Renthiere<lb/> ſammt den Renthiermenſchen, überhaupt ſo ungeheuer weit in die<lb/> nebelgraue Urzeit hinein zurückzuſchieben hat, wie dieß die Phantaſie<lb/> franzöſiſcher Paläontologen unabänderlich zu thun pflegt, ob nicht<lb/> auch hier eine maaßvollere Berechnungsweiſe, ähnlich jener von<lb/> Fraas und Ecker, Platz greifen darf. Zu Gunſten einer ſolchen<lb/> ſpricht doch ſehr der Umſtand, daß noch jetzt manche Naturvölker<lb/> als im Beſitze einer ähnlichen Kunſtfertigkeit wie die der franzöſiſch-<lb/> belgiſch-ſüddeutſchen Renthiermenſchen befindlich erſcheinen. So die<lb/> Bewohner der Aleuten-Jnſeln, eine Art von modernen Renthier-<lb/> menſchen des hohen Nordens, deren zierlich geſchnitzte Walroßzahn-<lb/> bilder von Robben, Fiſchen, Walfiſchen, Bären ꝛc., lebhaft an die<lb/> franzöſiſch-belgiſchen Renthierknochen-Schnitzereien erinnern; aber auch<lb/> die Buſchmänner Südafrika’s, deren Kunſtleiſtungen (Abbildungen<lb/> z. B. von Elephanten, Nashörnern, Antilopen, Kühen ꝛc.) nach<lb/> dem Zeugniſſe von Fritſch und andren Afrikareiſenden ſich auf an-<lb/> nähernd ähnlicher Stufe halten.<note place="foot" n="1)"><hi rendition="#g">Ratzel,</hi> Vorgeſchichte ꝛc., S. 72; <hi rendition="#g">Guſt. Fritſch,</hi> Die Eingebornen<lb/> Südafrika’s, Bresl. 1872, S. 426 (nebſt dazugehöriger Tafel, 50 Abbildungen<lb/> von Thierbildern der obigen Art enthaltend).</note> Dieſe beiden neueren Parallelen<lb/> zu unſren weſteuropäiſchen Renthier-Künſtlern gehören aller Wahr-<lb/> ſcheinlichkeit nach zur Claſſe der notoriſch degradirten, von einſt<lb/> höherer Culturſtufe herabgeſunkenen Stämme, ſcheinen Auswürflinge<lb/> eines relativ höher ſtehenden Völkerlebens zu ſein. Könnte es mit<lb/> jenen |kunſtfertigen Stämmen der europäiſchen Vorzeit ſich nicht<lb/> ähnlich verhalten haben? — Auf jeden Fall paßt der Renthier-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [165/0175]
V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.
großen Eiszeit eingefrorener Mammuth-Cadaver als einſtiges Modell
des prähiſtoriſchen Künſtlers gedacht werden? Wie man auch dieſen
Schwierigkeiten abzuhelfen ſuche, auf jeden Fall iſt nichts unmöglicher
als die Annahme eines ganz niedrigen und primitiven Culturgrads
der in ſolcher Weiſe kunſtbegabten Urmenſchen. Direct aus dem
Schooße von Affenmenſchen gekommen könnten dieſe urzeitlichen
Naturkinder nimmermehr ſo bedeutende Kunſtleiſtungen producirt
haben! Es fragt ſich aber gerade, ob man Beide, die Renthiere
ſammt den Renthiermenſchen, überhaupt ſo ungeheuer weit in die
nebelgraue Urzeit hinein zurückzuſchieben hat, wie dieß die Phantaſie
franzöſiſcher Paläontologen unabänderlich zu thun pflegt, ob nicht
auch hier eine maaßvollere Berechnungsweiſe, ähnlich jener von
Fraas und Ecker, Platz greifen darf. Zu Gunſten einer ſolchen
ſpricht doch ſehr der Umſtand, daß noch jetzt manche Naturvölker
als im Beſitze einer ähnlichen Kunſtfertigkeit wie die der franzöſiſch-
belgiſch-ſüddeutſchen Renthiermenſchen befindlich erſcheinen. So die
Bewohner der Aleuten-Jnſeln, eine Art von modernen Renthier-
menſchen des hohen Nordens, deren zierlich geſchnitzte Walroßzahn-
bilder von Robben, Fiſchen, Walfiſchen, Bären ꝛc., lebhaft an die
franzöſiſch-belgiſchen Renthierknochen-Schnitzereien erinnern; aber auch
die Buſchmänner Südafrika’s, deren Kunſtleiſtungen (Abbildungen
z. B. von Elephanten, Nashörnern, Antilopen, Kühen ꝛc.) nach
dem Zeugniſſe von Fritſch und andren Afrikareiſenden ſich auf an-
nähernd ähnlicher Stufe halten. 1) Dieſe beiden neueren Parallelen
zu unſren weſteuropäiſchen Renthier-Künſtlern gehören aller Wahr-
ſcheinlichkeit nach zur Claſſe der notoriſch degradirten, von einſt
höherer Culturſtufe herabgeſunkenen Stämme, ſcheinen Auswürflinge
eines relativ höher ſtehenden Völkerlebens zu ſein. Könnte es mit
jenen |kunſtfertigen Stämmen der europäiſchen Vorzeit ſich nicht
ähnlich verhalten haben? — Auf jeden Fall paßt der Renthier-
1) Ratzel, Vorgeſchichte ꝛc., S. 72; Guſt. Fritſch, Die Eingebornen
Südafrika’s, Bresl. 1872, S. 426 (nebſt dazugehöriger Tafel, 50 Abbildungen
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